Endlich die Wagenburg geöffnet

Ein theologischer Kommentar zu den „Kirche auf gutem Grund – Elf Leitsätze für eine aufgeschlossene Kirche“
Detailaufnahme EKD-Kirchenamt in Hannover
Foto:epd
Detailaufnahme des EKD-Kirchenamtes in Hannover

Die "Elf Leitsätze" zur Zukunft der Kirche wurden seit ihrer Veröffentlichung im Sommer heftig kritisiert. Arnulf von Scheliha, Professor für Theologische Ethik in Münster,  schlägt nun einen anderen Ton an und sieht viele gute Ansätze in dem Papier. 

Seitdem vor gut einhundert Jahren die Dialektische Theologie die politischen, kulturellen und kirchlichen Umbrüche nach dem Ersten Weltkrieges theologisch generalisiert hat, ist „Krise“ zur diagnostischen Leitkategorie der evangelischen Theologie avanciert. In dieser Tradition stehen auch die „Elf Leitsätze für eine aufgeschlossene Kirche“, die im Juni 2020 vom „Z-Team“ der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland vorgelegt wurden. Danach stellt die „Coronakrise“ nicht nur das gewohnte gesellschaftliche Leben grundlegend in Frage. Vielmehr werde die „aktuelle Krise […] zur Metapher“ (35) für die „Krise der Akzeptanz von Kirche und ihrer Botschaft“, die einhergehe „mit einer tieferliegenden Glaubenskrise“ (15–17). Wie damals wird die Krise als Chance gesehen, um „kreatives Potential“ (29) freizusetzen, „Mut, Entscheidungen zu treffen, Verantwortung zu übernehmen und neue Wege zu erproben“. Dafür bedürfe es „der Zuversicht und des Vertrauens auf Gottes Verheißungen“ (34).

Freilich haben sich nun die Fronten vertauscht. Waren es in der Weimarer Zeit ambitionierte Pastoren, die im Verein mit jungen Vertretern der akademischen Theologie den theologischen Aufbruch propagierten und den in den Strukturen des Bündnisses von Thron und Altar verhafteten Kirchen neues geistliche Leben einbliesen, sind es heute hochrangige Kirchenvertreter*innen und erneut Vertreter*innen der jüngeren Generation, die sich krisensensibel und reformorientiert hervorwagen, während es Repräsentant*innen der akademischen Theologie sind, die auf die Bremse treten und der EKD „Krisenaktionismus“ (Isolde Karle), „Musterschülertheologie“ (Ulrich Körtner) oder „Abwertung der Parochie“ (Reiner Anselm)“ vorhalten.

Die Kritik macht sich insbesondere daran fest, dass die „Ortsgemeinde nur als Auslaufmodell vorkommt und Pfarrerinnen und Pfarrer gar nicht erwähnt werden“ (Reiner Anselm). Damit wird in der Tat ein heikler Punkt angesprochen. Und ja: Die Leitsätze, die etwas missverständlich als „Bericht“ bezeichnet werden, wirken in mancherlei Hinsicht unausgegoren und unvollständig. Einige Themen werden stark binnenmilieuorientiert abgehandelt. Dort, wo man sich theologisch zur Gesellschaft öffnet, dominiert ein – überdies einseitig verstandenes – ethisches Glaubensverständnis. Die kulturelle Bedeutung des Glaubens (Musik, Kunst) wird ebenso wenig bedacht wie die Amtshandlungen wie Taufe, Trauungen oder Beerdigungen, deren existenzielle Relevanz doch gerade während der Corona-Krise deutlich wurde, als sie nicht oder nur sehr reduziert vollzogen werden konnten. Aber: Man sollte das Papier nicht daran bemessen, was nicht erwähnt wird. Nichterwähnung bedeutet nicht eo ipso Abwertung. Berechtigte Kritik darf den Blick auf die hellsichtigen und wirklich weiterführenden Impulse der Leitsätze nicht verstellen! Der Hauptimpuls ist das Bekenntnis zu einer – auch buchstäblich zu verstehenden – „aufgeschlossenen Kirche“, das den religionssoziologischen Befunden der Gegenwart Rechnung trägt und – versehen mit einer guten Portion Selbstkritik – der kirchlichen Wagenburgmentalität offensiv entgegentritt.

