„Alles ist auf dem Prüfstand“

Gespräch mit dem EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm über die Lehren aus der Corona-Pandemie, die Allmacht und Ohnmacht Gottes und die „Elf Leitsätze der EKD“
Heinrich Bedford-Strohm
Foto: dpa/Sven Hoppe
Heinrich Bedford-Strohm (Jahrgang 1960) ist Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland. Von 1989 bis 1992 war er Assistent am Lehrstuhl für Systematische Theologie und Sozialethik bei Wolfgang Huber an der Universität Heidelberg. 1998 erfolgte die Habilitation in Systematischer Theologie. Von 1997 bis 1999 und von 2001 bis 2004 war Bedford-Strohm Pfarrer an der Coburger Morizkirche. Am 1. April 2004 folgte er einem Ruf an die Universität Bamberg als Professor für Systematische Theologie und Theologische Gegenwartsfragen. Am 4. April 2011 wurde HeinrichBedford-Strohm zum Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern und am 11. November 2014 zum Ratsvorsitzenden der EKD gewählt.

zeitzeichen: Herr Ratsvorsitzender, die Corona-Pandemie hat an vielen Stellen die Stärken und Schwächen unserer Gesellschaft offengelegt. Was hat Corona die evangelische Kirche gelehrt?

HEINRICH BEDFORD-STROHM: Eine Menge. Ich fange mal an mit Dingen, die ich wirklich stark finde. Dazu zählt, wie schnell überall die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden in den Gemeinden reagiert und überlegt haben, wie sie den Grundauftrag der Kirche erfüllen können, nämlich Menschen gerade in dieser Zeit nicht alleine zu lassen. Es hat sich gezeigt, welche Kraft in unserer Kirche steckt. Bei den digitalen Formaten ist es besonders sichtbar geworden, gut achtzig Prozent der Kirchengemeinden haben Gottesdienste und Andachten über das Internet angeboten. Und ich habe eine ganze Reihe inhaltlich starker, gut gemachter Gottesdienste auf diesem Wege erlebt.

Gleichzeitig wurde ja immer wieder die Kritik geäußert, dass die Kirchen sich zu leicht dem Verbot der Präsenzgottesdienste gebeugt hätten.

HEINRICH BEDFORD-STROHM: Was ich verstehen kann und absolut teile, ist der Schmerz darüber, dass wir keine Präsenzgottesdienste feiern konnten. Die ersetzen digitale Gottesdienste nicht. Wogegen ich mich aber klar wehre, ist die Forderung, wir hätten protestieren müssen gegen das Verbot von Präsenzversammlung in den Gemeinden. Es war ein unverzichtbarer Teil unserer Botschaft, nämlich die Botschaft von der Nächstenliebe, der dazu geführt hat, dass wir genau das aus Freiheit mitgetragen haben, worum sich politisch Verantwortliche in dieser Zeit bemüht haben: unter Bedingungen der Unsicherheit so viel wie möglich dafür zu tun, dass wir in Deutschland nicht Zustände erleben wie in New York, Spanien oder Italien, wo die Intensivstationen überlastet waren und Leichen in Lastern abtransportiert wurden. Das war der gemeinsame Wille und das ist ausdrücklich in der Ziellinie des Evangeliums. Deswegen müssen sich diejenigen rechtfertigen, die unter Berufung auf Religionsfreiheit Maßnahmen ablehnen oder sogar sabotieren, die dem Schutz von Leben dienen, nicht umgekehrt.

Gilt das auch für die Präsenz der Seelsorger und Seelsorgerinnen in den Krankenhäusern und Pflegeheimen? Hier hat ja unter anderem die ehemalige Ministerpräsidentin Thüringens, Christine Lieberknecht, den Kirchen vorgeworfen, dass sie die Menschen allein gelassen habe.

