Erst allmählich wird der Einschnitt zum Bewusstsein kommen, der sich mit dem Tod Manfred Stolpes (1936 – 2019) verbindet. 1959 wurde er im Alter von 23 Jahren unter den kirchenfeindlichen Bedingungen der DDR Kirchenjurist; sechs Jahrzehnte lang hat er Kirche und Staat mitgestaltet, weit über alle dienstlichen Verpflichtungen hinaus. Sogar einer schweren Krebserkrankung zum Trotz. Am Ende raubte ihm eine andere Krankheit erst die Stimme und dann die Beweglichkeit der Glieder. Doch auch als er nicht mehr sprechen konnte, nahm er am Leben seiner Familie und seiner Freunde teil; nie hörte er auf, für andere mitzudenken und sich ihnen mitzuteilen – und sei es mit SMS.
Am 29. Dezember 2019 starb Manfred Stolpe, 83 Jahre alt. Seine Kirche bereitete ihm einen Gedenkgottesdienst, das Land Brandenburg einen Staatsakt. Beides fand am 21. Januar 2020 in der Potsdamer Nikolaikirche statt. Doch nicht einmal Datum und Ort der in diesem Bändchen abgedruckten Beiträge werden von dem Herausgeber genannt. Die Veröffentlichung dieser Texte ist zu begrüßen, die editorische Nachlässigkeit des Buchs nicht.
Die eindrucksvolle Trauerpredigt von Bischof Christian Stäblein knüpft an einen Text aus dem 12. Kapitel des Römerbriefs an, der vor der Predigt verlesen wurde. Das gab Bischof Stäblein die Freiheit, einzelne Sätze aus diesem Text hervorzuheben, so wie Manfred Stolpe seinen Gesprächspartnern kleine Zettel mitgab, auf denen etwas Wichtiges aus dem Gespräch notiert war. Doch ebenso wie Stolpes kleine Zettel mit dem vorangehenden Gespräch im Zusammenhang standen, waren die knappen Paulus-Zitate in der Predigt des Bischofs auf den Text des Paulus angewiesen. Nur dann kann man die kühnen Verbindungen würdigen, die der Prediger knüpft: „Nehmt euch der Nöte an, weint mit den Weinenden“, heißt ein Zettel des Predigers. Man lese das noch einmal im Römerbrief nach; in diesem Büchlein findet man den Text leider nicht.
Ein Höhepunkt des Staatsakts war die Rede des Bundespräsidenten. Elementar beschreibt Frank-Walter Steinmeier, was Stolpe riskierte, um unter dem SED-Regime Menschen zu helfen: Dafür reichte das „Zwiegespräch mit dem lieben Gott“ nicht aus, sondern es war erforderlich, „mit dem Unrechtsregime selbst zu verhandeln.“ Denkwürdig ist auch der wörtlich zitierte Rückblick Manfred Stolpes auf das Jahr 1989: „Ich will bekennen, dass ich in den Wochen des Jahres 1989, als alles auf Messers Schneide stand, oft mehr Sorge als Zuversicht hatte. Es gab andere, die entschiedener auf den Wandel drängten und den Staatsorganen die Stirn boten – wir schulden ihnen größten Res-pekt und Dank.“ In diesen Sätzen zeigt sich eine Bescheidenheit, die ein Teil von Stolpes Größe war.
Neben die Rede des Bundespräsidenten treten diejenigen des brandenburgischen Ministerpräsidenten Dietmar Woidke und der ehemaligen Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, beide von politischer Zeitgenossenschaft und persönlicher Wertschätzung getragen.
Angemessen wäre es gewesen, die Sammlung nicht nur mit einer Predigt zu beginnen, sondern auch zu schließen. Die Predigt, die der ehemalige Potsdamer Generalsuperintendent Hans-Ulrich Schulz bei der Beerdigung auf dem Bornstedter Friedhof hielt, hätte in diesem Buch nicht fehlen dürfen. Sie handelt von dem biblischen Text, der über Manfred Stolpes Todestag stand: „[D]ie auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie aufsteigen mit Flügeln wie Adler …“ Um diese von naher persönlicher Kenntnis und Verbundenheit geprägte Predigt hat Schorlemmer sich leider nicht bemüht; stattdessen hat er seinen eigenen Kondolenzbrief an Ingrid Stolpe ans Ende gesetzt – ein bedauerlicher Fehlgriff.
Wolfgang Huber
Dr. Dr. Wolfgang Huber ist ehemaliger EKD-Ratsvorsitzender, Bischof i. R. und Herausgeber von "Zeitzeichen." Er lebt in Berlin.