Covid-19 und Gott

Die Seuche stellt erneut die Frage: Wie allmächtig und gut ist Gott?
Hugo Bürkner (1818 – 1897): Paul Gerhardt (1607 – 1676) Porträt, 1854.
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Hugo Bürkner (1818 – 1897): Paul Gerhardt (1607 – 1676) Porträt, 1854.

Etwas moralisch Anstößiges hat für heutige Menschen die Vorstellung eines strafenden Gottes – oder dass gerade die Corona-Seuche eine göttliche Strafe sein könnte. Denn an einen solchen Gott möchte niemand glauben. Aber hat das Leid dann gar nichts mit Gott zu tun? Ein geistliches Lied des Barockdichters Paul Gerhardt nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges birgt eine Theologie, von der wir in dieser Frage auch heute noch viel lernen können, meint Johannes Fischer, Professor em. für Theologische Ethik in Zürich.

Hat Covid-19 etwas mit Gott zu tun? Und wenn ja: Was? Darauf eine überzeugende Antwort zu geben, scheint gegenwärtig eine der dringlichsten Aufgaben der Theologie zu sein. So fehlt es denn auch nicht an theologischen Deutungsangeboten.

Dabei gibt es erhebliche Unterschiede. Grob lassen sich zwei Richtungen unterscheiden. Auf der einen Seite sind diejenigen zu finden, die zu wissen glauben, dass keinesfalls Gott der Ursprung des Coronavirus ist. Dieses ist vielmehr ohne Gott entstanden. Schon gar nicht ist es eine Strafe Gottes. Mag auch Luther gelegentlich von der Pest als Strafe Gottes gesprochen haben, so war er doch darin nur ein Kind seiner Zeit. Der naheliegende Einwand, dass Gott aufgrund seiner Allmacht das Coronavirus hätte verhindern können und dass er also doch etwas mit seiner Entstehung zu tun hat, insofern er diese zugelassen hat, führt bei manchen Autoren zu der Erwägung, ob nicht angesichts von Covid-19 und seiner verheerenden Auswirkungen der Gedanke an Gottes Allmacht überhaupt verabschiedet werden muss.

Angeregt ist dies durch Überlegungen, die der jüdische Philosoph Hans Jonas zum „Gottesbegriff nach Auschwitz“ vorgetragen hat. Statt mit seiner Allmacht die Geschicke der Welt zu lenken, ist Gott seinen Geschöpfen darin nahe, dass er in und mit ihnen leidet. Dafür steht die Passion Jesu Christi. Was aber das Schicksal der Welt betrifft, so hat Gott keine anderen Hände als unsere Hände (Dorothee Sölle).

Auf der anderen Seite sind diejenigen zu finden, die zu wissen glauben, dass auch in Anbetracht von Covid-19 am Gedanken der Allmacht Gottes festgehalten werden muss. Ist es für den christlichen Glauben nicht essenziell, mit dem Wirken Gottes in der Welt und in der Geschichte zu rechnen, in Lob und Dank, Bitte und Fürbitte? Welchen Sinn hat die Fürbitte für Menschen, die an Covid-19 erkrankt sind, wenn Gott gar nicht in den Weltzusammenhang eingreifen und helfen kann? Wenn Gott aber allmächtig ist, dann muss er die Entstehung des Coronavirus zumindest zugelassen haben und trägt daher eine Mitverantwortung.

Was aber die Theodizeefrage betrifft, also die Frage, wie das Übel der Welt mit Gottes Allmacht und Liebe vereinbar ist, so ist es keineswegs zwingend, mit Hans Jonas den Gedanken der Allmacht Gottes verabschieden zu müssen. Wie Jonas selbst ausgeführt hat, gibt es die Alternative, anstelle der Allmacht Gottes die Verstehbarkeit Gottes einzuklammern. So erlangt für manche Autoren Luthers Lehre vom „deus absconditus“, vom verborgenen Gott, neue Aktualität in Corona-Zeiten.

Ein anderer Gottesbegriff

Es geht in dieser Auseinandersetzung um die Deutung von Covid-19 im Lichte des christlichen Gottesgedankens. Einerseits ist da die Tatsache von Covid-19 mitsamt dem Leiden, das dadurch verursacht wird, und andererseits ist da der Gottesbegriff der theologischen Tradition. Die theologische Herausforderung und Aufgabe besteht darin, einen logisch
konsistenten gedanklichen Zusammenhang zwischen beidem herzustellen, sei es, dass sich dabei herausstellt, dass Gott nichts mit Covid-19 zu tun hat, sei es, dass das Gegenteil der Fall ist.

