Kirchenbild gesucht
„Kirche auf gutem Grund“ – unter dieser Überschrift stehen die elf Leitsätze, die nach Meinung der EKD der zukünftigen kirchlichen Entwicklungen eine Richtung weisen könnten. Mein Eindruck ist: In den Leitsätzen werden zwar wichtige inhaltliche Aufgabenfelder angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen angesprochen, aber es fehlt der leitende Gedanke in den Sätzen. Mit anderen Worten: Eine gute Themensammlung – aber was ist das Thema? Zugegeben – die Stichwort Öffentlichkeit, Frömmigkeit, Mission, Ökumene, Digitalisierung, Kirchenentwicklung, Zugehörigkeit, Mitarbeitende, Leitung, Strukturen, EKD und Landeskirchen benennen zentrale Gesichtspunkte, die in der gegenwärtigen Umbruchssituation bedacht werden müssen. Allerdings: Wichtiger als das Benennen sind wirklichen Veränderungen. Das betrifft schon die Überschrift der Leitsätze. Dass „Kirche auf gutem Grund“ steht, kann man ja bereits bei Paulus nachlesen (1. Kor 3, 11). Zurzeit geht es aber darum, Kirche auf guten Weg zu bringen.
Das kann nur gelingen, wenn klar wird, was eigentlich das leitende Kirchenbild hinter Leitsätzen für künftige Kirchenentwicklung ist. In den elf Leitsätzen der EKD finde ich dazu nichts. Deshalb entsteht der Eindruck einer eher losen Themensammlung. Wirklich richtungsweisend wird die Zusammenstellung erst dann, wenn sowohl theologisch als auch soziologisch deutlicher wird, was es mit „der Kirche“ auf sich hat. In theologischer Hinsicht liegt dafür der grundlegende evangelische Kirchenbegriffs geradezu auf der Hand, der in Anlehnung an CA 7 so formuliert werden kann: „Kirche ist da, wo glaubende Menschen sich um die Verkündigung des Evangeliums in Wort und Sakrament versammeln“. Kristina Kühnbaum-Schmidt, Landesbischöfin der Nordkirche, spricht in diesem Zusammenhang von einem „smarten Kirchenbegriff: „Elegant und smart ist diese Definition von Kirche, weil sie schlicht ist. Überflüssiges vermeidet. Klar und lässig zugleich daherkommt. Eine elegante, smarte ekklesiologische Grundaussage …, weil sie darauf verzichtet, bis ins Kleinste zu definieren“[. Das ist ein Verständnis von Kirche, das wir in einer Zeit des Umbruchs und der tastenden Versuche, neue Wege zu gehen, brauchen.
Denn dieser Kirchenbegriff zeigt zu einen: Ohne Evangelium geht es nicht. Aussagen zu öffentlichen Stellungnahmen der Kirche, zur Frömmigkeit, zu ökumenischen Miteinander und zu digitalen Medien bleiben formal und formelhaft, wenn nicht klar wird: Auf welcher Grundlage stehen die Positionen, die „die Kirche“ öffentlich vertritt? Was ist „Frömmigkeit“ nach christlichem Verständnis konkret? Welche ökumenischen Gemeinsamkeiten sind konkret anzustreben? Welche konkreten Inhalte in den digitalen Medien sind eigentlich kirchlich? Usw. Leitsätze für künftige kirchliche Entwicklung müssen deutlich machen, dass Kirche sich ganz wesentlich über die Inhalte definiert, die sie vertritt; und es muss deutlich werden, wie Kirche sich über diese Inhalte klar wird, nämlich durch ernsthafte, an der Wahrheitsfrage orientierte Glaubensdiskurse.
Der smarte Kirchenbegriff zeigt aber auch: Mit dem Evangelium geht vieles, was auch in den Leitsätzen formuliert wird. In großer Freiheit können Strukturen geschaffen werden, die „dynamisch auf gesellschaftliche Entwicklungen und Veränderungen [reagieren], Eigenverantwortung [stärken] und „Freiräume [schaffen] für neue und experimentelle Sozialformen von Gemeinde“. „Neue partizipative Formate und Formen der Zugehörigkeit“ können entwickelt und „alternative Formen finanzieller Beteiligung“ bedacht werden.
In soziologischer Hinsicht steht bei den vorliegenden Leitsätzen die Einsicht im Hintergrund, dass Kirche ein Hybrid ist – zugleich Institution, Organisation und Gemeinschaft. Mich wundert allerdings, dass daraus kaum systematisch Konsequenzen für die Leitsätze selbst gezogen werden. Im Abschnitt Leitung etwa fehlt der Hinweis, dass zum Leitungshandeln in der Organisation Kirche ganz wesentlich die Entscheidungsfähigkeit und Verantwortungsübernahme gehört. Kein Wunder, dass im Anschluss daran die kurzschlüssige Forderung erhoben wird, im Verwaltungsbereich 15 Prozent der Kosten einzusparen – kurzschlüssig deshalb, weil es zunächst einer Organisationsentscheidung bedarf, welche Aufgaben wegfallen sollen, bevor eine Kürzung von Finanzmitteln sinnvoll beschlossen werden kann. Merkwürdig ist auch, dass im Abschnitt „Mitarbeitende“ vorgeschlagen wird, Unterschiede zwischen haupt- und ehrenamtlicher Tätigkeit abzubauen, wo es für die Kirche als Organisation viel wichtiger wäre, die unterschiedlichen Rollen von Haupt- und Ehrenamtlichen wirklich klar, und das heißt auch in ihrer Unterschiedlichkeit, zu beschreiben.
Und ein letztes Beispiel: Beim wichtigen Feld der Digitalisierung haben die Leitsätzen nur die Formen und Formate der Verkündigung im Blick. Dass es zu den zentralen Herausforderung der näheren Zukunft gehört, die digitalen Infrastruktur der Organisation Kirche (Sicherstellung einer IT-Mindestausstattung in allen Bereichen, Vereinheitlichung der IT, Vernetzung von Arbeitsprozessen usw.) auf- und auszubauen, wird nicht benannt.
Fazit: Ich meine, dass Kirche in der jetzigen Situation nur dann auf einen guten Weg kommt, wenn sie sich am Leitbild eines theologisch wie soziologisch fundierten Kirchenverständnisses orientiert.
Mathias Lenz
Mathias Lenz (Jahrgang 1964) ist seit 2015 Dezernent für Theologie, Archiv und Publizistik bei der Nordkirche. Er ist promovierter Theologe und Autor zahlreicher Bücher und verfasst regelmäßig Rundfunkandachten für den NDR.