Was haben wir zu sagen?

Corona und unsere Rede von Gott
Gottesdienst in Corona-Zeiten (Immanuelskirche Hannover-Laatzen, Mai 2020).
Foto: epd/Jens Schulze
Gottesdienst in Corona-Zeiten (Immanuelskirche Hannover-Laatzen, Mai 2020).

Nach gut drei Monaten Corona-Pandemie ringt man in der  Kirche immer noch um Worte. Der Berliner Theologieprofessor Notger Slenzcka skizziert vor diesem Hintergrund theologische Deutungspotenziale und warnt davor, sich in der „Prüderie des Digitalkontaktes und des Waschzwangs“ einzurichten.

Das Schweigen der Kirchen zu Corona ist eigentümlich. Es gibt durchaus Deutungen aus der Feder einzelner Theologen (etwa die Artikelreihe von Günter Thomas oder Stephan Schaede in 'zeitzeichen') und die eine oder andere weitere Stellungnahme, auch kirchenamtlicher Art – etwa ein FAZ-Artikel des Ratsvorsitzenden der EKD, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, oder die großartige Stellungnahme des Direktors von St. Blasien, Pater Klaus Mertes, S.J.

Ich kenne aber keine öffentliche Verlautbarung landeskirchlicher Gremien oder der EKD oder große Predigten kirchenleitender Personen, in denen eine theologische Deutung der Krise vorgestellt würde. Ich beeile mich hinzuzufügen: Ich selbst hätte das ja nun auch tun können, habe aber dergleichen bisher auch nicht vorgelegt.

Einig sind sich die wenigen Verfasser solcher Stellungnahmen darin, dass die Corona-Krise nicht als Strafe Gottes gedeutet werden könne; dergleichen tue Gott nicht. Dass die Corona-Krise mit neuer Dringlichkeit vor die Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens stellt und zum Anlass werden kann, zu fragen, wie die Menschen ihren "Lebensstil den Grenzen des Planeten anpassen" können (Bedford Strohm), ist sicher richtig, funktionalisiert aber die Krise für ohnehin gegebene Anliegen, deutet sie aber nicht. Warum fällt es (mir) so schwer, zu sagen, was die Krise für die Bindung an Gott bedeuten könnte? Und warum fühlen wir uns trotzdem genötigt, etwas zu sagen?

Einige Vermutungen: Die Krise ist nicht eindeutig. Es mag zynisch klingen, aber die Krankheit selbst und der Shutdown ist nicht eindeutig negativ. Auf der einen Seite steht eine hohe Zahl von Erkrankten, die Situation in Norditalien, in Spanien, in New York. Fast 434.000 Todesfälle weltweit, Stand 15. Juni 2020. Schon hier stockt man: weltweit! Jeder einzelne wird vermisst und betrauert, und die Angst und Sorge der später wiedergenesenen Erkrankten und ihrer Angehörigen ist ausdrücklich zu notieren – aber 434.000 Todesfälle sind im Rahmen einer weltweiten Epidemie wenig, wenn man diese Zahl mit den Todesfällen in den Hunger- und Katastrophengebieten oder gar in den jahrelang von Bürgerkriegen heimgesuchten Ländern der Erde oder der sog. Spanischen Grippe nach dem Ersten Weltkrieg vergleicht. Diese Zahlen haben die Kirchen in den Staaten des Westens selten zu umfänglichen theologischen Deutungsanstrengungen motiviert. Vielleicht liegt der hilflose Drang, doch etwas zu sagen, am Unterschied der Corona-Krise zu den anderen Gefährdungen: diese Krise trifft oder bedroht uns, hier und jetzt.