Das kann, wie gesagt, zur Modifikation des Gottesbegriffs in Gestalt der Eliminierung des Allmachts-Prädikats führen, um ihn vereinbar zu machen mit der Tatsache des Leidens, das durch Covid-19 verursacht wird. Doch sind es offensichtlich nicht nur Vereinbarkeit und logische Konsistenz, die bei der Favorisierung eines bestimmten Gottesverständnisses bestimmend sind. Wäre doch auch der Gedanke eines strafenden Gottes mit Covid-19 problemlos vereinbar, und er ist ja auch biblisch gut belegt. So spielt er eine wichtige Rolle in der alttestamentlichen Prophetie, die es Israel ermöglichte, trotz der Katastrophen, die über es hereinbrachen, an Gott festzuhalten. Die Überzeugung, dass Covid-19 keine Strafe Gottes ist und dass Luther und andere, die weltliche Übel als Strafe Gottes begriffen, darin lediglich Kinder ihrer Zeit waren, hat ihren offenkundigen Grund darin, dass für heutige Menschen der Vorstellung eines strafenden Gottes etwas moralisch Anstößiges anhaftet. An einen solchen Gott möchte niemand glauben. Daher muss Covid-19 von dieser Vorstellung freigehalten werden.

Ganz menschengemacht

Spätestens an dieser Stelle rückt die tiefe Problematik derartiger Deutungen ins Blickfeld: Sie sind durch und durch menschengemacht. Es handelt sich um gedankliche Konstruktionen, die Menschen sich zurechtlegen, und darin gehen Entscheidungen ein, die sie treffen, etwa wenn sie Gottes Verstehbarkeit den Vorzug vor Gottes Allmacht geben und umgekehrt, oder wenn sie den Gedanken eines strafenden Gottes für nicht mehr zeitgemäß erachten. Daher kann hier alles genauso gut auch anders konstruiert werden, wenn man nur die grundlegenden Entscheidungen anders trifft.

Was aber unterscheidet dann solche Konstruktionen von bloßen Kopfgeburten und Gedankenspielereien? Woher nimmt man die Gewissheit, dass ihnen irgendetwas in der Wirklichkeit entspricht? Die Auffassung, dass es Aufgabe der Theologie ist, derartige Deutungen zu entwickeln, ist heute weit verbreitet, und man trifft sie nicht nur in Bezug auf Covid-19 an. So wird der Staat Israel theologisch als Zeichen der Treue Gottes gedeutet. Oder man deutet den Klimawandel als etwas, das Gott aufgrund seiner Allmacht vorherbestimmt haben muss. Aus einem bloßen Gedanken, nämlich dem der Allmacht Gottes, wird hier ein anderer Gedanke, nämlich der des Vorherbestimmtseins des Klimawandels, abgeleitet. Das mag logisch zwingend sein und das Bedürfnis nach gedanklicher Konsistenz befriedigen – doch was verbürgt, dass diesen Gedanken irgendetwas in der Wirklichkeit entspricht?

Dem Glauben nach-denken

Die christliche Theologie ist damit auf den Plan getreten, dass der christliche Glaube in philosophische Begrifflichkeit übersetzt und mit den Mitteln philosophischen Denkens interpretiert wurde. In seinem Spätwerk „Auch eine Geschichte der Philosophie“ hat Jürgen Habermas diesen Prozess nachgezeichnet. Wie muss Gott und wie müssen Mensch und Welt in ihrer Beziehung zu Gott begrifflich gedacht werden? Das ist die Frage, die zu beantworten sich die Theologie zur Aufgabe gemacht hat. Dass es dabei nicht nur um gedankliche Konstruktionen ging, sondern um Gottes Wirklichkeit, war dabei auf zweierlei Weise verbürgt. Einerseits war es durch die Gotteserfahrung des gelebten Glaubens verbürgt, wie sie in den biblischen Schriften und christlichen Glaubenszeugnissen überliefert ist und in jeder Gegenwart neu von Menschen gemacht wurde.

Diesen Glauben galt es begrifflich zu durchdenken. Durch ihn war vorgegeben, was es theologisch zu verstehen galt. Deshalb konnte es theologisch nicht darum gehen, diesen Glauben durch gedankliche Konstruktionen zu korrigieren oder gar zu ersetzen. Denn dass das begriffliche Denken der Theologie mit der Wirklichkeit zu tun hatte, war ja gerade durch ihn verbürgt. Es konnte nur darum gehen, dem Glauben nach-zu-denken. Andererseits war der Realitätsbezug des theologischen Gottesbegriffs auf der Ebene des Denkens selbst verbürgt, nämlich durch die Gottesbeweise. Sie zielten auf den Nachweis, dass das Denken durch sich selbst genötigt ist und daher gar nicht anders kann, als Gottes Existenz und sein Walten in der Welt anzunehmen.