HEINRICH BEDFORD-STROHM: Die sehr pauschale Kritik hat all den Seelsorgerinnen und Seelsorgern Unrecht getan, die sich in diesen Monaten, oft unter Gefährdung der eigenen Gesundheit, aufgerieben haben. Dennoch ist das der Punkt, der mich wirklich bedrängt, und ich stelle mir immer wieder selber die Frage, ob wir Dinge anders hätten machen müssen. Das Grauenhafteste in dieser Zeit war, dass all das, was normalerweise Ausdrucksform von Liebe ist, zum Feind der Liebe geworden war, Berührung, Nähe, physische Präsenz. Wie schlimm das ist, war mir von Anfang an klar, aber wir mussten natürlich verhindern, dass das Virus in eine Pflegeeinrichtung oder ein Krankenhaus kommt und viele Menschen tötet. Als wir diese Fragen diskutierten, waren gerade in Wolfsburg 28 Menschen in einem Pflegeheim ums Leben gekommen, die Pflegeleitungen standen moralisch und juristisch unter Druck. Nach allem, was ich höre, durften Sterbende begleitet werden, und wenn Frau Lieberknecht etwas anderes erlebt hat, dann ist es in der Tat grauenhaft, und man kann nur Mitgefühl dafür haben. Das Problem war häufig, dass die Seelsorger, die bereitstanden, von den Heimen gar nicht nicht zu den Sterbenden gerufen wurden, aus welchen Gründen auch immer. Wir haben gelernt, dass die Kommunikation zwischen Einrichtungen und Gemeinden in solchen Fällen noch klarer geregelt sein muss. Zudem war die nötige Schutzkleidung knapp und wurde dringend vom Pflegepersonal gebraucht. Ich habe das Thema öffentlich angesprochen, aber ich habe es bewusst nicht skandalisiert, weil ich das Dilemma gesehen habe, in dem sowohl die Politik als auch die Pflegeheimleitungen standen.

Aber auch das Dilemma hätte man doch deutlicher öffentlich thematisieren können, viele Menschen haben ein klares Wort der Kirchenleitungen in den Medien vermisst.

HEINRICH BEDFORD-STROHM: Mit der Beschreibung einer Dilemmasituation kommt man nicht in die Schlagzeilen. Womit man in die Schlagzeilen kommt, ist das, was Frau Lieberknecht gemacht hat, Skandalisierung und Anklage. Das war aus inhaltlichen Gründen nicht der Weg, den wir in dieser Situation für richtig gehalten haben. Und wer nach einem klaren Wort der Kirchen zu Corona sucht, kann es leicht finden: Schon am 20. März haben die Spitzen der drei christlichen Kirchen, der weit über die Hälfte der Deutschen als Mitglieder angehören, ein gemeinsames Wort veröffentlicht, das zu vielen Fragen schon zum damaligen Zeitpunkt Stellung bezog. Es gab nur sehr wenige Zeitungen, die das abgedruckt haben. Das hat mich überrascht. Kann man so etwas ignorieren? Wenn in einer solchen Situation eine Erklärung der drei Spitzen der Kirchen kommt, wie kann man das in einer Redaktion einfach gar nicht zur Kenntnis nehmen?

Vielleicht weil dort mittlerweile ein weiteres gemeinsames Papier der Kirchen an sich keine Nachricht mehr ist, sondern danach gefragt wird, was sie sagen, was sie kritisieren, was sie fordern …

 

HEINRICH BEDFORD-STROHM: Was hätten wir denn fordern sollen? Wen hätten wir denn attackieren sollen zu dem Zeitpunkt? Wir haben alle gemeinsam an einer Lösung gearbeitet, häufig hinter den Kulissen, und wir haben dadurch viel mehr für die Menschen getan, als wenn wir die Politik attackiert hätten, obwohl wir gesehen haben, wie alle Verantwortlichen gerungen haben. Soll ich mich hinstellen und öffentlich anprangern? Damit wäre ich gewiss in viele Zeitungen gekommen, aber hätte ich der Sache einen Dienst erwiesen?
 

Möglicherweise hätten Sie die Aufmerksamkeit bekommen, die der frühere Militärbischof Hartmut Löwe mit seinem Text in der FAZ erzielt hat. Er vermisste bei den leitenden Geistlichen, und damit auch bei Ihnen, eine theologische Deutung der Corona-Krise, die auch den Zorn Gottes nicht ausspart. Luther habe von der Pest ganz selbstverständlich und ohne Scheu von einer Strafe Gottes gesprochen. Löwe fragt, ob das inzwischen als theologisch überholt zu tadeln sei? Was antworten sie ihm und den Kirchenmitgliedern, die ähnliche Fragen stellen?

