Hinter der Holztür

Ein Besuch in der jüdischen Gemeinde in Halle/Saale
Das Einschussloch ist noch zu sehen in der Tür, die die Menschen in der Synagoge vor dem Attentäter Stephan B. schützte.
Foto: Quirin Staufer

Mit der Wende kamen rund 200 000 Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Sie haben die Gemeinden belebt – auch die in Halle/Saale. Ein Jahr nach dem Anschlag auf die dortige Synagoge stellt sich die Frage: Muss sich jüdisches Leben zurückziehen?

Es ist still, als Max Privorozki die Synagoge aufschließt. Er nimmt seinen Mantel ab und setzt sich auf den Stuhl neben der Tür, direkt vor den Bildschirm. Darauf: zehn Meter Straße, der Livestream der Überwachungskamera. Am 9. Oktober 2019 hat Privorozki darauf beobachtet, wie der Attentäter Stephan B. erst auf Jana L. schoss, bevor er weiterzog, um einen zweiten Menschen zu töten. Mit Stühlen und Tischen verbarrikadierten sie drinnen die Tür. Jetzt ist die Straße leer. Nur manchmal stoppen Passanten und starren betroffen auf die Einschusslöcher. Andere stellen sich davor und machen Selfies. „Das ist hier jetzt ein bisschen wie am Brandenburger Tor“, scherzt Privorozki. Dann läuft eine Gruppe ins Bild, rote Schals leuchten. Die SPD ist da.

Tora
Foto: Quirin Staufer
 

Die Bänke knarren, als zwanzig Genossinnen und Genossen darauf Platz nehmen. An diesem Tag im März trifft sich der Ortsverband in der Synagoge, um sich mit der Gemeinde auszutauschen. Max Privorozki stellt sich vor der Gruppe auf. Er schaut in Gesichter voller guter Absichten. Doch manche Fragen, die nun an ihn gerichtet werden, klingen eher wie Vorwürfe. Einer will wissen, ob in der Gemeinde mittlerweile Deutsch gesprochen wird. Max Privorozki lächelt höflich und fragt zurück: „Wenn Sie in Frankreich leben würden, gut Französisch sprächen, aber bei Treffen unter sich wären – in welcher Sprache würden Sie sich unterhalten?“ Auf Deutsch, murmeln manche im Hintergrund. „Sehen Sie, so ist es bei uns auch.“ Nur sprechen sie eben nicht Deutsch, sondern Russisch.

Max Privorozki, Vorsitzender der Gemeinde.
Foto: Quirin Staufer

 

Max Privorozki, Jahrgang 1963, kam nach der Wende aus der Ukraine nach Deutschland. Möglich machte das ein Beschluss, der noch aus DDR-Zeiten stammte. Im April 1990 verkündete Sabine Bergmann-Pohl, damals Präsidentin der Volkskammer: „Wir treten dafür ein, verfolgten Juden in der DDR Asyl zu gewähren.“ Neun Monate später übernahm das wiedervereinigte Deutschland die Absicht zum Neustart. Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion sollten als „Kontingentflüchtlinge“ in Deutschland eine Aufenthaltserlaubnis bekommen. So wollte die Regierung nachholen, was bis dahin verpasst worden war: eine Versöhnung mit den Juden aus Osteuropa. Die, die am schlimmsten unter dem Holocaust gelitten hatten, sollten ihren festen Platz im wiedervereinigten Land erhalten. Was ist daraus geworden?

Die jüdische Gemeinde in Halle. Sie zählt 530 Mitglieder, die meisten von ihnen kommen aus der ehemaligen Sowjetunion.
Foto: Quirin Staufer

 

Vier Tage vor dem Treffen mit der SPD: Ein Drache stampft und faucht im Flur der Jüdischen Gemeinde. Er hebt seine Klauen und dreht sich im Kreis, ein paar Männer weichen aus. Gleich daneben hat sich der Teufel aufgebaut. Dann, fast unbemerkt, mischt sich ein persischer Schah unter die Menge. Max Privorozki trägt eine lila-goldene Mütze, dazu seine typische Stoffjacke. Er tritt an den Tisch, auf dem er Micky-Maus-Papiermasken und Glitzer sortiert. Es ist der Sonntag vor Purim – jüdischer Karneval im Gemeindehaus. Die Studentin, die als Micky Maus verkleidet ist, erklärt, worum es beim Purimfest geht: Vor 2 500 Jahren soll ein Minister des persischen Königs versucht haben, alle Juden in Persien töten zu lassen. Doch Königin Esther, eine Jüdin, konnte das verhindern. „Deswegen feiern wir heute, dass sie uns Juden nicht ermordet haben.“

