Körper, Leib und Seele
Die Fragen nach einer leiblichen Auferstehung oder der Unsterblichkeit der Seele gehören bekanntlich zum Markenkern christlicher Theologie, innerhalb meiner liberalen Tradition sind es häufig verwahrloste Fragen, die in einem symbolischen Wortgestöber und einem deutungstheoretischen Verdunstungsspiel, das künstlichen undurchdringlichen Nebel erzeugt, ein Schattendasein fristen. Fahren auf Sicht? Unmöglich. Ich vermute: Hier regiert die Scham über den Mut zur Klarheit. Wenn überhaupt, dann liegen die Ganztodtheoretiker im Protestantismus deutlich vorn (meistens eher aus dem konservativen Lager), nur sehr vereinzelt Anhänger einer Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, die stets mit zwei Lastsäcken kämpfen müssen, als katholisierend wahrgenommen zu werden (erste Schulter), einen Dualismus zu bedienen, der, wie jeder exegetisch gebildete Protestant weiß, viele biblische Texte gegen sich hat (zweite Schulter).
Zunächst: Die falsche Scham lässt sich kurieren, denn ein Autor von Rang hat eine philosophische Eschatologie vorgelegt und zwei Möglichkeiten, die, zumindest auf den ersten Blick, schwerlich zusammengehen, durchgespielt und die er dennoch beide für denkmöglich hält: die Auferstehung der Toten und die Unsterblichkeit des Leibes. Beide Antwortversuche sind selbstredend voraussetzungsvoll, stehen nämlich am Ende des beinahe 10.000 Seiten umfassenden Systems der Philosophie von Hermann Schmitz. Die eine Möglichkeit zieht die Konsequenz aus seiner Zeitphilosophie, die andere aus seiner Raum- und Leibphilosophie.
Ich werde in meiner Theologie, die ich statt Glaubenslehre Lebenslehre nenne, für die Unsterblichkeit des Leibes votieren. Das hört sich zunächst arg verwirrend an, weil wir gedanklich sofort semantisch statt Leib Körper substituieren. Das ist aber nicht gemeint. Für Hermann Schmitz ist der Leib nicht mit dem Körper identisch. Um den Leib vom eindeutig abgrenzbaren Körper zu unterscheiden, spricht Schmitz von Leibesinseln. Um diese Pointe zu verstehen, fordert Schmitz zu einem Experiment auf: „Versuche man aber nur einmal, an sich so stetig ‚hinunterzuspüren‘, wie man an sich hinuntersehen und hinuntertasten kann, aber ohne sich auf Augen und Hände oder die durch früheres Besehen und Betasten erworbenen Vorstellungsbilder zu verlassen! Man wird gleich merken, daß es nicht geht. Statt stetigem Zusammenhangs begegnet dem Spürenden ein Gewoge verschwommener Inseln in größerer oder geringerer Zahl, dünnerer oder dichterer Verteilung. Sie befinden sich in beständiger, gewöhnlich fast unbemerkter Wandlung, ermangeln des scharfen Umrisses und der beharrlichen Lagerung. Man kann das Experiment auch an einzelnen Gliedern ausführen, z. B. am Fuß. Optische und taktile Wahrnehmung liefern die bekannte Gliederung zwischen Hacke und Zehen. Die Gegend des Fußgelenks, der Fußknöchel und der Sohlen bilden eigene Leibesinseln und verschmelzen zu einem Gesamtfuß höchstens dann, wenn – etwa nach übermäßiger Gehanstrengung – ‚der Fuß geschwollen ist‘ und als diffuse, müde, dumpfe, taube, schmerzhafte Masse gespürt wird.“ Nur wenn man den Dualismus zwischen Organ und Empfindung unterläuft, tritt der lebendige Leib in den Vordergrund. Der Leib ist kein kompakter, von Haut umgriffener Körper. Meistens leiblich spürbar, so in seinem späten, an Retraktationen nicht kleinlichen Buch Der Leib (2011), sind der Mund und die anale Zone. „Der Mund ist die Körpergegend, in der sich beharrlich spürbare Leibesinseln zu einem Theater versammeln, in dem von den ersten Lebenstagen an die Grundformen leiblicher Dynamik und leiblicher Kommunikation unablässig aufgeführt werden.“
Die Seele gibt es nicht
Das ganze Theoriedesign von Schmitz kann ich hier nicht in seiner prächtigen Farbigkeit präsentieren, denn die Leibphänomenologie muss in diesem Ansatz sehr viel leisten, weil Schmitz verständlich machen will, dass Raum und Zeit, aber auch der Andere und das Ding nur im Rekurs auf den Leib verständlich werden. Der Leib wird zur transzendentalen Superinstanz. Zugleich will Schmitz, wie er in einem Spätwerk sagt, verständlich machen, wie der Mensch zur Welt kommt. Die Genese der Subjektivität ist ein zentrales Thema. Nach Schmitz kommt der Mensch anfänglich im Schrecken zu sich selbst, er spürt in dieser Situation (primitive Gegenwart) zweifelsfrei, dass es um ihn selbst geht. Schmitz spricht von subjektiven Tatsachen, die von Ferne an Heideggers Rede von Befindlichkeit in Sein und Zeit erinnern. Der Mensch freilich verharrt nicht in dieser Schrecksituation, sondern kann sich aus dieser Situation emanzipieren (entfaltete Gegenwart), aber der irritierende Einbruch des Neuen meldet sich häufig in einer extremen leiblichen Regung: Leben heißt zwischen den Polen der primitiven und entfalteten Gegenwart flexibel zu bleiben.