Die Krise ist nicht eindeutig. Sie trifft die Wirtschaft und trifft das Gesundheitssystem, und sie trifft die freien und angestellten Anbieter von Kulturleistungen. Sie ruiniert Unternehmen, vernichtet Arbeitsplätze und Geld. Sie hat unvorstellbare Konsequenzen für die Wanderarbeiter etwa in Indien und ihre Familien. Der Shutdown führt bei uns allen spürbar zu vielen organisatorischen Problemen – Homeoffice; Gewährleistung von Unterricht unter schwierigen Bedingungen. All das ist eine Herausforderung, aber eben eine Folge der menschlichen Reaktion auf das Virus, die eine Abwägung von Handlungsoptionen verlangt. Es ist keine unmittelbare Folge des Virus, sondern eine Folge unserer Versuche, uns gegen ihn zu schützen. Haben die Kirchen dazu beizutragen, hat die Kirche dafür Ideen – kann sie welche haben? Ist das ihre Kompetenz?

Die Krise ist nicht eindeutig. Es gibt auch diejenigen (und weil die Stunde der Ehrlichkeit ist: ich gehöre zu ihnen), die unter der Krise nicht nur gelitten haben, sondern die allgemeine Entschleunigung, das Wegfallen vieler Verpflichtungen – Vorträge, Dienstreisen, Sitzungen – als eine gnädige Entlastung von einer kaum noch erträglichen Arbeitsbelastung empfunden haben und als die Eröffnung der Möglichkeit, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Das gilt mit Sicherheit nicht nur für mich, sondern das gilt an einigen Stellen sogar für die Mitarbeiter von Krankenhäusern, in denen Operationen abgesagt, (Intensiv-)Stationen vorsichtshalber geräumt und beim Ausbleiben des großen Ansturms Überstunden abgebaut wurden.

Wenn man also danach fragt, was die Krise bedeutet, dann kann man eigentlich nur antworten: sie ist vieldeutig – in den Extremen: Für manche ist sie ein Kreuz. Für andere ein Geschenk, das sie mit schlechtem Gewissen und unangenehm berührt wie Profiteure fremden Elends entgegennehmen. Das ist einer der Gründe, warum es schwer ist, dazu etwas Eindeutiges zu sagen.

Das Schweigen der Kirchen. Einer der Punkte, die mich im Verlauf der Krise nachhaltig überrascht haben, ist die fast schon vorauseilende Bereitwilligkeit, mit der die Kirchen ihr gottesdienstliches Leben eingestellt haben. Gewiss: Es gab großartige Versuche, das gottesdienstliche Angebot anderweitig beizustellen, hervorragende Podcasts, online-Predigten, Initiativen von Kirchenmusikern gerade in der Passionszeit. Aber es gab keinen nachdrücklichen Hinweis darauf, dass eine solche Unterbrechung des gottesdienstlichen Lebens in leiblicher Präsenz gegen das Wesen des christlichen Glaubens ist. Es gab nur sehr schwache Proteste aus den Gemeinden, und nicht den geringsten Widerstand gegen den Anschein, dass der öffentliche Gottesdienst nicht systemrelevant ist – auch ich habe nicht protestiert.

Umgekehrt hätte man nach dem Ende des Gottesdienstverbots doch erwarten können, dass die lange entbehrte Möglichkeit gottesdienstlicher Versammlungen in einem wahren Run auf die Gottesdienste etwa am Sonntag Kantate oder an Pfingsten niederschlägt – aber Pustekuchen! Ich weiß von nur einer Gemeinde, die nach dem Shutdown Gottesdienstbesucher zurückweisen musste, weil die Zahl 50 überschritten wurde – bei einem Pfingstgottesdienst in einer großen Berliner Gemeinde! Irgendwie hat man den Eindruck, dass nur wenige Menschen den Sonntagsgottesdienst und das gemeindliche Leben wirklich vermisst haben (es würde mich freuen, wenn dieser Satz Protest weckt!). Und – weil die Stunde der Ehrlichkeit ist – ganz offen gestanden: Mir ging es genauso.

