Eine säkulare Predigt
Ein Anliegen von hoher Dringlichkeit: Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt will in seinem neuesten Buch „Mündig" das Prinzip der Mündigkeit als Fundament der Demokratie in Erinnerung rufen. Das ist aller Ehren wert. Aber leider gelingt ihm das nicht. Der EKD-Kulturbeauftragte Johann Hinrich Claussen rezensiert das Werk Poschardts, der als Predigtkritiker Aufsehen erregte, in der angemessenen Form: als eine Predigtkritik.
Eine der erstaunlichsten theologischen Karrieren der letzten Zeit hat ausgerechnet Twitter möglich gemacht. Mit nur einem spontanen Tweet unmittelbar nach einer in der Tat befremdlichen Weihnachtspredigt avancierte Ulf Poschardt, der Chefredakteur der Welt-Gruppe, vor drei Jahren zum deutschen Predigtkritikerpapst: Seine Beschwerde über politisierende Predigten löste eine Flutwelle von allerlei digitalen Meinungsäußerungen, aber auch einige ernsthafte kollegiale Debatten aus. Auch zeitzeichen widmete diesem Vorfall das bisher einzige Streitgespräch seiner Geschichte (zz 9/2018).
Nun hat Poschardt ein Buch veröffentlicht, das Anlass für eine heitere Retourkutsche bietet. Denn es lädt dazu ein, nicht bloß mit den üblichen Methoden der Sachbuchrezension bearbeitet, sondern als säkulare Predigt gelesen zu werden. Es trägt ein kulturelles, politisches und existentielles Anliegen vor, in dem auch religiöse Fragen verborgen sind. Man würde es zu leicht nehmen, wenn man es nur als eines dieser saisonalen Debattenbücher läse, die man heute erregt diskutiert und morgen vergessen hat. Es ist dagegen ein Zeichen des Respekts, wenn man es als eine post-religiöse Rede auf sich wirken lässt. Das sollte man tun, weil dieses Anliegen von hoher Dringlichkeit ist: Der Autor will das Prinzip der Mündigkeit als Fundament der Demokratie in Erinnerung rufen. Dies ist nötig, denn die Mündigkeit der Bürger sieht sich neuen Gefahren ausgesetzt: nicht nur linkem Kollektivismus und rechtem Populismus – den Lieblingsgegnern eines herkömmlichen Liberalismus –, sondern einerseits epochalen Grundrechtseinschränkungen („Corona“ dürfte nur ein Anfang sein) und andererseits technischen Erfindungen der Entindividualisierung (Facebook und Co. sind noch nicht das Ende). Da ist es willkommen, wenn sich ein politisch unabhängiger Autor zu Wort meldet und etwas sagt, was sich vielleicht von der nassforsch-lautstarken Sprachlosigkeit des deutschen Parteiliberalismus abhebt. Deshalb folgt hier nun eine nicht unernst gemeinte Analyse von Poschardts Mündigkeitsplädoyer nach den großen und kleinen Prinzipien der homiletischen Kunstlehre, und zwar in neun Schritten.
1. Vor dem Zuhören kommt das Anschauen.
Am Anfang einer Predigt steht ein visueller Eindruck: der Anblick des Predigers, wie er im Kirchraum steht und geht, angezogen ist, einen anblickt und ausschaut. Das ist in diesem Fall hochwertig und modisch zugleich. Das Buch ist in einem renommierten Verlag erschienen, elegant-nüchtern gesetzt, das Cover verbindet ein distinguiertes Grau als Grundfarbe mit Buchstaben aus knallig-hippem Gelb. Wenn man es so betrachtet, denkt man unwillkürlich an hanseatische Hauptpastoren auf edlen Kanzeln, im Ornat und mit Mühlsteinkragen, die Füße jedoch in Manolo-Blahnik-Schuhen: herkunftstreu und à jour zugleich.
2. Für den Anfang braucht man einen Aufhänger.
Das erste Gebot für einen Prediger lautet: Du sollst Dir sofort die Aufmerksamkeit Deiner Gemeinde verschaffen! Der Autor versucht dies mit einer Art paradoxen Intervention. Sein erster Satz lautet: „Guten Tag, f**** euch alle.“ So ist auch das erste Kapitel überschrieben. Man stutzt über eine Provokation, die sich gar nicht richtig traut. Denn warum steht sie nicht ausgeschrieben da, sondern mit gleich vier Gendersternchen? Oder wollte der Autor sagen: „freut euch“? So aber wirkt es seltsam mutlos und unentschlossen. Es mag in der Tat manchmal sinnvoll sein, eine bräsige Gemeinde mit einem gezielten Tritt vor’s Schienenbein aufzuwecken. Dann aber sollte man es auch tun und nicht so tun, als täte man es.