 

  Abschied nehmen von Gott als einem, der alles unter Kontrolle hat.

 

HEINRICH BEDFORD-STROHM: Wir haben in dem erwähnten Papier selbstverständlich theologisch geredet. Wir haben allerdings nicht die Meinung von Herrn Löwe vertreten. Gott erfahren wir in Jesus Christus. Und Jesus Christus hat geheilt, nicht getötet. Deswegen kann es nicht so sein, dass diejenigen recht haben, die Kausalverbindungen zwischen dem Handeln Gottes und der Corona-Pandemie herstellen. Der, der am Kreuz schreit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“, ist präsent, der ist da in der Corona-Krise. Wir müssen Abschied nehmen von einem Bild von Gott als einem, der alles unter Kontrolle hat. Dietrich Bonhoeffer hat es ja schon damals mit herausfordernden Worten beschrieben: Nur der leidende Gott kann helfen. Das ist eine Spitzenaussage. Die Vorstellung, dass Gott uns an Marionettenbändern führt oder wie ein deus ex machina hier dazwischengeht, das ist ein Gottesbild, das wir überwinden müssen.

Ist das eine Absage an die Allmacht Gottes?

HEINRICH BEDFORD-STROHM: Die Allmacht und die Ohnmacht hängen eng zusammen. Die Schöpfung ist unvollendet. Sie seufzt, wie Paulus sagt. In Römer 8, 21 heißt es: „Denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes.“ Das heißt, es gibt Dinge, die widersprechen dem erklärten Willen Gottes, so wie wir ihn in Jesus Christus vor uns haben. Mein Gottesbild ist ganz stark von Jesus Christus geprägt. Danach kann es nicht so sein, dass Gott, weil er meint, die Menschen mit etwas richtig Schlimmen prüfen zu müssen, auf den Tsunamiknopf drückt oder das Coronavirus in die Welt hinein schleudert. Gott wirkt mit seiner schöpferischen kreativen Energie und mit seiner Liebe aber auch gegen die Widerstände, gegen das Chaos. Sein Schöpferhandeln ist ein Handeln zur Überwindung des Chaos. Von Anfang an. Und dieses Chaos ist noch nicht überwunden. Das ist etwas, was aussteht, was wir zukünftig erwarten und erhoffen dürfen und wovon ich auch überzeugt bin: Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, es wird kein Leid mehr sein, kein Schmerz, kein Geschrei mehr sein. Das ist meine Hoffnung, darauf lebe ich hin. Und das gilt auch für die Vollendung der Schöpfung.

Löwe hat mit Begriffen wie Allkausalität gearbeitet. Das ist Ihnen zu mechanistisch?

HEINRICH BEDFORD-STROHM: Das ist der deus ex machina, den Bonhoeffer mit guten Gründen abgelehnt hat. Bei diesem Gottesbild ist die entscheidende Frage: Wenn Gott alles ändern kann, wenn Gott durch eine Intervention das Leid beenden kann, warum tut er es nicht? Ist er doch nicht der liebe Gott? Dann kommt diese Vorstellung vom deus absconditus ins Spiel, dem verborgenen Gott. Damit steht aber die Frage im Raum: Hat Gott sich nicht in Jesus Christus gezeigt? Oder ist Jesus Christus ein anderer als wir glauben? Ist Jesus Christus einer, der dann, wenn es darauf ankommt, Menschen verdammt und sie tötet? Ich kann diesen Jesus Christus in den biblischen Texten nicht finden. Ich finde da einen Menschen, der radikale Liebe ausgestrahlt hat und der Leid überwinden wollte, der Menschen geheilt hat.