Die Gottesbeweise sind durch die Metaphysikkritik der Aufklärung hinweggefegt worden. Viel entscheidender jedoch für die Situation der heutigen Theologie ist die Erosion des gelebten Glaubens, die zur Folge hat, dass der Theologie auch dieser Pfeiler ihres Realitätsbezugs wegbricht. Von der Synthese aus gelebtem Glauben und begrifflichem Denken, als die die Theologie einmal auf den Plan getreten ist, bleibt dann nur noch Letzteres zurück. Damit erst kommt es zu jener Art von theologischen Deutungen, von denen die Rede war, das heißt zur Konstruktion von gedanklichen Zusammenhängen, deren Realitätsbezug durch nichts mehr verbürgt ist und die an die Stelle biblischer Vorstellungen gesetzt werden, wie dies mit dem Gedanken eines nurmehr ohnmächtigen Gottes oder mit der Verabschiedung des Gedankens eines strafenden Gottes geschieht.

Die Theologie der Vergangenheit hat nicht gedeutet, das heißt Zusammenhänge zuallererst gedanklich konstruiert, sondern sie hat Zusammenhänge, die ihr durch den christlichen Glauben vorgegeben waren, begrifflich zu durchdenken und zu verstehen versucht. Mit der Emanzipation von dieser Vorgabe setzt die Beliebigkeit des theologischen Denkens ein. Anything goes. Nicht zuletzt geht es darum, den Gottesbegriff dem Geschmack der Zeit anzupassen und ihn von allem Anstößigen zu reinigen. Doch was wäre die Alternative? Vielleicht liegt sie in der Besinnung darauf, was es denn war, das Menschen zu einem Verständnis Gottes veranlasst hat, das vielen heute als moralisch anstößig gilt.

Am Ende des Dreißigjährigen Krieges dichtete Paul Gerhardt ein Danklied für die Proklamation des Westfälischen Friedens: „Gott Lob! Nun ist erschollen das edle Fried- und Freudenwort, dass nunmehr ruhen sollen die Spieß und Schwerter und ihr Mord. Wohlauf und nimm nun wieder dein Saitenspiel hervor, o Deutschland, und sing Lieder im hohen vollen Chor. Erhebe Dein Gemüte zu deinem Gott und sprich: Herr, deine Gnad und Güte bleibt dennoch ewiglich.“ Die zweite Strophe lautet: „Wir haben nichts verdienet, als schwere Straf und großen Zorn, weil stets noch bei uns grünet, der freche, schnöde Sündendorn. Wir sind fürwahr geschlagen, mit harter, scharfer Rut, und dennoch muss man fragen: Wer ist, der Buße tut? Wir sind und bleiben böse, Gott ist und bleibet treu, hilft, dass sich bei uns löse der Krieg und sein Geschrei.“ In einer weiteren Strophe ist „vom Grimm und scharfen Dringen“ Gottes die Rede, von dem dieser nun ablassen will, um die Menschen „mit Lieb und Gutestun“ zur Umkehr zu bewegen. Strafe, Zorn, Schlagen, noch dazu mit scharfer Rut, Grimm, scharfes Dringen: Was für ein Gottesbild hatte Paul Gerhardt? War auch er mit alledem nur ein Kind seiner Zeit?

Was an diesem Lied unmittelbar ins Auge fällt: Es geht nicht um eine theologische Deutung des Dreißigjährigen Kriegs, das heißt um die Herstellung eines gedanklichen Zusammenhangs zwischen der Tatsache dieses Kriegs mit all seinem Leid und einem Gottesbegriff, dem zufolge Gott zu Zorn und Strafe fähig ist. Das Wort „Gott“ steht hier überhaupt nicht für einen Gottesbegriff, sondern wie überall in Paul Gerhardts Liedern für den, dessen Gegenwart Menschen in ihrem Leben und in der Welt erfahren. Eindrücklich in Sprache gefasst ist diese Erfahrung in Paul Gerhardts bekanntem Lied „Geh aus mein Herz und suche Freud“, das Strophe für Strophe besingt, was in den Ereignissen und Abläufen der Natur vor Augen ist, um darin die Gegenwart von Gottes „großem Tun“ und „großer Güte“ vor Augen zu stellen. Es ist diese im Glauben erfahrene Präsenz von Gottes Tun in dem, was in der Welt geschieht, welche im begrifflichen Denken der Theologie in den Begriff der Allmacht Gottes transformiert wird. Mit diesem Begriff wird Gottes Fähigkeit bezeichnet, Tatsachen schaffen zu können, seien es Tatsachen in der Welt oder sei es die Tatsache der Welt als solcher. Auf diesem Allmachtsbegriff beruht die Theodizeefrage in ihrer theologischen und philosophischen Fassung, also die Frage, wie die Tatsache des Übels in der Welt mit den Tatsachen von Gottes Allmacht und von Gottes Liebe vereinbar ist.