Mit: Das Unsterblichkeitsproblem ist § 301, der letzte Paragraph des Systems, überschrieben – durchaus konsequent, ist doch „die Beklemmung angesichts des Gedankens“, mit dem Tod könne „alles vorbei“ sein, bekanntlich „eine der Wurzeln des Philosophierens“: Deshalb gehört das spitze Finale der Aussicht, „in vernünftiger Weise Unsterblichkeit wenigstens für möglich zu halten“ (191). Bereits der erste Satz ist spielentscheidend: „Was den Tod überdauert, kann nicht die Seele sein, denn die gibt es nicht, wohl aber der spürbare Leib, der weder sicht- und tastbarer Körper ist, noch ausdehnungs- und ortlose Seele. Da sogar einzelne abgespaltene Leibesinseln, z. B. als Phantomglieder, ohne entsprechende Körperteile auskommen, ist nicht einzusehen, warum für den Leib im Ganzen an seinem absoluten Ort nicht etwas Entsprechendes in Frage kommen sollte.“ An anderen Stellen im Gesamtwerk Schmitz nennt Schmitz zusätzlich unter dem Stichwort der Einleibung den Blick und insgesamt die leibliche Kommunikation. „Eine Leistung von besonderer Virtuosität […] auf gleicher Grundlage vollbringen ohne jedes Pathos und achtlos die Menschen auf den bevölkerten Gehwegen großer Städte, wenn sie z.B. am Abend, jeder nur sein Ziel – oft ein Kaufziel – im Sinn, an einander vorbeihasten. Um nicht anzustoßen, muss jeder nicht nur dem bevorstehenden Kurs des auf ihn zukommenden Nächsten ausweichen, sondern auch den bevorstehenden Kursen der daneben und dahinter Aufscheinenden, damit er nicht, dem einen ausweichend, einem anderen in die Arme läuft. Die Lösung der Aufgabe durch Berechnung zu finden, wäre sehr schwierig und hier undurchführbar; die Menschen lösen sie durch Einleibung in einander mit achtlosen, beiläufigen Blicke, während jeder an etwas anderes denkt.“ Bei den Ausweichbewegungen sieht Schmitz sogar „einen kausalen Zusammenhang zwischen Leib und Körper“: Der Blick, so die These, nimmt die Bewegungssuggestionen der Entgegenkommenden qua Einleibung in das motorische Körperschema des Leibes auf, das auf den Körper überspringt und veranlasst, dass die Körperteile entsprechend reagieren.
Nur rhetorisch fasst Schmitz zusammen: „Wenn schon einzelne Leibesinseln im Fall der Phantomglieder und der Blick als Bestandteil des Leibes und der leiblichen Kommunikation austreten können, warum soll das Entsprechende nicht für einen ganzen Leib möglich sein, dessen Einheit durch die Leibesinseln zusammenhaltende Spannung seines vitalen Antriebs hergestellt wird?“ Schmitz zitiert Berichte über Heautoskopie-Erfahrungen, wenn etwa während einer Operation jemand von außen seinen „auf dem Operationstisch liegenden Körper sieht.“ Hingewiesen wird auf den reichen Schatz „mythologischer und ethnologischer Berichte über Ausfahrten aus dem Körper“, er nennt an vielen Stellen im Gesamtwerk auch Paulus, den er sehr schätzt, deutet die Stelle aus (1 Korinther 6, 13-15 – Glieder am Leib Christi) als Einleibung in einen übergeordneten Leib. „Wichtig scheint mir aber, festzustellen, dass eine Ausfahrt des Leibes aus dem Körper, wenn sie stattfinden sollte, nichts Erstaunliches hätte; ich sehe keine vernünftigen Bedenken gegen eine solche Möglichkeit.“ Mit der Unsterblichkeit des Leibes tritt eine dritte Möglichkeit auf den Plan, über ein Leben nach dem Tod nachzudenken. Sie passt glücklich zur (ursprünglichen) Leibfreundlichkeit der jüdisch-christlichen Lebensdeutung.
Klaas Huizing
Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.