Offene Fragen

Motiv des Unterwegsseins

Die Tradition des Pilgerns ist nach der Veröffentlichung von Hape Kerkelings humorvoll-tiefgründigen Pilgertagebuch Ich bin dann mal weg 2006 im deutschsprachigen Raum ungebrochen populär. Viele Menschen sind heute auf alten Pilgerpfaden unterwegs, eine ganze Reihe an Spielfilmen und Dokumentationen zum Thema ist inzwischen erschienen – und auch die Pilger(fach)literatur wächst.

In diesem Kontext setzt sich Ralph Kunz, Praktischer Theologe an der Universität Zürich, mit dem Pilgern als „Glaube auf dem Weg“ auseinander. Seine Anliegen sind vielfältig: Es geht ihm unter anderem um das Motiv des Unterwegsseins als „Kernbestand des Glaubens“, um Möglichkeiten der „Begleitung und Betreuung der Pilgernden“ sowie um Impulse für das Gemeindeleben vor Ort. Diese Bandbreite spiegelt sich in den behandelten Themen, die von Pilgern als kirchlicher Praktik, über Typen und Motivationen von Pilgernden, theologische Gedanken zu (un-)heiligen Orten, der Rezeption der Pilgertheologien von Detlef Lienau, Walter Nigg und Roger Jensen, pilgertheologische Impulse für die Ekklesiologie und Gedanken zum Pilgern als „Beten mit den Füßen“ schließlich bis zum Ziel des Pilgern und dem Ankommen des Pilgers reichen.

Verbindend ist für Kunz der Gedanke, Pilgern nicht individuell zu denken. So deutet er das Pilgern als Ausdruck einer „Resonanzsehnsucht“, womit er den auch in Kirche und Theologie stark rezipierten Entwurf des Soziologen Hartmut Rosa aufgreift. Pilgern sei nicht „Weltflucht“, sondern „Suche nach Berührung“ in einer „Such- und Weggemeinschaft“. Dadurch fänden sich auch Anknüpfungspunkte für die Kommunikation biblischer Heilsbilder und (seelsorgerliche) Gespräche.

Besonders die Erzählung von den Emmausjüngern hebt Kunz als ein solches biblisches Bild hervor. Wie viele Pilgernde befinden sie sich nach einem einschneidenden Lebensereignis auf einer „negativen Pilgerreise“. Unterwegs aber erleben sie eine Veränderung durch den Mitpilger Christus und dessen geistliche Begleitung. Den Auferstandenen als Mitpilger sehen zu können, macht Kunz als geistliche Dimension stark. So verstanden ist die Kirche als communio viatorum immer Pilgergemeinschaft – ein starker reformierter Gedanke, der heute Leitgedanke einer beweglichen Kirche sein kann.

Die große Themenbreite des Buchs ist Stärke und Schwäche zugleich: Einiges kann nur auf wenigen Seiten angedacht werden, was schon am ausführlichen Inhaltsverzeichnis sichtbar wird. So wäre es beispielsweise lohnend gewesen, das Phänomen des Pilgerns tiefergehender und ausführlicher aus der Perspektive der Resonanztheorie zu betrachten. Methodisch stellt sich die Frage, ob die Reflektion einer Praktik wie dem Pilgern nicht auch eine stärkere Wahrnehmung dieser Praxis durch quantitative oder qualitative Daten erfordert hätte.

Als Theologen, aber auch als aktiver Pilger und ausgebildete Pilgerbegleiterin bleibt uns am Ende die Frage nach der Zielgruppe dieses Buches offen: Sollen Kirchgemeinden angesprochen werden, das Pilgern und Unterwegssein in seiner ekklesiologischen Dimension neu zu entdecken? Sollen Pfarrpersonen angeregt werden, Pilgernde zu begleiten und einzubeziehen? Sollen (potenzielle) Pilgerinnern und Pilger selbst dieses Buch lesen und dabei etwas (Neues) über das Pilgern lernen? Durch den Überblickscharakter des Buchs werden viele Themenfelder, Motive und Gedanken des Pilgerns angeschnitten, lose miteinander verknüpft, aber nicht in ihrer Tiefe behandelt. Auch die unscharfe Einordnung zwischen theologischem Fachbuch und persönlichem Staunen des Autors hilft bei dieser Frage nicht.

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Foto: privat

Dominik Weyl

Dominik Weyl war Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Zürich. Im September beginnt er das Vikariat in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau.


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