Individualisierung ernst genommen

Zunächst nimmt das Papier die Individualisierung des Lebens ernst, die Freiheit der Einzelnen steht an erster Stelle. Dementsprechend steht der Respekt vor der Gewissensentscheidung im Vordergrund. Die Kirche will niemanden in vorformatierte Verhaltensmuster zwängen und bevormunden, sondern Möglichkeiten zum authentischen Ausdruck des eigenen Glaubens geben. Ganz im reformatorischen Sinne wird das allgemeine Priestertum betont: „Die evangelische Kirche lebt von Anregungen durch das ‚Priestertum aller Getauften‘“ (93f.). Die evangelische Bildungsarbeit ist auf „Befähigung“ (392) und „Teilhabe“ (109) der Einzelnen angelegt, die ihren Glauben in einem authentischen Sinne leben können sollen. Hierfür soll vor allem die digitale Kommunikation gestärkt und als Chance genutzt werden. Durch die Entwicklung partizipativer Formate soll der Trend zur traditionalen „Einwegkommunikation“ (149) des überkommenen Verkündigungsparadigmas gestoppt werden, das in seiner pastoraltheologisch begründeten Absenderorientierung von den Bedürfnissen der Adressat*innen programmatisch absieht. Um es zuzuspitzen: Es ist wohltuend, dass das „Z-Team“ nicht die Pastor*innen-Kirche in den Vordergrund schiebt, sondern mit Martin Luthers „Freiheit eines Christenmenschen“ ekklesiologisch Ernst macht.

Dass dies zweitens nicht zwangsläufig zu einem Abschied von den etablierten Formen wie der Ortsgemeinde führt, kann deutlich werden, wenn man genauer liest und sich auf die kirchentheoretischen Differenzierungen der „Leitsätze“ einlässt. Man unterscheidet die institutionelle „Amtskirche“, deren Verwaltungsapparat um 15 % verschlankt werden soll (vgl. 457f.), von der „Vereinskirche“ (die klassische Parochie), die es, so wäre indes deutlicher zu machen, weiterhin geben wird und um der verlässlichen Ansprechbarkeit willen auch weiter geben muss. Diese beiden Ebenen werden ergänzt durch die „Bewegungskirche“ (vgl. 459ff.). Hier wird endlich jener religionssoziologisch schon längst bekannten Einsicht Rechnung getragen, dass die evangelischen Kirchen nicht nur Versammlungsort und inneres Zentrum für die mit der Kirche hochverbundenen Menschen und – im Sinne der sog. Amtshandlungen – eine Institution in Dauerbereitschaft für die Begleitung von Menschen in existenziellen Übergangslagen sind, sondern auch organisatorischen Freiraum für religiös-motivierte, aber institutionell nicht gebundene Menschen bieten müssen und in ihrer religiösen Bildungsarbeit offen zu bleiben haben für religiös interessierte, institutionell ungebundene Menschen, die sich im kulturellen Reichtum des Christentums wiederfinden, aber dabei für sich oder stumm bleiben (wollen). Die Leitsätze nun öffnen die Kirche mit der Betonung von fluiden und temporären Partizipationsmöglichkeiten eben diesen Menschen, die nach einem authentischen Glaubensleben suchen, es aber in der Amts- und Vereinskirche nicht finden können. Das ist ein höchst einleuchtender Vorschlag, der mit der Idee hinterlegt ist, dafür ca. „10 % der kirchlichen Haushalte […] als geistliches ‚Risikokapital‘“ (386f.) zur Verfügung zu stellen, das nicht strukturbildend, sondern gezielt aufgaben- und projektorientiert eingesetzt wird.