Der aber auch zornig wurde …

HEINRICH BEDFORD-STROHM: … wenn Menschen das Reich Gottes sabotiert haben. Das war aber ein heiliger Zorn, ein Zorn, der aus radikaler Liebe kommt. Ein ganz anderer Zorn als ein Zorn eines Gottes, der seine Autorität missachtet sieht und deswegen die Menschen zurechtweist. Das ist nicht der Gott, der mir in Jesus Christus vor Augen tritt. Denn das ist ein liebender, ein leidender und eben auch ohnmächtiger Gott, der aber durch diese Kraft, die durch das Leiden am Kreuz freigeworden ist, Milliarden Menschen so berührt hat, dass sie die Welt verändern. Das ist eine Kraft, die aus der Ohnmacht gekommen ist und nicht aus der Größe der militärischen Heere.

Und welche Rolle spielt dabei der Heilige Geist?

HEINRICH BEDFORD-STROHM: Das ist der kreative Geist, der aus dem Nichts etwas Neues schafft. Da kann etwas kommen, was man nicht auf Kausalketten zurückführen kann. Das wird in der Physik mit den Wort Emergenz zum Ausdruck gebracht, ein ganz spannendes Wort, das für unsere Kirchenreform von zentraler Bedeutung ist, weil genau das die Hoffnung ist: Dass da etwas ganz Neues entstehen kann, was du so nicht erwartet hast, wenn du den Heiligen Geist wirken lässt.

Diese Reform scheint dringend notwendig. Im Sommer wurde die neue Kirchenstatistik veröffentlicht. Die evangelische Kirche hat nur noch gut zwanzig Millionen Mitglieder und der negative Trend scheint sich zu verschärfen. Die Freiburger Studie geht davon aus, dass sich in dreißig Jahren die Zahl der Mitglieder in der evangelischen Kirche um die Hälfte reduziert. Wie wollen Sie da gegensteuern?"
 

 Position beziehen, auch wenn sich Leute  ausgeschlossen fühlen.

 

HEINRICH BEDFORD-STROHM: Es gibt drei Aspekte dieser Entwicklung, die in der Freiburger Studie beschrieben wird. Der erste ist schlicht demografisch. Die zukünftig zu erwartenden evangelischen Sterbefälle überwiegen bei weitem die Zahl der evangelischen Zuwanderer aus dem Ausland und die Zahl der Kinder, die von evangelischen Müttern zur Welt gebracht werden. Das macht etwa die Hälfte des Rückgangs aus. Das kannst du nicht beeinflussen, wir werden weniger werden.

Bleiben die kirchenspezifischen Faktoren, die der Studie zufolge für etwas mehr als die Hälfte des Mitgliederrückgangs verantwortlich sind.

HEINRICH BEDFORD-STROHM: Auch hier gibt es einen großen Bereich, der nur sehr bedingt bis gar nicht zu beeinflussen ist, nämlich die gesellschaftlichen Megatrends. Deren Kern ist das, was die Soziologen als Individualisierung bezeichnen. Das heißt, dass Menschen in den 1950er- und 1960er-Jahren in bestimmten Konventionen lebten, die nicht hinterfragt wurden. Zum Teil war es auch Zwang, der dazu führte, dass man unter anderem Mitglied der Kirche ist, obwohl man theoretisch austreten konnte. Aber dann drohten soziale Sanktionen. Dahin will ich nicht zurück. Ich möchte, dass die Menschen aus Freiheit Mitglied unserer Kirche sind. Und dass das weniger sind als früher, überrascht mich nicht. Aber ist nicht die Tatsache, dass in einer Zeit, in der Institutionen ein ganz schlechtes Image haben, immer noch die Hälfte der Deutschen aus Freiheit Mitglied der Institution Kirche sind, eigentlich sensationell? Und wenn im Jahre 2060 wirklich zwanzig Millionen Menschen Mitglied der beiden großen Kirchen sind, ist auch das eine starke Zahl.

Jetzt reden Sie uns mit Begeisterung klein …

HEINRICH BEDFORD-STROHM: Nein, ich verweise nur darauf, dass eine Institution mit zwanzig Millionen Mitgliedern in einer sich weiter individualisierenden Gesellschaft keine Marginalie ist. Es wird dann allerdings noch stärker als bisher auf unsere Ausstrahlungskraft ankommen und darauf, dass wir unseren Glauben authentisch leben. Das wird wichtiger sein als Mitgliederzahlen. Aber selbstverständlich tut jeder Austritt weh. Und selbstverständlich müssen wir jedem Austritt nachgehen und fragen, was können wir tun, damit dieser Mensch die große Kraft dieser wunderbaren Botschaft auch wirklich im Herzen spüren kann.