Dem entspricht es, dass die Kirchen auch nicht von außen nachgefragt wurden. Ich habe nicht den Eindruck, dass es massenhafte Anfragen um Bittgottesdienste (die durchaus online gehalten werden können), um verstärkte Seelsorgeangebote oder ähnliche Ansinnen gab. Entweder wurde die Not nicht als so bedrängend wahrgenommen, dass dergleichen nachgefragt wurde. Oder die Möglichkeit, dass die Kirchen diese Funktion wahrnehmen, ist nicht mehr im allgemeinen Bewusstsein.

Dem entspricht es auch, dass die Gemeinden und Pfarrerinnen und Pfarrer nach der Aufhebung des Lockdowns nach meiner Beobachtung nur mit sehr langsamen Schritten zu einer Normalisierung des gottesdienstlichen Lebens zurückgekehrt sind, und dass dieser Zurückhaltung keine Erleichterung über die wiedergewonnene Gemeinschaft gegenüberstand. Kurz: Die Zahl der Personen, die sich nach gottesdienstlicher Gemeinschaft sehnte, war überschaubar.

Das ist, würde ich sagen, näher betrachtet eine höchst bedrängende Einsicht: die Kirche im Sinne der leiblich versammelten Gemeinde, ihr Wort und ihr Handeln wird nicht vermisst. Während die katastrophalen Folgen des Lockdowns der Schulen und Theater diskutiert werden, ist von den Kirchen nicht oder nur am Rande die Rede; sie werden bei öffentlichen Ansprachen selten erwähnt, und Gottesdienste werden gern als Beispiel für Spreading-Ereignisse vorgeführt. Dass das gemeinschaftliche Gebet, die Versammlung zum Abendmahl, die öffentliche Verkündigung in der Gemeinschaft nicht einmal mehr ein Gegenstand der Sehnsucht ist, ist erschreckend – und es ist wirklich erschreckend, dass niemand darüber erschrickt, sondern dass es als selbstverständlich genommen wird

Man kann das jetzt rasch und sofort in Handlungsanweisungen übersetzen, oder das „Ende der Religion“ oder das Ende der traditionellen Kirchlichkeit im Ton des „ich habe es doch schon immer gesagt“ diagnostizieren. Aber man kann und darf, als Christ, an dieser Stelle nicht nur vom Versagen von Menschen sprechen. Sondern man muss auch davon sprechen, dass Gott schweigt und sich entzieht. Man sollte sich angesichts der Gleichgültigkeit vielleicht daran erinnern, dass Luther davon gesprochen hat, dass das Evangelium wie ein Platzregen ist, der kommt und ebenso wieder geht – und eine Dürre hinterlässt, die als Not nicht empfunden wird. Das ist keine Deutung von Corona. Aber das könnte eine Deutung dessen sein, was durch und mit Corona herauskommt: Gott schweigt. Und darum schweigen die Verkündigung und das Gebet.

1. Was haben wir zu sagen?

Aber was wäre denn, wenn danach gefragt würde, zu verkündigen? Worum wäre zu beten? Dass wir nicht einfach vom Zorn Gottes redend die Corona-Situation deuten, ist eindeutig. Das ist keine neue Einsicht, das haben frühere Generationen bei vergleichbaren Gelegenheiten auch gewusst. Aber es wäre genauso unsinnig, so zu tun, als hätte Corona mit Gott nichts zu tun, oder als wäre Gott ausschließlich auf der Gegengraden zu verorten. Das ist auch unglaubwürdig. Denn wenn wir von Gott, dem Schöpfer sprechen, sprechen wir – auch wenn wir noch so ungegenständlich bleiben – doch zugleich von dem, der dieses Virus, der viel anderes Unheil zulässt.

