Offene Räume
zeitzeichen: Frau Dr. Rebenstorf: Hauptanliegen der von Ihnen durchgeführten Studie „Überraschend offen“ ist, die zivilgesellschaftlichen Aufgaben und Funktionen von Kirchengemeinden im Sozialraum aufzudecken. Welche Funktionen nehmen Kirchengemeinden wahr?
HILKE REBENSTORF: Wir haben fünf Funktionen identifiziert, die in Abhängigkeit von den konkreten Sozialräumen auftreten. Die Kompensationsfunktion, wenn es zum Beispiel auf dem Dorf keine Kneipe mehr gibt, in der man sich nach einer Beerdigung zum Trauercafé treffen kann oder Vereine zusammenkommen. Da öffnen Kirchengemeinden ihre Räume. Die Integrationsfunktion ist altbekannt, Gemeinden bringen unterschiedliche Menschen zusammen. Eine Herausforderung ist die Moderationsfunktion. Da, wo es Konflikte gibt, zum Beispiel um eine Flüchtlingsunterkunft, den Moscheebau oder in der Stadtplanung. Bei der Intervention greift die Gemeinde tatsächlich in Debatten im Stadtteil ein. Und die Sozialisationsfunktion nehmen alle zivilgesellschaftlichen Gruppen wahr. Durch ihr Engagement lernen die Leute, sich und Projekte zu organisieren, miteinander zu verhandeln und Kompromisse zu schließen.
Wie werden die Kirchengemeinden von den anderen Akteuren wahrgenommen?
HILKE REBENSTORF: Gemeinden, die offen sind und sich einbringen, werden je nach Umgebung in der Fremdwahrnehmung unterschiedlich gesehen. Es kommt vor, dass das Religiöse komplett übersehen wird. Es gibt aber auch Fälle, in denen das Engagement als Ausdruck religiöser Authentizität verstanden wird.
Das ist sicher ein Unterschied zu anderen zivilgesellschaftlichen Gruppen. Gibt es weitere?
HILKE REBENSTORF: Zum einen ihr spezifisches Menschenbild und der eigene Wertekanon. „Gesinnungsorganisationen“ wie Parteien oder Gewerkschaften haben ebenfalls ein Anliegen, das wertegebunden ist. Die Kirchen sind da spezieller Art, weil sie viele Mitglieder und Ressourcen haben, die aktiviert werden können, und weil sie überall präsent sind.
Die parochiale Struktur der evangelischen Kirchen in Deutschland steht zunehmend in der Kritik. Vor dem Hintergrund Ihrer Studie liest sie sich wie ein Vorteil.
HILKE REBENSTORF: Auf jeden Fall. Bereits in der Studie „Freiraum und Innovationsdruck“ zeigte sich das deutlich. Wenn nach allen anderen öffentlichen Einrichtungen auch noch die Kirche geht, empfinden das die Menschen als Verrat, auch wenn sie nicht gläubig sind. Sicherlich kann es nicht überall das Vollangebot geben. Gerade in den Städten braucht es Modelle der Zusammenarbeit. Aber mit der Offenheit, den Räumlichkeiten, mit den Initiativen und Kooperationen im Sozialraum, der flächendeckenden Präsenz hat die evangelische Kirche ein Alleinstellungsmerkmal. Das aufs Spiel zu setzen, wäre nach unseren Erkenntnissen gefährlich.
Welche Rolle spielt das Umfeld beim zivilgesellschaftlichen Engagement der Kirchengemeinden?
HILKE REBENSTORF: Das Umfeld sollte man nicht unterschätzen. Das Parochialprinzip bringt es mit sich, dass Kirchenmitglieder und Ehrenamtliche in einem bestimmten Quartier mit eigenem Profil wohnen. Kirchengemeinden sind Spiegel, die diese Sozialräume abbilden. Deshalb kann man nicht erwarten, dass man in einer Gegend, in der es kaum Aktivitäten gibt, auf eine aktive Kirchengemeinde trifft. Diese Gemeinden darf man nicht überfordern, indem man etwas von ihnen verlangt, was schlechterdings nicht möglich ist. Wenn man jedoch in einer Gegend lebt, in der die Menschen es gewohnt sind, sich einzumischen, werden diese das auch in der Gemeinde und aus der Gemeinde heraus tun.
Was sind die Voraussetzungen, unter denen sich evangelische Kirchengemeinden der Zivilgesellschaft öffnen?
HILKE REBENSTORF: Wir unterscheiden zwischen internen und externen Bedingungen, letztere spiegeln sich im oben erwähntem Umfeld. Intern ist zum einen die Selbstwahrnehmung der Gemeinde, also ihr Profil, von Bedeutung. Sieht diese sich überhaupt als eine Organisation oder Akteurin an, die mit der Außenwelt Kontakt haben sollte? Dahinter steht die Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Gesellschaft. Versteht sie sich als ein Teil der Gesellschaft oder als ein Gegenüber? Ferner ist die Organisationslogik eine Grundvoraussetzung. In einer Bottom-up-Struktur trauen sich Leute eher, initiativ zu werden und nach draußen zu gehen, als in der Top-down-Struktur. Es hängt davon ab, wie lebendig eine Gemeinde ist, ob man sich regelmäßig begegnet, miteinander spricht. Wichtig ist, dass nicht alles an die Pfarrperson delegiert oder die Gemeinde von einem starken Vorsitzenden im Presbyterium dominiert wird. Die Gruppen sollten eigenverantwortlich arbeiten, sich aber rückkoppeln. Eine weitere Voraussetzung sind die Ressourcen der Kirchengemeinden. Räume als Treffpunkt, ein Sekretariat, technische Ausstattung, aktive Menschen. Wer nichts davon hat, ist in seiner Relevanz beschränkt.
Wagen Sie noch einen Ausblick auf die Konsequenzen, die eine zivilgesellschaftliche Öffnung von Kirchengemeinden haben kann?
Was hat Sie bei der Arbeit an Ihrer Studie am meisten überrascht?
HILKE REBENSTORF: Überrascht hat mich wirklich die Offenheit. Viele Menschen scheuen sich ja zu sagen, sie seien Christ oder gar gläubig, weil sie fürchten, in Erklärungszwang zu geraten. Die Offenheit und Unvoreingenommenheit der zivilgesellschaftlichen Akteure haben mich in den Interviews überrascht. Ebenso, wie offen Kirchengemeinden dafür waren, ihre Räume zu öffnen, auch für Diskussionsveranstaltungen. Diese Bereitschaft, aufeinander zuzugehen, fand ich außerordentlich beeindruckend.
Das Gespräch führte Kathrin Jütte am 6. Oktober 2020.
Hilke Rebenstorf
Dr. Hilke Rebenstorf ist wissenschaftliche Referentin am Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD in Hannover. Die Schwerpunkte der habilitierten Soziologin sind Kirchen- und Religionssoziologie.
Kathrin Jütte
Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.