3. An einen Aufhänger soll man etwas aufhängen.
Der Autor entfaltet sein Anliegen, indem er eine lange Reihe von Typen vorstellt: vom mündigen Träumer, über den mündigen Demokraten, Konsumenten, Mediennutzer, die mündige Frau bis zum mündigen Künstler. Anstelle einer systematischen Erörterung mit Definition, historischer Herleitung, Gegenwartsdiagnose und Prognose bietet er eine lockere Folge von Figuren, mit denen der Zuhörer sich identifizieren oder dies zumindest versuchen kann. Das ist ein homiletisch bewährtes Verfahren: Man wird nicht mit akademischen Richtigkeiten traktiert, sondern lernt existentielle Möglichkeiten kennen. Allerdings hat es auch Schwächen: Das Argumentative tritt zurück, echte Geschichten können nicht erzählt werden, vieles bleibt schematisch, statt einer Person wird ein Stereotyp präsentiert. Das ist für einen Text, der doch ein Lob der Individualität singen will, ein Problem, denn Form und Inhalt stehen so in einem Widerspruch zueinander.
4. Ebenso wichtig wie der Inhalt einer Predigt ist ihre Sprache.
Das wichtigste Kriterium einer Predigt (noch vor der Frage der Länge) lautet: Sie soll gut zu verstehen sein. Dies meint das akustische Gut-zu-hören-Sein und das gedankliche Gut-zu-verstehen-Sein. Es empfiehlt sich, laut und deutlich ein schönes und einfaches Deutsch zu sprechen, also nicht überreflektiert, nicht amtlich-theologisch, aber auch nicht allzu simpel. Man kann mit den Formen spielen, länger und kürzer formulieren, erzählen oder fragen oder bedenken oder proklamieren. Aber jeder Satz sollte für sich stimmig sein, und einer auf den anderen sinnvoll folgen. Allerdings verzeiht man einem Prediger vieles, wenn er nur den rechten Schwung hat. Beim Zuhören tut einem nicht jedes schiefe Bild weh, stolpert man nicht über jede ungelenke Formulierung. Man folgt einer Predigt über manche grammatikalischen Fehler und abgerissenen Satzbruchstücke hinweg, wenn sie nur engagiert und überzeugend ist. Das Problem einer verschriftlichten Rede jedoch besteht darin, dass die persönliche Performance keine sprachlichen Mängel wettmachen kann.
Damit ist das eigentliche Problem dieses begrüßenswerten Buches erreicht: Man staunt über das Ausmaß an sprachlicher Unbeholfenheit. Könnte man sie mit Humor nehmen, würde man fröhlich über eine bunte Sommerwiese voller Stilblüten schreiten. Aber nur selten kann man über lustigen Quatsch lächeln, wie zum Beispiel: „Jean-Luc Godard ist mit Adorno und Duchamp der größte Intellektuelle des 20. Jahrhunderts.“ Dagegen lösen die allermeisten Sätze dieses Buch erhebliche Frustrationen aus. Als pflichtbewusster Rezensent beugt man sich aufmerksam über sie, aber es will nicht gelingen, ihnen einen nachvollziehbaren Sinn zu entlocken. Oft meint man sogar einem Referenten irgendeiner Behörde beim Aufsetzen einer Vorlage zur Kulturpolitik zuzusehen, so bürokratisch-ungelenk liest es sich. Als willkürlich herausgegriffenes Beispiel sei hier nur der Anfang des ersten Kapitels zitiert: „Mündig zu sein, ist ein Wunsch, seit die Neuzeit den Menschen in verträglichen Dosen in die Freiheit entlässt. Mit der Aufklärung wird aus der Ent-Entmündigung ein mitunter karg ernstes Unterfangen und bei einigen Anhängern der Mündigkeit wird dieselbe totalitär.“ Bei der Lektüre solcher für das gesamte Buch typischen Sätze erinnert man sich an Predigterlebnisse, bei denen man das Gefühl nicht unterdrücken konnte, dem Prediger irgendwie helfen zu sollen, aber nicht zu können. Da hatte sich ein Mann auf der Kanzel ein hehres Ziel gesetzt, aber es war zu hoch, so hing er an der Klimmstange, zog und zerrte, zappelte mit den Beinen und fiel am Ende doch zu Boden – keine erbaulichen Erfahrungen waren das.