Und das ist nun mit Sicherheit etwas, was dieses Virus und alle seine Folgen deutlich machen: Wir mögen uns noch so sehr als Herren der Welt fühlen – aber unserer Planung und unserem Willen sind Grenzen gesetzt. Dass die Weltgesellschaft sich einer unverhofften Bedrohung ausgesetzt sieht, angesichts derer sie alle wirtschaftlichen und kulturellen Kälber schlachtet, ist genau die Erfahrung, die die Religionen der Welt unter dem Wort „Gott“ zur Sprache bringen: als Erfahrung eines mitwirkenden, zuweilen störenden und zerstörenden Mitspielers unseres individuellen und kollektiven Lebens. Damit ist noch keine Deutung des Geschehens verbunden, wohl aber eine Erinnerung an den Erfahrungsboden der 'conditio Iacobaea', des Vorbehalts des Jakobus(briefes): "… wenn der Herr will, werden wir leben und dies oder das tun" (Jakobus  4,15).

Das Virus bringt die Kontingenz der menschlichen Planung und die Unverfügbarkeit und Verletzlichkeit der Grundlagen unserer Gesellschaft zum Vorschein, und zwar mit einer Wucht und Entschiedenheit, dass sich dieser Einsicht eigentlich niemand entziehen kann. Das Virus ruiniert die individuelle Lebensplanung von Treffen und Festen angefangen über berufliche Vorhaben bis hin zum Urlaub. Meinen Kalender konnte ich löschen. Das Virus betrifft und unterbricht die politischen und gesellschaftlichen Ziele und Planungen und verwirrt die Prioritäten; an die Stelle des Ideals der globalen Gemeinschaft, an die Stelle der angesichts des Brexit noch beschworenen übernationalen Einheit tritt die Aufgabe der Abschottung und Begrenzung auf kleine nationale, regionale oder sogar familiale Einheiten oder die völlige Isolation. Das Virus manifestiert die Zerbrechlichkeit des menschlichen Planens und die Relativität hehrer Ziele.

Genau dies ist gemeint, wenn vom Handeln Gottes die Rede ist: die Erfahrung, dass wir uns selbst nicht in der Hand haben. Kontingenz – in Gestalt von Kriegen, Krankheiten, frühem Tod, Hungerkatastrophen – traf in den vergangenen 70 Jahren andere, weit weg, wir konnten uns dem verschließen und mussten die Erfahrung in Haltungen des Mitleids zu unserem Anliegen machen. Nun können wir uns der zerstörenden Macht der Kontingenz nicht mehr entziehen, auch wenn wir bisher nicht erkrankt sind: sie infiziert (!) unsere Sozialbeziehungen, unsere beruflichen Erfolge und unsere Planungen, und sie schlägt sich in unserem Bankkonto nieder.

Damit ist zunächst keine Sinndeutung verbunden, wohl aber eine Erschließung dessen, was wir meinen, wenn wir „Gott“ sagen: Unser Leben ist nicht in unserer Hand, sondern in ihm erfahren wir einen Mit- und Gegenspieler, der zuweilen und meistens unauffällig bleibt, dessen Gegenwart wir beschweigen, der sich zuweilen aber zerstörerisch meldet und alle unsere Pläne durchkreuzt. Und dann stellt sich angesichts der Sinnlosigkeit und Unverständlichkeit die Frage nach dem Sinn, als Frage, wie man sich einen Reim auf das Ganze machen kann.

Gerade die Vielfalt der Auswirkungen, der vielen negativen, der katastrophischen und der zuweilen auch positiven Auswirkungen, die das Virus hat, erlaubt keine eindeutigen Antworten – erlaubt in der Tat keine Deutung als Strafe oder als Versuchung oder als Prüfung oder als Geschenk, erlaubt auch keine Reduktion auf ethische Anweisungen.

Wir erfahren uns als einer Macht ausgesetzt, aber wir wissen nicht, worauf das Ganze hinaussoll. Die Christen sprechen hier nicht nur von Gott, sondern von der Verborgenheit seines Willens. Sie erkennen den Gott, von dem sie zu sprechen gewohnt sind und den sie im Gebet ansprechen, in diesem wirkenden Willen nicht wieder. Der in Christus offenbare Gott, der das Leben will, schweigt und verhüllt sich.