In der kirchlichen Zeitgeschichtsschreibung ist die faktische Transformation des kirchlichen Protestantismus in einen sozialen „Bewegungsprotestantismus“ im Zuge der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eindrucksvoll beschrieben worden (Claudia Lepp). Das Papier zieht hier aus dieser Einsicht erste kybernetische Konsequenzen. Das ist ein mutiger und wichtiger Schritt! In diesem Zusammenhang wird die Idee einer Flexibilisierung der Kirchenmitgliedschaft relevant, die nicht mehr wie bisher in Analogie zur Vereinsmitgliedschaft gedacht werden soll. Wie das konkret aussehen kann, wird zwar noch nicht recht klar. Aber die Abkehr von einem vereinsorientierten Mitgliedschaftsverständnis wäre eine gute Möglichkeit, die aktuell starke Spaltung von „drinnen“ und „draußen“ aufzuweichen. Dadurch schlösse sich die Kirche auf für die unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen Arenen und dynamisierte die reformatorische Unterscheidung von der Kirche als sichtbarer Institution und der unsichtbaren Gemeinschaft aller Gläubigen im Leib Jesu Christi. Dieser Zusammenhang wäre tauftheologisch zu reflektieren, insofern die Taufe das Glied-Sein am Leib Jesu Christi begründet, nicht aber nur die Mitgliedschaft in einer sichtbaren evangelischen Landeskirche.

Drittens: Allen ist klar, dass bei sinkenden Mitgliedszahlen der amtskirchliche Apparat verschlankt und das gemeindekirchliche Angebot angepasst werden müssen. Hier rührt das Papier an manchen Tabus. Das erklärt die Abwehrreflexe. Aber das Anpacken heißer Eisen gehört zur Verantwortung einer Gruppe, die vom höchsten Beschlussgremium der EKD eingesetzt wurde, um über die Zukunft der Kirche nachzudenken. Keiner wird ernsthaft bestreiten: In diesen Bereichen ist einiges zu tun! Wer sich einmal in das Geflecht innerkirchlicher Strukturen begeben hat, weiß: Beständig repetierte Traditionsnarrative, Besitzstandswahrung und die beharrliche Pflege von Parallelstrukturen gehören zu den lähmenden Profilelementen des deutschen Protestantismus. Dessen landeskirchliche Gliederung bildet noch immer weitgehend die territorialen Grenzen des 19. Jahrhunderts ab. Die wichtigen regionalkirchlichen Neugründungen in Mittel- und Norddeutschland können doch nur der Anfang gewesen sein! Der Satz „Unverbunden agierende, selbstbezügliche Institutionen und Arbeitsbereiche auf allen kirchlichen Ebenen werden aufgegeben“ (265–267) klingt schroff, ist aber mutig und in der Sache richtig. Für die hier anstehenden Reformen werden in dem Papier erste Kriterien und Ebenen benannt, auf deren Grundlage Synergien ermöglicht, Doppelstrukturen abgebaut und eine klare Zuordnung von Verantwortlichkeiten ermöglicht werden.Das Thema „Abbau der Doppelstrukturen“ führt zu den sinnvollen Ausführungen zur ökumenischen Kooperation, die für die Bereiche von Anstaltsseelsorge und Diakonie vorgeschlagen wird. Nicht nur aus finanziellen und pragmatischen, sondern auch aus theologischen Gründen ist es geboten, den in Deutschland seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil erreichten hervorragenden Stand an ökumenischen Beziehungen zwischen den evangelischen Kirchen und der römisch-katholischen Kirche in konfessionell-kooperativ gestaltete Handlungsfelder umzusetzen. Solch konfessionelle Kooperationen werden bereits sehr erfolgreich beim schulischen Religionsunterricht und in der Militärseelsorge praktiziert. In diesen Kooperationen liegt die Chance zum Verlassen institutioneller Selbstreferentialität und zur Öffnung, die laut Leitsatz 3 durch zivilgesellschaftliche Kooperation vertieft werden soll. In der Praxis ist man hier oftmals schon viel weiter als es ekklesiologisch begriffen wird. Es ist höchste Zeit, das Thema „Kooperation“ theologisch und strategisch anzugehen.

