Fast zeitgleich mit dem Ökumenischen Rat der Kirchen wurde 1948 der Bund für Freies Christentum gegründet. Der Bund sollte eine Sammlung sein all derer, die „in Freiheit fromm sein wollen“ und denen wichtig war, dass „nicht irgendwelche Bekenntnisautorität Kirche baut, sondern allein lebendiger und gegenwärtiger Glaube“, so der Bericht vom Gründungskongress. Die liberale Theologie war nach den Erfahrungen des NS-Regimes in der Defensive, der Bund hatte sich daher zum Ziel gesetzt, ihre Chancen in der restaurativen Nachkriegsatmosphäre neu zu artikulieren. Der württembergische Theologe Andreas Rössler wurde einer der produktivsten Denker des Bundes und publiziert seit über fünfzig Jahren in der Zeitschrift Freies Christentum zu wesentlichen theologischen Fragen. Eine große Auswahl seiner Texte ist nun anlässlich seines 80. Geburtstags im vorliegenden Band zusammengestellt als Denkwege eines freien Christentums.
Andreas Rössler wird im Vorwort als „Meister der kleinen Form“ vorgestellt – und tatsächlich liest man sich gleich fest in den über sechzig kurzen Essays aus dem Freien Christentum, die einen guten Teil des Buches ausmachen. Konzentriert und klug beleuchtet Rössler wesentliche und oft aktuelle Fragen des Glaubens und der Theologie.
Er denkt über Zweifel und religiöse Gleichgültigkeit nach, über Wahrheit in Zeiten von Fake News, über eine moderne Deutung des Credos und – natürlich – immer wieder über Freiheit und Glauben. Stark sind seine Texte, wenn es um existentielle Fragen geht, wie etwa: Was ist heute elementar für den christlichen Glauben – jenseits dogmatischer Formeln? Die fünf Säulen des Islam fassen den Glauben der Muslime elementar zusammen, so Rössler. Geht das auch für den christlichen Glauben? Er versucht es mit fünf „Basissätzen“ zu Gott, Christus, Geist, Menschenliebe und Reich Gottes und lädt damit zu eigener Auseinandersetzung ein. Gleich mehrmals beschäftigt er sich mit der Theodizee-Frage, ausgehend von der Tsunami-Katastrophe 2004 oder den unerträglichen täglich-tausenden Hungertoden in der Welt. Er bezieht sich dabei – wie oft im Buch – auf Albert Schweitzer und kommt zu einer inspirierenden Formulierung zur Frage nach Gottes Wirkmacht: Gott lässt sein. In diesen drei Worten ist im Grunde auch die ganze Theologie Rösslers zusammengefasst.
Aufgenommen in dem Band Denkwege eines freien Christentums sind auch einige Predigten Rösslers und mehrere Texte zu Kirchen- und Theologiegeschichte, zu Albert Schweitzer und Paul Tillich und zu unbekannteren Denkern wie Eduard von Hartmann oder Christoph Schrempf.
Immer wieder wird im Buch die Frage aufgeworfen, was denn „freies Christentum“ oder „freie Theologie“ eigentlich seien. Als Leser meint man, die „Diskussionslage“ zu spüren, der sich der Bund für Freies Christentum von Anfang an stellen musste. Der Bund hat sich immer wieder selbst mit der Frage beschäftigt, warum die Resonanz in all den Jahrzehnten so hinter den Hoffnungen zurückblieb. Wie „dogmenfreies Christentum“ konkret werden kann, bleibt eine offene Diskussion.
In Kapitel 13 des Buches wird dies ausführlich erörtert. Schweitzer hielt das Christentum für „frei“, wenn es sich nur auf wahrhaftige, historisch genaue Worte Jesu bezieht. Paul Tillich dachte freies Christentum in einer anderen Richtung, als symbolische Deutung aller religiösen Aussagen. Nach dem Krieg musste man sich gegen die scheinbar übermächtige Schule Karl Barths abgrenzen, heute dagegen stößt die „kämpferische Haltung“ gegenüber etablierter Kirchlichkeit vielfach ins Leere, weil Dogmen und Bekenntnisse in den Landeskirchen kaum noch normative Bedeutung haben. Manchmal lassen die Texte Rössler aber auch ahnen, warum die Theologie des freien Christentums ein Vermittlungsproblem hat.
Anspruch des freien Christentums ist es, „die Bibel und die christliche Tradition dadurch ernst (zu nehmen), dass es sie im Licht der Glaubenserfahrung versteht“. Genau davon – von Erfahrungen des Glaubens – ist aber zu wenig die Rede.
Welches Potenzial diese Theologie hat, ahnt man daher auch genau in den Texten des Buches, die sich mit Erfahrung und speziell mit Mystik beschäftigen. Hier schlägt Rössler eine Brücke von reflektiertem zu gelebtem Glauben. Um das eigene Ich kommt niemand herum, stellt Rössler fest und beschreibt einen inneren Weg zur „Gott-Gelassenheit“.
Mit dieser von Meister Eckhart inspirierten Vorstellung beschreibt Andreas Rössler einen Glaubensweg weg von jeder Ich-Bezogenheit hin zur Erfahrung der befreienden „Gottesgeburt in der Seele“. Es wird hier besonders spürbar, was Freiheit bedeutet – gedanklich, ethisch, spirituell.
Thomas Prieto Peral
Thomas Prieto Peral ist Kirchenrat und Referent für theologische Planungsfragen im Bischofsbüro der Evang.-Luth. Kirche in Bayern.