Weiblicher Wunschraum

Reformerin und Mittlerin – Christine de Pizan setzte sich Zeit ihres Lebens für weibliche Bildung ein
Buchmalerei, Venedig um 1411/12: Christine de Pizan in ihrem Studierzimmer, von Minerva besucht.
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Buchmalerei, Venedig um 1411/12: Christine de Pizan in ihrem Studierzimmer, von Minerva besucht.

Christine de Pizan (1364–1430) war eine außergewöhnliche Frau, die vor knapp sechshundert Jahren sich und ihre Familie von ihren Werken ernähren konnte. Sonja Domröse, Pastorin und Kommunikationsmanagerin in Stade, beschreibt ein Frauenleben fern der Norm.

Sie ist bekannt als Schriftstellerin und Intellektuelle, Reformerin und Mittlerin zwischen den Kulturen. Christine de Pizan (1364–1430) gilt aber auch als erste Verlegerin und französische Schriftstellerin, die von ihren Werken sich und ihre Familie ernähren konnte. Eine äußerst vielseitige, selbstbewusste und kluge Frau, die vor knapp sechshundert Jahren antrat, frauenfeindliche Vorurteile männlicher Autoren argumentativ zu zerpflücken. Mit ihr begann der „Streit der Frauen“, der in die Geschichte unter dem Namen „Querelle des Femmes“ eingegangen ist. In diese Debatte über das Verhältnis der Geschlechter haben sich über die Jahrhunderte hinweg viele Frauen und auch einige Männer eingereiht, um einer immer wieder um sich greifenden Misogynie entgegenzutreten. Eines der bahnbrechenden Werke des 20. Jahrhunderts, Simone de Beauvoirs Buch Das andere Geschlecht, reiht sich in diese Linie ein. Auch heute noch ist es äußerst spannend, das Werk der Autorin de Pizan zu lesen, deren Schriften am Beginn dieser langen Auseinandersetzung stehen.

Christine wurde 1364 in Venedig als Tochter von Tommaso de Pizzano, Gelehrter für Astrologie und Medizin, und seiner Frau, deren Name nicht bekannt ist, geboren. Der Vater folgt wenig später dem Ruf Karls V. an den französischen Hof, wohin ihm Frau und Kinder bald folgen. So wächst die junge Italienerin im höfischen Pariser Umfeld auf, die „süße Lust des Wissens und Lernens“ wird in ihr geweckt. Aber als Mädchen muss sie um ihre Bildung hart ringen, denn es war nicht vorgesehen, „mich von den Wissensschätzen meines Vaters profitieren zu lassen … Ich konnte also nicht umhin, winzige Teilchen, Hälmchen, Pfennige und kleine Münzen zu stehlen, die für mich von seinem unermesslichen Reichtum abfielen, über den er im Übermaß verfügte. Und obwohl ich im Verhältnis zu meinem Heißhunger nur weniges und alles nur durch Diebstahl bekam und auf diese Weise ein bescheidenes Gut erwarb, so zeigt doch mein Werk deutliche Spuren davon.“ Ein Leben lang wird sie sich für weibliche Bildung einsetzen.

Arbeit als Kopistin

Mit 15 Jahren heiratet sie den zehn Jahre älteren Étienne de Castel, mit dem sie eine glückliche Ehe führt, bis er an einer Epidemie plötzlich stirbt und die 25-Jährige als Witwe mit drei Kindern zurücklässt. Verzweiflung und existentielle Sorgen setzen der jungen Frau zu. Sie berichtet von der Ohnmacht vieler Witwen und ungerechten Urteilen vor Gericht. „O Gott, wie viele Belästigungen und widerliche Blicke, wie viel Spott aus dem Mund angetrunkener Männer … musste ich mir dort gefallen lassen!“

In dieser Situation beginnt sie, die zuerst als Kopistin arbeitet, zu schreiben und sich unablässig autodidaktisch weiterzubilden. „Ich habe damit begonnen, anmutige Gebilde zu ersinnen, und diese waren in meinen Anfängen ohne allzu viel Tiefgang. Dann aber erging es mir wie dem Handwerker, der mit der Zeit immer kompliziertere Dinge herstellt: In ähnlicher Weise bemächtigte sich mein Verstand immer außergewöhnlicherer Gegenstände, mein Stil wurde eleganter, meine Themen gewichtiger.“ Und so kennzeichnet ihr Œuvre sowohl formaler wie auch inhaltlicher Reichtum. Balladen und Geschichtswerke, gesellschaftspolitische Schriften, ethische Abhandlungen und Veröffentlichungen zur Frauenfrage gehören zu ihrem Werk. Der Erfolg und die Verbreitung ihrer Veröffentlichungen zeigen sich noch heute in der beträchtlichen Anzahl der erhaltenen Handschriften, die in ihrer eigenen Werkstatt mit prächtigen Illuminationen versehen wurden. Auf diesen Miniaturen ist sie in blauem Kleid zu sehen, auf dem Kopf die weiße Witwen-Haube, in der Hand die Schreibfeder. So sind ihre Bücher Gesamtkunstwerke, in denen sich die Autorin souverän als femme de lettres präsentiert.

