Gebeutelte Freiheit

Wenn Selbstverwirklichung anarchisch wird
Foto: privat

Schon immer war die Berufung auf die Freiheit mit einem provokativen Auftreten verbunden bis dahin, dass im Namen der Freiheit ganze Kriege geführt wurden. In vielen Fällen gibt es dafür nachvollziehbare Gründe, aber es ist auch keine Seltenheit, dass Aktionen mit dem wehrlosen Begriff der Freiheit plakatiert werden, bei denen ganz andere Ziele im Vordergrund stehen als eine Verteidigung der Freiheit. Ebenso wie die Parole „Wir sind das Volk“ einen höchst unterschiedlichen Klang annehmen kann, je nachdem in welchem Zusammenhang sie ertönt, kann auch die Berufung auf die Freiheit mit überaus fragwürdigen Ambitionen verbunden sein, deren Konsequenzen ihr schließlich ganz und gar entgegenstehen.

Damit sie nicht zu einer Abstraktion verkommt, wird die Freiheit seit jeher im Horizont ihrer Sozialverträglichkeit bedacht. Im allgemeinen Bewusstsein drückt sich das darin aus, dass meine Freiheit ihre Grenze dort hat, wo die Freiheit des/der Anderen beginnt. Die negative Wendung der Goldenen Regel kennen wir aus dem Sprichwort: Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg auch keinem andern zu.

Die Bibel formuliert positiv: Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch! Die Bedingungen für eine wirklichkeitsgerechte Freiheit waren längst vor Kants kategorischem Imperativ bekannt.

Wir wissen, dass der freie Markt klarer Regeln bedarf, wenn sich die auf den eigenen Gewinn bezogene Freiheit nicht am Ende verheerend auswirken soll, was keineswegs nur eine theoretische Annahme ist. Diese pervertierte Freiheit ertönt etwa im Slogan „America first“ und zeigt in aggressiven Hamsterkäufen – es beginnt beim Klopapier – ihren rücksichtlosen Durchsetzungswillen. Die egoman reklamierte Freiheit ist ein Angriff auf ihre gesellschaftliche Verwirklichung, in der sie erst den ihr entsprechenden spezifischen Glanz bekommt. Freiheit, die trennt und dann Gerechtigkeitsdebatten als Neiddebatten diffamiert, bleibt weit hinter dem Anspruch zurück, durch den sie überhaupt erst eine besondere Aufmerksamkeit verdient.

Wenn heute in aggressiven Demonstrationen die Freiheit des Einzelnen gegen die Vorsorgemaßnahmen des Staates zur Eindämmung der Pandemie eingefordert wird, trifft der Angriff genau in das Herz recht verstandener Freiheit. Wo nur die selbstbezogene Aktion orientierend ist, wird die gesellschaftliche Interaktion zu einem destruktiven Selbstdurchsetzungskampf. Die mangelnde Abgrenzung gegenüber den Instrumentalisierungen durch rechtsradikale Trittbrettfahrer offenbart eine abgründige politische Naivität.

Zweifellos kann über die je zu treffenden Maßnahmen diskutiert werden und wird es ja auch unablässig. Gewiss gibt es auch unausgegorene Anordnungen. Aber es kann nicht angehen, dass das Ausleben individueller Freiheit gegen den Schutz der Gesellschaft und die sie tragende Freiheit ausgespielt wird. Eine im Namen der Freiheit inszenierte Verunglimpfung staatlicher Gesundheitsfürsorge trägt faktisch anarchistische Züge. Es war eben noch nie eine gute Idee, das Verständnis der Freiheit denjenigen zu überlassen, die in ihr nur ein probates Mittel der Selbstdurchsetzung sehen.

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