Der christliche Glaube hat keine kleinteiligen Deutungskompetenzen, so dass wir eindeutig sagen könnten, wozu dies Ereignis und wozu jenes gut ist. Allerdings spricht der Glaube in besonderer Weise von Gott: gegen die Erfahrung und im Vertrauen auf den in Christus offenbaren Willen Gottes zum Menschen und zur Gemeinschaft. Der Glaube verkündet diesen Willen als Ziel aller Wege Gottes, auch der verborgenen und dunklen. Dass Gott „ein Freund des Lebens“ ist, wie eine EKD-Denkschrift sagt, ist eine Aussage von falscher Eindeutigkeit. Das ist nicht ohne weiteres so. Gott handelt ebenso im Tod, in der Krankheit, in Katastrophen. Der Mit- und Gegenspieler wirkt das alles, schweigend, gleichgültig und unwiderstehlich. Dass die Kirche angesichts dessen von Gott als dem „Freund des Lebens“ spricht, ist Ausdruck des Vertrauens auf das Offenbarwerden Gottes in Christus – ein großes „Trotzdem!“ …

Den Tod neben dem Leben, die Krankheit neben strotzender Gesundheit, die vernichtende Katastrophe neben der Güte der Natur erfahren alle Menschen – aber nur die Anhänger theistischer Religionen erfassen darin einen Mit- und Gegenspieler des Lebens und fragen nach seiner Absicht. Und jedenfalls die Christen unter diesen Anhängern theistischer Religionen halten daran fest, dass Gott in seinem verborgenen Willen all das wirkt, aber letztlich nicht mit der Krankheit, dem Tod und der Vernichtung paktiert, sondern auch im Tod auf das Leben hinauswill, durch die Gottverlassenheit zur Auferstehung, durch die Aufhebung der Gemeinschaft zur Wiederherstellung. Dass Gott zuletzt und endlich das Leben will, widerspricht der Lebenserfahrung auch der Anhänger Jesu unter dem Kreuz – und doch verkünden sie dies: Er ist auferstanden.

In diesem Sinne ist Gott ein Freund des Lebens. Das ist keine Feld-, Wald- und Wiesen-Theologie, die sich an die schönen Seiten der Wirklichkeit hält und zu den Übeln nichts mehr zu sagen weiß, sondern das ist eine Aussage des Vertrauens, das sich angesichts der Erfahrung des Kreuzes und des Todes an das Wort von der Auferstehung hält, das den Tod nicht aufhebt, ihm aber eine Richtung gibt: auch der Tod, die Krankheit, die Katastrophe ist getragen von Gottes Freundschaft zum Leben. Das Leben in seiner Fülle, das dem Nächsten nicht nur digital, sondern mit Seele und Leib zugewendete und verbundene Leben, ist das Ziel der Wege Gottes, auf das auch sein verborgenes Handeln ausgerichtet ist. Angesichts des verborgenen und dunklen Handelns Gottes auf diese Zusage zu vertrauen – das ist Glaube.

2. Was bringt das?

Diese Deutung hat dabei eine sehr klare orientierende Funktion. Einige Beispiele – und bei jedem dieser Beispiele wird deutlich, wie vor- und umsichtig man gehen muss bei der Deutung des Willens Gottes. Alle Beispiele im Folgenden stehen unter dem Vorzeichen des „führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen“ – die Versuchung besteht darin, dass wir uns einrichten in der Faktizität des Handelns Gottes und nicht mehr unterscheiden zwischen seinem offenbaren Willen – dem Willen zur Gemeinschaft – und dem Handeln und Zulassen, in dem sein Wille verborgen ist.