1399 beginnt mit ihrer ersten Veröffentlichung ihre Karriere als Schriftstellerin, die sie bis 1418 kontinuierlich weiter ausbaut und vertieft. Dann verlässt sie Paris wegen der bürgerkriegsähnlichen Zustände und zieht sich in ein Kloster zurück, in dem bereits ihre Tochter als Nonne lebt. Denn Frankreich erschütterten zu ihren Lebzeiten zwei große Konflikte: zum einen kriegerische Auseinandersetzungen mit England um Land und Thronnachfolge, zum anderen innenpolitische Kämpfe zwischen den Häusern Burgund und Armagnac, in denen es ebenfalls um die Thronnachfolge ging. Diese dunkelste Phase der französischen Geschichte ist bekannt als Hundertjähriger Krieg. Karl V. hatte bei seinem Tod 1380 seinen minderjährigen Sohn Karl VI. hinterlassen, der 1388 zwar die Regierung übernahm, aber ab 1392 zunehmend in Geisteskrankheit verfiel. Erst durch das Eingreifen Johannas von Orléans 1429 entschied sich der Konflikt um die Thronfolge: Johanna ritt ihren Truppen voraus, der militärische Sieg über die Engländer und das Haus Burgund wurde errungen und Karl VII. daraufhin in Reims zum König gesalbt. Dieser Frau ist das letzte Werk de Pizans gewidmet, mit ihrem „Gedicht auf Jeanne d’Arc“ stellt sie ihre Heldin in eine Reihe mit alttestamentlichen Figuren beiderlei Geschlechts und schreibt sie damit in das Gedächtnis des französischen Volkes ein. Sie selbst stirbt vermutlich um 1430 mit etwa 65 Jahren.

Misogynie klug widerlegt

Eine ihrer wirkmächtigsten Schriften ist Das Buch von der Stadt der Frauen, verfasst in den Jahren 1404/05. Dieses Lesebuch für Frauen verfolgt mehrere Ziele, indem es unter Verweis auf biblische, historische und mythologische Frauengestalten Mut machen und Selbstbewusstsein stärken will. Es greift korrigierend in geschichtliche Überlieferung ein und will nicht zuletzt klug die weitverbreitete Misogynie widerlegen. So entwirft die Autorin einen weiblichen Wunschraum, der zeitlos ist. Diese „Stadt der Frauen“ zu betreten ist faszinierend, denn eine europäische Schriftstellerin entwirft hier allegorisch eine Bastion unter weiblicher Regentschaft, „um zukünftig allen hochherzigen und rechtschaffenen Frauen einen Ort der Zuflucht, eine umfriedete Festung gegen die Schar der boshaften Belagerer zu bieten“.

Zu Beginn des Buches erzählt de Pizan, wie sie in ihrem Studierzimmer sitzt und liest, über Jahrhunderte hinweg für Frauen keine Selbstverständlichkeit. Virginia Woolf hat diesen Missstand eines eigenen fehlenden Zimmers in ihrem berühmten Essay A Room of One’s Own 1929 benannt: „Eine Frau muss Geld und ein eigenes Zimmer haben, um schreiben zu können.“

Ein eigenes Zimmer hatte Christine de Pizan also und Geld konnte sie zu diesem Zeitpunkt mit ihrer schriftstellerischen Tätigkeit auch verdienen. Doch ihre Lektüre verstört die Gelehrte, denn sie liest den Rosenroman, einen von zwei Klerikern verfasste Schrift, die von frauen- und ehefeindlichen Anekdoten und Geschichten strotzt und sich dennoch oder gerade deshalb großer Beliebtheit erfreute. Schon will Christine, schwermütig geworden durch dieses Werk, alles Selbstvertrauen und allen Stolz auf ihre Weiblichkeit fahren lassen und beginnt ein Zwiegespräch mit Gott. „Ach Gott, wie ist das überhaupt möglich? Denn wenn mich mein Glaube nicht trügt, dann darf ich doch annehmen, dass Du in Deiner grenzenlosen Weisheit und vollkommenen Güte nichts Unvollkommenes erschaffen hast. Aber hast Du nicht selbst, und zwar auf eine ganz besondere Weise, die Frau erschaffen und sie dann mit all jenen Eigenschaften versehen, die Du ihr zu geben beliebtest? Es ist doch undenkbar, dass Du in irgendeiner Sache versagt haben solltest! Und dennoch gibt es so viele und gewichtige Beschuldigungen, mehr noch: Urteile, Versicherungen, Schlussfolgerungen zu Ungunsten der Frauen. Dies ist ein Widerspruch, den ich nicht aufzulösen vermag.“