Ich möchte Ihnen einen Absatz aus einem Leserbrief vorlesen, der uns erreichte: „Seit 1990 sind rund ein Drittel der Mitglieder aus der evangelischen Kirche ausgetreten. Viele von ihnen glauben bestimmt noch, sehen aber in der Institution Kirche keine geistige Heimat. Gesichtslose, weichgespülte Ratsvorsitzende, Pastorinnen auf den Kanzeln, Schwulenehe, Motorradgottesdienste, Discos in den Kirchen, geholfen hat es nichts.“ Der klassische konservative Einspruch. Was sagen Sie dazu?

HEINRICH BEDFORD-STROHM: Ich höre den Auftrag an unsere Kirche, Profil zu zeigen. Und das tun wir immer wieder, etwa mit der Seenotrettungsaktion und dem Schiff, das wir im Mittelmeer unterstützen. Der Herr, der Ihnen geschrieben hat, findet das wahrscheinlich ganz grauenhaft. Ich bekomme auch solche Briefe und am selben Tag auch die, die fordern, dass Kirche endlich mal wieder deutlich politischer agieren soll. Es werden extrem unterschiedliche Erwartungen an uns gestellt. Das ist Teil der Individualisierung. Man ist nicht mehr Mitglied der Kirche, weil man der Konvention folgt, sondern man erwartet, dass die Kirche dem eigenen Lebensgefühl Ausdruck gibt. Und wenn sie das nicht tut, tritt man möglicherweise auch aus. Auch das werden wir nicht ändern. Aber wir müssen Profil zeigen.

Wie macht man das?

HEINRICH BEDFORD-STROHM: Indem man aus tiefster innerer Überzeugung redet und die Leute es auch merken. Und das bedeutet, dass Repräsentanten der Kirchen ihr öffentliches Reden und Handeln nicht an der zu erwartenden Zustimmung in dem einen oder anderen Lager ausrichten. Sondern sie müssen das aus innerer Überzeugung tun.

Die inneren Überzeugungen können aber auch unterschiedlich sein.

HEINRICH BEDFORD-STROHM: Natürlich, aber Du kannst nicht als Kirchenrepräsentant die Unterschiedlichkeit in Deinem eigenen Leben vorwegnehmen. Du musst Position beziehen. Und Du musst gleichzeitig ausstrahlen, dass Du respektierst, wenn jemand anderes in Deiner Kirche zu einer anderen Meinung kommt. Doch die Konsequenz kann nicht sein, dass Du nur moderierst, das geht nicht. Das würde dann der Leserbriefschreiber zu Recht attackieren, wenn es so wäre. Ich muss im Dialog sein. Allerdings muss man auch ein klares Wort sagen, etwa gegenüber bestimmten Stimmen, die in Richtung Rechtsextremismus gehen, wo eindeutig die Grundorientierung des Christentums konterkariert werden. Da muss man Position beziehen, auch wenn sich Leute möglicherweise ausgeschlossen fühlen.

Zur Profilbildung sollen ja auch die „Elf Leitsätze für eine aufgeschlossene Kirche“ beitragen, die vor einigen Wochen von der EKD veröffentlicht wurden. Darin steht zu Beginn, dass die Krise der Akzeptanz von Kirche und ihrer Botschaft einhergehe mit einer tieferliegenden Glaubenskrise. Welche geistlichen Botschaften können dabei helfen, diese Glaubenskrise zu überwinden?

HEINRICH BEDFORD-STROHM: Dass wir insbesondere junge Menschen mit der Botschaft des christlichen Glaubens immer schlechter erreichen, das liegt auf der Hand. Meine größte Sorge ist, dass junge Menschen den Kontakt zu dieser Botschaft verlieren und nach dem Konfirmandenunterricht dann eben auch den Kontakt zur Kirche. Da haben wir ein Problem.

Wie soll die Kirche darauf reagieren?