Vor einem Jahr sah Privorozki auf dem Bildschirm der Überwachungskamera, wie Stephan B. erst auf die Tür der Synagoge und dann auf die zufällig vorbeikommende Jana L. schoss.
Foto: Quirin Staufer

 

Einwanderer prägen Gemeinden

Dass im Gemeindehaus von Halle wieder mit vielen Menschen gefeiert wird, liegt auch an ihrem Vorsitzenden. Seit 1999 hat Max Privorozki die Gemeinde wiederbelebt. Ohne die Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion gäbe es in vielen deutschen Städten überhaupt keine jüdischen Gemeinden mehr. Sie und ihre Kinder machen neunzig Prozent aller Mitglieder aus, in Halle sind es sogar mehr. Bevor er nach Halle zieht, lebt Max Privorozki in Kiew. „In meinem ersten Leben war ich Mathematiker.“ Im sowjetischen Pass steht: Nationalität – Jude. Für den jungen Max Privorozki bedeutet das vor allem eines – nicht an jeder Fakultät studieren, nicht überall arbeiten zu dürfen. Das alles ist aber nicht der Grund, warum Privorozki die Sowjetunion verlässt. „Ich war antisowjetisch eingestellt“, sagt er. Nach Deutschland zieht er, weil er einen Ort sucht, an dem man frei seine Meinung sagen kann.

Max Privorozki kam nach der Wende aus der Ukraine nach Deutschland. 1999 übernahm er den Vorsitz der jüdischen Gemeinde in Halle.
Foto: Quirin Staufer

 

Zum Refugium geworden

Erst in seinem zweiten Leben wird Max Privorozki religiös. Der Start in Deutschland ist schwer. Anfangs lebt er in einem Heim in Helbra. Ganz in der Nähe wächst später auch der Attentäter Stephan B. auf. Weil Privorozki damals wenig Deutsch spricht, findet er in seinem Beruf keine Arbeit, versucht sich als Autohändler und Apfelpflücker. Seinen ersten festen Job in Deutschland bekommt er 1999, als Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Halle. Die hat damals nur rund einhundert Mitglieder, aber Hunderttausende Mark Schulden. Unter Privorozki zahlt sie die Schulden zurück, baut die Jugendarbeit aus. Inzwischen organisiert die Gemeinde seit fast zwanzig Jahren Jugendfahrten nach Bulgarien. Alte Fotos zeigen Max Privorozki am Flughafen, stolz in Hemd und Krawatte.

Heute zählt die Gemeinde 530 Mitglieder. Privorozki nennt sie „sein drittes Kind“, neben seinen zwei Töchtern. Für viele Menschen ist die Gemeinde zu einem Refugium geworden.

Blume
Foto: Quirin Staufer

 

Während die Gemeinde weiter Purim feiert, sitzt Max Privorozki an seinem Schreibtisch, die Brille auf die Stirn geschoben. Am Computer listet er für die Polizei die Veranstaltungen der nächsten Wochen auf. Rot für solche mit hohem Risiko, Gelb für mittel, Weiß für niedrig. Nach dem Anschlag hat die Polizei den Schutz der Gemeinde verstärkt, vorher gab es praktisch keinen. Ihre erste Überwachungskamera zahlte die Gemeinde selbst. Auf 16 Seiten hat das LKA analysiert, wie die Gemeinde jetzt sicherer werden kann. „Aber irgendwer muss diese Burg auch bauen“, sagt Privorozki. Er fürchtet, dass die Gemeinde die Bürokratie dazu nicht bewältigen kann. Seit Monaten berät er sich mit dem Land. Max Privorozki will Sicherheit für seine Gemeinde, das fordern auch die Mitglieder. Was er vor allem bekam, waren Besuche: von Frank-Walter Steinmeier und Franziska Giffey, Heiko Maas und Mike Pompeo. Plötzlich wollten Leute die Gottesdienste anschauen – viele Gläubige fühlten sich dabei wie im Zoo, sagt Privorozki.

Gästebuch
Foto: Quirin Staufer

 

Max Privorozki hat die Sowjetunion erlebt, Arbeitslosigkeit in Deutschland, Krisen und Erfolge in der Gemeinde. All das hat Journalisten kaum interessiert. Doch seit Oktober will die Presse Interviews. Halle – einen Monat danach, zwei Monate, drei Monate.