Da betreten in einem Lichtstrahl drei gekrönte Frauen ihr Studierzimmer. „Teure Tochter, erschrick nicht!“, lauten ihre ersten Worte. Diese Analogie zum Gruß des Engels Gabriel an Maria in der Verkündigungsszene ist nur eine von zahlreichen Anlehnungen an die biblische Überlieferung, die im weiteren Verlauf Das Buch von der Stadt der Frauen entscheidend prägen.

Theologischer Spitzensatz

Die drei Frauen offenbaren ihre himmlische Mission, damit Christine mit ihrer Hilfe eine Stadt der Frauen errichte, die „über alle Zeiten hinweg blühen und gedeihen wird“. Die Namen der Drei sind Vernunft, Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit und so wie die Heiligen Drei Könige Kleinodien bei sich haben, führen auch diese gekrönten Damen jeweils etwas Kostbares mit sich, um den Bau der Stadt zu unterstützen. Frau Vernunft hält einen funkelnden Spiegel für die klare Erkenntnis in ihrer Rechten, die Rechtschaffenheit ein wertvolles Lot für die Unterscheidung von Recht und Unrecht und die Gerechtigkeit eine goldene Waagschale. Diese Waagschale, so sagt es die Gerechtigkeit, hat „Gott, mein Vater, mir gegeben; sie dient dazu, einem jeden das ihm Zukommende zu bemessen“ und trägt als Zeichen die Lilie der Dreifaltigkeit.

Stolze Worte findet die Gerechtigkeit für sich und ihre beiden Begleiterinnen: „Wir, die drei vornehmen Frauen, sind wie ein einziges Wesen, denn die eine kommt nicht ohne die andere aus; was die erste verfügt, ordnet die zweite an und setzt es in Gang, und dann führe ich es weiter und bringe es zum Abschluss.“ Und auch dieser theologische Spitzensatz fließt aus ihrem Mund: „Ich bin in Gott, Gott ist in mir, und wir sind wie Eins. Wer mir folgt, kann nicht fehlen, denn mein Weg ist sicher. Ich lehre jeden vernunftbegabten Mann und jede vernunftbegabte Frau.“ Die Gerechtigkeit ist „die einzigartige Tochter Gottes“ und ihre Worte erinnern an die biblische Weisheit. Von ihr heißt es in den Sprüchen: „Der HERR hat mich schon gehabt im Anfang seiner Wege, ehe er etwas schuf, von Anbeginn her. Ich bin eingesetzt von Ewigkeit her, im Anfang, ehe die Erde war … So hört nun auf mich, meine Söhne! Wohl denen, die meine Wege einhalten!“ (Sprüche 8,22 ff.).

Jede der drei Frauen hilft der Autorin, eine allegorische Stadt auf dem „Feld der Literatur“ mit der „Spitzhacke der Vernunft“ zu erbauen, eine Festung, deren Bausteine die genüsslich entlarvten frauenfeindlichen Vorurteile und die Geschichten von klugen, mutigen und selbstbewussten Frauen sind. Königinnen, Prophetinnen, Heilige, Amazonen, sie alle bilden das Fundament, die Mauern und Zinnen dieses weiblichen Sehnsuchtsortes. Als profunde Bibelkennerin erzählt die Autorin von der Richterin Deborah, der Prophetin Hanna, der Königin von Saba, Judith und Esther, die ihr Volk aus der größten Not erretteten, von Sarah, Rebecca und Ruth und nicht zuletzt von Maria Magdalena, der ersten Verkündigerin und Apostelin der österlichen Auferstehungsbotschaft. Regentin dieser „Stadt der Frauen“ ist die Himmelskönigin Maria und nach ihrem Einzug ist das Werk Christines vollendet und sie schließt ihr Buch mit einem „Amen.“

In ihrer Installation „Dinner Party“ (1979) führte die Künstlerin Judy Chicago das Werk de Pizans fort, indem sie für 39 Frauen an einem Gedächtnis-Tisch ein kunstvolles Gedeck gestaltete und die Namen weiterer 999 auf dem Marmorboden unter dem Tisch eingravierte. So baute sie auf ihre Art an der „Stadt der Frauen“ und ehrte mit einem Gedeck auch die Gründerin dieser Stadt, Christine de Pizan.

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