HEINRICH BEDFORD-STROHM: Deutlich machen, dass Leben aus Glauben, Liebe, Hoffnung etwas wirklich Tragendes ist. Wenn man die biblischen Botschaften mit denen der modernen Glücksforschung vergleicht, entdeckt man eine erstaunliche Korrelation. Die Themen der modernen Glücksforschung zeigen ja eine erstaunliche Nähe zu den biblischen Inhalten. „Lernen Sie, dankbar zu leben“, lautet einer der Ratschläge. Dankesgebete sind natürlich wesentlicher Teil unserer Gebetstradition. „Lernen Sie zu vergeben“, lautet ein zweiter Ratschlag. Und wir denken sofort an das Vaterunser: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Dann empfehlen die Glücksforscher: „Leben Sie im Hier und Jetzt, anstatt sich immer Sorgen über die Zukunft zu machen.“ Die Bibel sagt: „Sehet die Vögel am Himmel, sie säen nicht, sie ernten nicht und ihr himmlischer Vater ernährt sie doch. Darum sorget nicht.“ Wieder Volltreffer. „Achten Sie auf Ihre sozialen Beziehungen.“ Und wir denken an das biblische Liebesgebot: „Du sollst den Herrn deinen Gott lieben von ganzem Herzen und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Und am Ende empfehlen die Glücksforscher sogar auch die Offenheit für Spiritualität ... Der Glaube bedient nicht einfach die moderne Suche nach dem Glück. Aber er hat Entscheidendes zu einer tragfähigen Antwort auf diese Suche beizutragen.

Mit anderen Worten, die Kirche hat eine starke Botschaft, aber es gelingt ihr nicht, sie in die unterschiedlichen Lebenswelten, die sich eben jetzt ausdifferenziert haben, hineinzubringen?

HEINRICH BEDFORD-STROHM: Zumindest nicht in dem wünschenswerten Maße, und deswegen sind die „Elf Leitsätze“ wichtig, weil sie eine veränderte Perspektive einfordern. Wir dürfen nicht ausgehen von unseren bisherigen Gemeinden, von unserem bisherigen Kirchenleben, wir müssen viel radikaler als bisher hinhören und fragen, was in der Gesellschaft gebraucht wird. Was ist im Leben von jungen Leuten eigentlich relevant? Und warum gelingt es uns nicht, sie mit unserer Botschaft zu erreichen? An der Aussagekraft der biblischen Inhalte liegt es ganz bestimmt nicht!

 

Danach fragen, was die Menschen brauchen und ersehnen

 

Weil eben immer von der Botschaft ausgegangen wird und nicht vom Empfänger.

HEINRICH BEDFORD-STROHM: Genau. Wir dürfen nicht mehr die Frage stellen, wie wir als Institution, so wie wir sind, die Menschen erreichen. Wir müssen vielmehr sozialraumorientiert danach fragen, was die Menschen brauchen und ersehnen und welche Institution Kirche es dazu braucht, um die gute Botschaft des Evangeliums da hineinzusprechen. Wenn man diese Frage so radikal stellt, dann ist alles auf dem Prüfstand. Dann gibt es keine Dinge mehr, die nicht antastbar sind. Jeder und jede muss sich rechtfertigen, ob das, was er oder sie an der Stelle tut, diese Funktion erfüllt oder ob das aus einer Zeit kommt, die ganz andere Herausforderungen hatte. Wir neigen dazu, Dinge fortzuführen, die ihre Zeit eigentlich schon gehabt hatten, und fügen dann neue Dinge hinzu. Das geht nicht mehr, auch deshalb nicht, weil wir das Geld dazu nicht mehr haben. Wir müssen jetzt das Neue machen.

Auf dem Prüfstand stehen auch parochiale Strukturen, die ihre dominierende Stellung als Organisationsprinzip verlieren sollen. Das wurde in der Diskussion um das Papier sofort heftig kritisiert, weil doch eigentlich der Ortspfarrer und die Ortsgemeinde zentrale Anlaufstellen sind für die allermeisten Menschen, wenn sie Kirche suchen. Das hat ja auch die jüngste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung gezeigt.