Logische Konsistenz

Man kann im Denken die Entscheidung treffen, aus Gründen logischer Konsistenz den Gedanken der Allmacht Gottes zu verabschieden. Ebenso kann man im Denken die Entscheidung treffen, aus Gründen intellektueller Redlichkeit überhaupt den Gedanken der Existenz Gottes aufzugeben. Aber kann jemand, für den Gott und sein Tun in allem, was geschieht, verborgen gegenwärtig sind, per Entscheidung dekretieren, dass Gott nicht mehr gegenwärtig ist, zum Beispiel weil dem Betreffenden wie einst Hiob Schrecklichstes widerfährt? Ersichtlich kann er das nicht. Zwar kann er wie der Tora-Lehrer Mendel Singer in Joseph Roths Roman Hiob seinen Gebetsriemen an den Nagel hängen. Aber er wird Gott nicht los.

Und darum kommt er auch nicht von der Frage los, was ihm in dem, was er erleidet, von Gott her entgegenschlägt, das heißt wie Gott darin gegenwärtig ist. Wenn Paul Gerhardt von Gottes Zorn, Schlagen, Grimm, scharfem Dringen oder Strafe spricht, dann sind das sprachliche Artikulationen dessen, wie Menschen damals im Erleiden der Schrecken des Krieges Gott erfahren haben, das heißt, wie er für sie in alledem und trotz alledem gegenwärtig war.

Als Paul Gerhardt das Lied dichtete, war diese Erfahrung in den „zerstörten Schlössern“, „Städten voller Schutt“ und in verwüsteten und zu Wäldern gewordenen ehemaligen Feldern noch jedermann vor Augen.

Theologische Deutungen sind, wie gesagt, austauschbar, ebenso wie Gottesbilder, Gottesgedanken oder Gottesbegriffe. Über all das kann man räsonieren, ohne selbst existenziell involviert zu sein. Doch gilt das nicht für den, auf den sich in Paul Gerhardts Lied das Wort „Gott“ bezieht. Die Rede von ihm ist gesättigt mit existenziellen Erfahrungen, die Menschen gemacht haben und machen. Dementsprechend ist auch das Nachdenken über ihn alles andere als bloß gedankliche Konstruktion, sondern ein Nachdenken über seine Präsenz in den Dingen, im eigenen Leben und in der Welt. Davon zeugen Paul Gerhardts Lieder. In solchem Nachdenken geht es nicht um Urteile mit Allgemeingültigkeitsanspruch für jedermann. Vielmehr können Menschen je nach Situation und Lebensumständen Gottes Gegenwart sehr unterschiedlich erfahren. Daher ist auch Paul Gerhardts Lied von 1648 nicht jeder Zeit gleichermaßen nah. 1945 hat es für viele evangelische Christinnen und Christen ihre Zeit in Sprache gefasst. Heute fehlt es in den Gesangbüchern vieler Landeskirchen.

Was aber die theologische Debatte über Covid-19 betrifft, so sollte mit dem Gesagten deutlich geworden sein, dass die Frage, ob und was Covid-19 mit Gott zu tun hat, in die Irre führt. Worum es eigentlich geht, ist die Frage, ob Menschen sich dazu verstehen können, in dem, was ihnen im Guten und Schlechten widerfährt, mit Gottes verborgener Gegenwart zu rechnen. Das aber ist keine Frage an die Theologie, sondern eine Frage nicht zuletzt an uns selbst.

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Johannes Fischer

Johannes Fischer (Jahrgang 1947) war von 1993 bis 1997 Professor für Systematische Theologie in Basel und von 1998 bis zu seiner Emeritierung 2012 Professor für theologische Ethik an der Universität Zürich und Leiter des dortigen Instituts für Sozialethik.


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