Max Privorozki denkt nicht, dass die neue Sichtbarkeit der Gemeinde hilft. Im Gegenteil. „Zu viel Interesse auf der einen Seite führt nur zu Hass und Gewalt auf der Gegenseite.“ Privorozki glaubt, dass es umso besser ist, je mehr sich die Gemeinde zurückziehen kann. „Wir müssen für uns selbst stehen.“

Privorozki wollte nie ein Kämpfer sein müssen. „Ich bin kein Held“, sagt er ohne Bedauern. „Ich kämpfe nicht, ich gehe lieber weg.“ Seit einigen Jahren fühlt Privorozki sich unwohl in Deutschland. Früher waren er und seine Frau oft noch spät um elf spazieren. Jetzt bleiben sie abends lieber zuhause. Der Wendepunkt kam 2014, als Menschen begannen, auf Montagsdemos rechte Parolen zu skandieren. Nicht nur in Halle, auch auf Facebook und im Bundestag werde der Ton immer schriller. „Die Leute haben vergessen, wie man sich friedlich austauscht – egal zu welchem Thema.“ Ständig beschimpfe man sich gleich als Kommunist oder Nazi.

Fenster im Gemeindehaus
Foto: Quirin Staufer

 

Auch seinen Lieblingsautoren hat das schon getroffen: Henryk M. Broder. In seinem Büro führt Privorozki eine kleine Bibliothek der streitbaren Schriften. Broder, jüdisch und rechtskonservativ, steht dort gleich neben Boris Reitschuster. Beide schreiben für den Blog Die Achse des Guten. Auch ein Buch von Thilo Sarrazin findet sich im Regal, versteckt in der zweiten Reihe. Selbst in der jüdischen Gemeinde gibt es Sympathien für Gedankengut am rechten Rand des politischen Spektrums, auch für die AfD. Privorozki findet diese Partei untragbar. Trotzdem hätte er die AfD einmal fast gewählt, gibt er zu. Er fürchtet, dass die AfD bei einer geheimen Umfrage in seiner Gemeinde sogar gewinnen könnte. Die Partei, deren heutiger Ehrenvorsitzender Alexander Gauland sagte, die Nazizeit sei ein „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte. Wie kann das sein?

Kritik am Staat

Max Privorozki erklärt es so: Auch in Deutschland schauten viele Gemeindemitglieder noch immer russisches Staatsfernsehen. Der Tenor dort: Muslime würden Deutschland überrennen, aber die AfD könne das Land retten. Das ist die eine Seite. Die andere ist komplizierter. Ihm selbst werde übel, wenn er dieses Fernsehen schaue. Aber auch Privorozki sagt: „Ich habe nicht direkt Angst vor Migranten. Ich habe Angst vor Menschen ohne Toleranz. Man muss das Maximale tun, damit diese Leute verstehen: Hier läuft etwas anders als dort.“ Die Regierung sei zwar aktiv gegen rechten Antisemitismus – gegen den von links oder von Muslimen tue sie aber zu wenig. Als das Bündnis Halle gegen Rechts sich wünschte, dass die gesamte Gemeinde beitritt, war Privorozki dagegen. Der Grund: Es gibt kein Halle gegen Links. Und er hat noch eine Erklärung. Bis heute werden jüdischen Kontingentflüchtlingen ihre Arbeitsjahre in der Sowjetunion nicht für die Rente in Deutschland angerechnet. So landen viele in der Altersarmut. Auch das fördere natürlich die Kritik an diesem Staat, der sie doch einst eingeladen hat zu kommen. Eine Einladung, die 2004 ablief. Damals beendete die Regierung die Aufnahme der jüdischen Kontingentflüchtlinge. Seither gelten auch für Jüdinnen und Juden schärfere Be-
dinungen, wenn sie einwandern möchten. Was ist geworden aus dem Anspruch von 1990, Jüdinnen und Juden einen festen Platz in der deutschen Gesellschaft zu geben? Max Privorozki zögert und sagt schließlich: „Mit dem Beschluss der DDR begann die neue Geschichte der Jüdischen Gemeinde. Alles andere ist schwer zu sagen.“

Im Gemeindehaus
Foto: Quirin Staufer

 

Eines allerdings ist nach dem Anschlag gewiss: Sicher ist der Platz, den Juden in Deutschland haben, nicht. Sie fühlen sich nicht nur bedroht, sie sind es. Und sie werden weniger. Seit 2004 schrumpfen die Gemeinden in Deutschland. Auch in Halle: 2005 hatte die Gemeinde 750 Mitglieder, heute sind es nur noch 530. Viele sind verstorben, manche weggezogen.

 

Hinweis

Die Autorin des Textes ist Volontärin der Evangelischen Journalistenschule in Berlin. Der Beitrag erschien zuerst in der aktuellen Ausgabe des Magazins Einsichten, das im Rahmen der Ausbildung produziert wurde. Text und Bilder entstanden vor Beginn der Corona-Krise.

 

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