Aufgeklärter Protestantismus

An vierter Stelle sei die Profilierung der Glaubenskommunikation hervorgehoben, deren Krise eingangs mit dramatischen Worten bedacht wird. Sie soll durch Bildungsangebote unterstützt und öffentlich kenntlich werden. „Entsprechend gilt es, religiöse Bildung auf allen Ebenen zu fördern und die wissenschaftlich-theologische Reflexion und ihre interdisziplinären Verflechtungen zu stärken.“ (127–129) Die hier aufgerufene „kirchliche Bildungsverantwortung“ (136f.) schließt ein somit klares Bekenntnis zum aufgeklärten Protestantismus und damit zur Kontextsensibilität theologischer Arbeit ein. Dieser Grundgedanke wird in angemessener Weise auf das gottesdienstliche Leben bezogen, das künftig nicht mehr monopolistisch vom parochialen Sonntagsgottesdienst gedacht werden, sondern andere und neue Formen einbeziehen soll. Wer will diesen Einsichten widersprechen? „Das Gottesdienstangebot wird insgesamt kleiner, aber es wird auch vielfältiger und darum nicht ärmer werden. Die evangelische Kirche braucht eine differenzierte und analytisch aufmerksame Selbstwahrnehmung ihres geistlich-gottesdienstlichen Lebens, um die Bedeutung des traditionellen Sonntagsgottesdienstes in Relation zu setzen zu den vielen gelingenden Alternativen gottesdienstlicher Feiern und christlicher Gemeinschaft.

Es gilt die sich wandelnden Bedürfnisse in einer ,singularisierten Gesellschaft‘ wahrzunehmen und auf dieser Grundlage die kirchliche Lebenspraxis als geistliche Größe realitätshaltig und zielbewusst weiter zu entwickeln.“ (268276). Die Corona-Krise hat gezeigt, dass sich besonders im digitalen Bereich neue Chancen hierfür auftun. Um dem Lebensgefühl vieler Menschen Rechnung zu tragen, muss es daher auch darum gehen, „spirituelle Räume auf digitaler Basis zu schaffen, die Liebe zum Gottesdienst in neuen und vielfältigen, digitalen wie analogen Formaten wachzuhalten und die dezentrale Vernetzung zu fördern.“ (242244). Fünftens, das Zukunftspapier macht nicht nur ernst mit der Mitgliedschaftskrise der Kirchen, sondern auch mit der sozialwissenschaftlich längst bekannten Einsicht in die Ausdifferenzierung des öffentlichen Lebens. Aus der Barmer Theologischen Erklärung wurde bisher mit dem ‚prophetischen Wächteramt‘ ein kirchlicher Öffentlichkeitsauftrag abgeleitet, der sich oftmals holistisch überschätzt. In Zukunft ist, wie die Leitsätze zu Recht und selbstkritisch betonen, das publice docere aus CA XIV auf die verschiedenen Teilöffentlichkeiten zu beziehen. Um sie zu erreichen, muss das kirchliche Handeln „fluider und risikobereiter“ (469f.) werden, die an die Gesamtgesellschaft gerichteten Botschaften müssen „sparsamer und konkreter“ (69f.) dosiert werden, der spezifische „Rückbezug auf das Evangelium“ (71) ist jeweils deutlich zu machen. Dabei sind nicht nur die Kirchenleitungen gefragt. Vielmehr wird es zunehmend auf die Verantwortung des allgemeinen Priestertums der Getauften ankommen!

In summa: Das Papier markiert nicht das Ende, sondern den Anfang eines Diskussionsprozesses, an dem alle Christenmenschen mitwirken können. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass noch viel nachzutragen und zu ergänzen sein wird. Aber eine wichtige Funktion haben die Leitsätze: Die evangelische Christenheit in Deutschland wurde mit richtigen Impulsen aus dem „Schlaf der Sicherheit“ (EG 262 Strophe 2) geweckt! 

 

 

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Arnulf von Scheliha

Arnulf von Scheliha ist Professor für Theologische Ethik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Direktor des Instituts für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften (IfES) und Principal Investigator am Exzellenzcluster "Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne".  Er ist Vorsitzender des Kuratoriums der Evangelischen Zentrale für Weltanschauungsfragen (EZW).


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