5. Eine Predigt schaut über die Grenzen der eigenen Diesseitigkeit hinaus.
Was eine Predigt auszeichnen soll, ist, dass sie von Gott redet – und zwar so, dass dabei das Jenseits als Kraft des Diesseits sichtbar wird. Allerdings können dies auch säkulare Texte leisten, wie die Literaturgeschichte beweist. Da wäre es schön gewesen, wenn der Autor, der sich doch so verdienstvoll als Predigtkritiker hervorgetan hat, sich auch über die religiösen Aspekte seines Anliegens geäußert hätte. Denn in der Reihe seiner liberalen Typen fehlt leider „der mündige Christ“.
6. Eine Predigt wird von einem Prediger gehalten.
Es gibt keine anonyme Predigt. Sie ist ein existentieller Akt, in dem der Prediger sich kenntlich macht. Er redet immer auch von sich (hoffentlich ohne dabei privat oder narzisstisch zu werden). Das, was er mitzuteilen hat, kann er nicht unter Absehung seiner eigenen Person, ihrer Möglichkeiten und Grenzen, vortragen. Wie kann das gelingen? Der wunderbare Aufklärungstheologe Johann Joachim Spalding hat empfohlen, dass der Prediger seiner Gemeinde als „ein ehrlicher, weiser, heiterer, menschenfreundlicher Mann“ begegnen sollte, der „nichts mehr zu sein begehret, als was er wirklich ist“. Gern hätte man den Autor in dieser Weise näher kennengelernt. Denn er vertritt ja ein sympathisches und notwendiges Anliegen. Nur versteckt er sich hinter seinen Typologien, allerlei halbangelesenen Bildungsfunden, bemüht geistreichen Sprüchen. Am sichtbarsten wird er noch, wenn er über seine alten Lieblingsthemen spricht: Sportwagen, Mode und Konsum, Popmusik. Das könnte dem ernsthaften Thema eine hübsche Brechung geben, doch leider macht es hier allzu oft den Eindruck des Schlecht-Gealterten. Es ist meist so sprühend-witzig wie ein neuer Song von Morrissey, einem Lieblingssänger des Autors – also eher gar nicht.
7. Eine Predigt soll ihrer Gemeinde nützlich sein.
Eine Predigt ist kein Selbstzweck, sondern soll der Gemeinde dienen: Sie anregen, bilden, herausfordern, erfreuen, trösten, erbauen. Was leistet dieses Buch? Vielleicht dies: Es stellt einen Gestus – negativ: eine Pose, positiv: eine Haltung – vor, die einzuüben sich lohnen würde. Doch wie könnte das gelingen? Dazu müsste man andere Bücher lesen, andere Predigten hören.
Überhaupt: Wer ist die Gemeinde dieses Autors? Hatte er beim Schreiben seine Welt-Leser im Sinn? Und wer sind diese? Ein flüchtiger, lieber gleich wieder abgebrochener Blick in die Kommentarleisten von Welt online konfrontierte den Rezensenten mit einer Unmenge an schlecht gelaunten, autoritären Charakteren ohne kommunikative Manieren. Vielleicht liegt hier ein Grundproblem dieses Autors, dass er für eine Gemeinde arbeitet, die keinen Sinn für stilvolle Liberalität besitzt. Spricht in diesem Buch, das auf älteren Welt-Artikeln basiert, also ein Prediger an seiner Kerngemeinde vorbei?
8. Auf den Monolog muss ein Dialog folgen.
Zur Predigt gehört das Nachgespräch. Das ist bei einem Buch natürlich nicht möglich. Diesen Mangel hat der Autor dadurch auszugleichen versucht, dass er in gut liberaler Manier einen Kollegen mit ganz anderer Grundeinstellung um ein Nachwort gebeten hat. Doch der taz-Journalist Peter Unfried liefert eine so peinliche Anbiederung, dass man darüber nur den Mantel des seelsorgerlichen Schweigens breiten kann.
9. Ein Trost zum Schluss
Das Predigthören ist ein kreativer und verantwortungsvoller Akt. Wer bewusst einer Predigt folgt, kann sich nicht damit begnügen, an deren Ende blasiert den Daumen zu heben oder zu senken. Als Hörer ist er Mitautor, nicht Kritiker. Deshalb können gerade misslungene Predigten erbaulich sein. Denn sie fordern den Hörer heraus, es selbst anders und besser zu machen, ohne Anleitung von oben, als mündiger Christ. In diesem Sinn kann man aus Ulf Poschardts Plädoyer für eine neue Liberalität großen Nutzen ziehen.
Literatur:
Ulf Poschardt: Mündig. Klett-Cotta, Stuttgart 2020, 271 Seiten, Euro 20,–.
Johann Hinrich Claussen
Johann Hinrich Claussen ist seit 2016 Kulturbeauftragter der EKD. Zuvor war er Propst und Hauptpastor in Hamburg.