HEINRICH BEDFORD-STROHM: Es geht nicht um die Aufgabe der Parochie. Nicht nur Menschen wie ich, die geprägt sind von der Erfahrung des Gemeindepfarramts, sehen natürlich genau, welche Bedeutung ein weit verzweigtes Netz aus ortsnahen Gemeinschaften besitzt, in denen jeder weiß, dass da jemand ist, an den man sich wenden kann. Da gibt es auch ein Gebäude mit hohem Identifikationswert für die community insgesamt. Das steht aus meiner Sicht überhaupt nicht in Frage. Aber dennoch müssen auch die parochialen Strukturen auf den Prüfstand. Das gilt übrigens genauso für die übergemeindlichen Dienste. Sie alle müssen sich vernetzen, noch viel mehr, als sie es jetzt schon tun. Wir müssen an diesem Punkt viel mehr Dynamik entwickeln und endlich damit aufhören, in zwei oder mehr benachbarten Parochien etwas parallel zu machen, was man auch gut gemeinsam machen könnte. Die neuen digitalen Medien geben uns so viele Möglichkeiten dazu. Ein Beispiel: Du gibst in eine App ein, was Du für ein kirchliches Angebot in deinem Leben suchst, etwa einen Gesprächskreis von 20- bis 30-Jährigen. Das gibst Du ein und dann sagt Dir die App, wo in der Region eine solche Gesprächsgruppe existiert. Das verhindert Erfahrungen, wie sie mir kürzlich eine Studentin erzählt hat. Sie wollte sich als Neuzugezogene in der Gemeinde engagieren. Vom Gemeindepfarrer wurde ihr dann eine Frauengruppe empfohlen, deren Mitglieder alle über sechzig waren. Die digitalen Vernetzungsmöglichkeiten können auch die Pfarrerinnen und Pfarrer entlasten im Hinblick auf die Häufigkeit der Predigt und Ähnliches. Das schafft mehr Raum, mehr Zeit für die Seelsorge. Wo es gelingt, viele unterschiedliche Menschen mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen an die Parochie zu binden, ist das wunderbar. Aber in vielen Fällen gelingt es leider auch nicht. Und dann muss man nachdenken, wie man quer zu den Parochiestrukturen Orte finden kann, an denen diese Menschen ihre Fragen aufgehoben finden. Darum geht es in dem Satz.

Dennoch fühlen sich viele durch die „Elf Leitsätze“ an das Impulspapier „Kirche der Freiheit“ aus dem Jahr 2006 erinnert, das eine Kirchenreform von oben, also aus der EKD heraus, anstrebte. Viele Pfarrer und Pfarrerinnen in den Gemeinden haben sich damals wenig wertgeschätzt gefühlt.

HEINRICH BEDFORD-STROHM: Die Leitsätze entstanden praktisch induktiv, nicht in einer im Kirchenamt zusammengestellten Arbeitsgruppe, sondern im Z-Team, das in Folge der Auswertung des Reformationsjubiläums entstand. Darin sitzen jeweils vier Mitglieder der Kirchenkonferenz, der Synode und des Rates. Wir haben dann noch drei junge Leute dazu geholt, die tolle Impulse in die Gruppe gegeben haben. Das hat dem Papier sehr gutgetan. Ein weiterer Unterschied zu „Kirche der Freiheit“: Das Papier ist kein fertiger Entwurf, es soll diskutiert werden, in den synodalen Gremien und darüber hinaus. Wir haben schon wertvolle Impulse bekommen, die ich jedenfalls gerne aufnehmen möchte, zum Beispiel die Bedeutung der Diakonie noch deutlicher zu machen, auch die der Seelsorge. Die Diskussion hat schon jetzt etwas gebracht, obwohl sie gerade erst begonnen hat. Und am Ende der Diskussion soll dann aus dem Papier eine Grundlage werden, an der man sich orientieren kann. Das Entscheidende aber wird die Umsetzung der Impulse sein.

 

Das Gespräch führten Stephan Kosch und Reinhard Mawick am 23. Juli in Hannover.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.
Foto: Rolf Zöllner

Stephan Kosch

Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen". 


Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Kirche"