Judenfeind

Neutestamentler Gerhard Kittel

Gerhard Kittel (1888 – 1948) gehört zu den bedeutenden Neutestamentlern seiner Generation. Bis heute nimmt jeder Theologiestudent den „Kittel“ zur Hand, das von ihm konzipierte Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament (ThWNT). Über ihn fehlt jedoch eine wissenschaftliche Biografie. Der Grund ist, dass Kittel sich ab 1933 durch aggressive Judenfeindschaft hervortat. 1945 verlor er seine Tübinger Professur und kam in Haft, ohne dass ihm Verbrechen oder ein Eintreten für Judenmorde angelastet werden konnten. Im vorliegenden Sammelband werden endlich von ausgewiesenen Zeithistorikern, Theologen und Religionswissenschaftlern Beiträge präsentiert. Es entsteht das Bild eines Mannes, der in Zeiten wechselnder politischer Systeme und wissenschaftlicher Konjunkturen „mit einem ausgeprägten Farbwechselvermögen ausgestattet“ war, so die Herausgeber. Sein Vater Rudolf (1853 – 1929), hochangesehener Alttestamentler und Herausgeber der Biblia Hebraica, führte ihn früh in wissenschaftliche und ökumenische Netzwerke ein. 1905 schloss er sich dem nationalprotestantischen Verein Deutscher Studenten (VDS) an, in dem der scharfe Antisemitismus des früheren Berliner Hofpredigers Adolf Stoecker gepflegt wurde. 1926 schrieb Gerhard Kittel, inzwischen anerkannter Spezialist für rabbinische Schriften, es gebe einen Typus des modernen Juden, der eine „Durchschnittsaufklärung“ repräsentiere und für „Frivolität“ und „Lüsternheit“ anfällig sei. Das Neue Testament hielt er für das antijüdischste Buch der Welt. Hitlers Machtübernahme scheint bei ihm eine Art Bekehrung ausgelöst zu haben. Er wandelte sich vom Gelehrten, der als Philosemit galt, zum völkisch-nationalen Judenfeind. In seiner Streitschrift „Die Judenfrage“ empfahl er im Sommer 1933 die zügige Entrechtung der Juden bis zum Verbot der „Mischehe“. Er war der Auffassung, dass mit der Entstehung der jüdischen Diaspora ab 500 v. Chr. die bewunderungswürdigen Israeliten des Alten Testaments begonnen hätten, zum entwurzelten, verabscheuungswürdigen Weltjudentum zu degenerieren. Um seine Sicht anthropologisch zu stützen, publizierte er 1943 gemeinsam mit dem Rassenhygieniker Eugen Fischer. Mit Erscheinen des Wörterbuchs nahm Kittels Ansehen im In- und Ausland weiter zu. Ende der 1930er-Jahre war er „ein mächtiger Wissenschaftspolitiker, dem […] Kommunikationskanäle offenstanden, über die kein anderer evangelischer Theologe seiner Zeit verfügte“.

Rückschauend gab Kittel an, er habe die Reichskristallnacht parteiintern kritisiert. In der Familie wurde überliefert, nachdem er Anfang 1943 von den Judenmorden im Osten erfahren hatte, habe er nicht länger für Deutschlands Sieg beten können. Aber noch 1944 unterstützte er in seinen Vorträgen Hitlers Judenpolitik. Nach dem Krieg erklärte er, sich wie Moses gefühlt zu haben, der von Gott zu einer unfreiwilligen Aufgabe berufen worden war – nämlich den Vulgäranti-
semitismus der Nationalsozialisten durch eine religionswissenschaftlich fundierte Sicht des Judentums zu konterkarieren. „Christentumsfeinde und Kirchenhasser“ bei den Nazis hätten ihn deshalb „als einen ihrer 2 Todfeinde“ angesehen, er habe „mit einem Fuß im K. Z.“ gestanden. 1947 wollte ihn der zu den Führern der Bekennenden Kirche gehörende Württembergische Landesbischof Theophil Wurm mit dem Argument entlasten, es habe zum kirchlich-theologischen Lehrauftrag des Professors gehört, die „göttlichen Ursachen der Verwerfung des Volkes Israel“ aufzuzeigen, die in den Stellungnahmen Jesu und seiner Apostel begründet seien. Das könne man nicht als eine Verirrung brandmarken oder mit vulgärem Antisemitismus gleichsetzten. Dagegen fand der amerikanische Theologe William Foxwell Albright zur selben Zeit, Kittels Verteidigungsschrift zeige „[a]ngesichts der unglaublichen Boshaftigkeit seiner Angriffe auf Juden und das Judentum […] das […] Bild eines kranken Gewissens“. Es geht aber in diesem Band um mehr als um die historische oder moralische Bewertung eines Wissenschaftlers. Abermals treten latenter und expliziter Antisemitismus im protestantisch-kirchlichen Milieu deutlich hervor. Die Unterscheidung zwischen christlichem Antijudaismus und nationalsozialistischem Antisemitismus erweist sich als wenig tauglich. Die noch immer weit verbreitete Auffassung von widerständiger Bekennender Kirche einerseits und regimetreuer Glaubensbewegung Deutsche Christen andererseits zeigt sich abermals als Wunschbild. Erneut wird die wissenschaftliche Wertigkeit von Kittels ThWNT diskutiert.

Grundsätzlich geht es um den Übergang von Wissenschaft zu intellektuell verkleideter Pseudowissenschaft – und dabei um die Rolle der scientific community. In all dem schwingt die Frage mit nach dem Umgang mit Furcht und Ängsten in Zeiten gesellschaftlicher Krisen und Umbrüche, in denen Sündenböcke willkommen sind. Ein notwendiges Buch, dessen Lektüre lohnt und das zur Weiterarbeit anregt.

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Foto: Kirchliche Hochschule Wuppertal Bethel

Matthias Benad

Matthias Benad ist emeritierter Professor für Neuere Kirchengeschichte, Diakonie und Sozialgeschichte. Er lebt in Bielefeld.


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