Ist es wirklich so, dass das Leben der Güter höchstes ist? Pater Mertes hat in der Gegenwart diese Frage Friedrich Schillers gestellt; ich nehme sie auf. Selbstverständlich ist es eine Aufgabe, Leben zu retten – aber das physische Leben hat nach christlicher Überzeugung eine Bestimmung zur Gemeinschaft. Wir reden nicht einfach vom Leben, sondern wir reden vom zur Gemeinschaft bestimmten Leben, das dem in Christus offenbaren Willen entspricht. Der Schutz des physischen Lebens muss geleitet sein von der Einsicht, dass dieses Leben zur Gemeinschaft bestimmt ist und ohne Gemeinschaft auf die Dauer genauso zerstört wird wie durch Krankheit und Tod.

Hier stehen die Christen, so scheint mir, auf unterschiedlichen Ebenen wirklich vor der Aufgabe, die Gesellschaft immer wieder daran zu erinnern, dass in der – zeitweilig möglicherweise unverzichtbaren – Isolierung von Alten oder Kindern die Frage nach der Bestimmung des menschlichen Lebens nicht vergessen werden darf. Es darf nicht sein, dass gerade die Alten isoliert und nicht einmal seelsorgerlich begleitet werden oder – das kam durchaus vor – im Sterben nicht begleitet werden. Und halbstündige Treffen mit einzelnen Angehörigen oder die Kommunikation durch eine Glasscheibe dürfen jedenfalls nicht auf Dauer gestellt werden, so dass Menschen unter diesen Bedingungen werden ihre letzten Monate verbringen.

Gott will die Gemeinschaft mit den Menschen und unter den Menschen – und zwar als leibliche Gemeinschaft! Das manifestiert sich in der Menschwerdung Gottes, dem Eintritt Gottes durch einen Leib in die menschliche Gemeinschaft, und im Schöpfungssegen über der körperlichen Gemeinschaft von Liebespaaren. Dass dies und nicht die resignierte Feststellung, dass es nach Corona nie wieder so sein werde wie vorher, der Wille Gottes ist und die Botschaft der Kirchen sein muss, scheint mir unverzichtbar zu sein. Davon müssen wir reden, die Hoffnung auf volle Gemeinschaft müssen wir wachhalten; wir dürfen uns nicht in der Prüderie des Digitalkontaktes und des Waschzwangs einrichten.

Es gibt andere lebensbedrohliche Gefahren. Es kann nicht sein, dass die Kirche – wie geschehen – angesichts der uns auf den Leib gerückten Bedrohung so tut, als gebe es die vielen anderen Bedrohungen menschlichen Lebens, gegen die sie sich bis Januar 2020 eingesetzt hat, plötzlich nicht mehr. Es mag sein, dass einer säkularen Gesellschaft unter einer Bedrohung die Grenzen Europas oder des eigenen Landes zur Grenze der Blickschärfe werden – aber das im März eingetretene Schweigen der Kirchen zur Situation in Syrien oder in Mali oder an den Grenzen Europas ist ohrenbetäubend!

Das öffentliche Gebet ist unverzichtbar. Die Bitte nicht nur um das physische Überleben, sondern um das Leben im Vollsinn menschlich-leiblicher Gemeinschaft muss in öffentlichen Gebeten laut werden, in denen Gott gegen sein dunkles Handeln auf seine Verheißung angesprochen und bei ihr behaftet wird: dass der Mensch zur Gemeinschaft bestimmt ist und auf dieser Gemeinschaft Gottes Segen liegt.

(Dieser Text ist auf Anregung von Superintendent Dr. Bertold Höcker für den Kirchenkreis Berlin Stadtmitte geschrieben worden als ein Versuch, auf knappem Raum eine theologische Perspektive auf die Corona-Krise zu gewinnen und damit die Frage zu beantworten, was denn eigentlich über die negative Auskunft, dass Corona keine Strafe Gottes ist, angesichts von Corona verantwortlich von Gott zu sagen ist.)

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Foto: P. Brusowski

Notger Slenczka

Notger Slenzcka, geboren 1960, ist seit 2006 Professor für Systematische Theologie (Dogmatik) an der Humboldt-Universität in Berlin.


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