Facettenreich

Über den Tod

Zum nahenden Tod eines Freundes notiert der Dichter Philippe Jaccottet: „Angesichts der Schatten, die sich verdichten, stehen wir hilflos da; auch ein bisschen so wie Belagerte, die sparsam umgehen müssen mit ihren Vorräten.“ Da knüpft Jean-Pierre Wils mit seinem Werk zur Todes- und Totenphilosophie an: „Diese Abhandlung versteht sich als bescheidene Inspektion dieser Vorräte.“ Sie ist dem gebürtigen Belgier, Theologen und Philosophen, der in den Niederlanden Praktische Philosophie lehrt und in Deutschland lebt, fulminant gelungen. Sein Werk ist, obwohl fundamental angelegt, zudem gut lesbar. Wils markiert zunächst die begrenzte Reichweite des Denkens an dieser Stelle, liegt sein Gegenstand doch außerhalb der Erfahrung: Es sind „die Toten, die uns mit dem Tod konfrontieren. Wir wüssten nichts über den eigenen Tod, wenn es nicht die Toten gäbe. Aber mein Tod ist nicht ihr Tod. Er steht mir noch bevor. Wir, die Lebenden, sind mit dem Todesgedanken vital verschwistert.“

„Unsere Toten“ und mit gültigen Argumenten belegbares Denken sind die Schenkel des Zirkels, mit dem Wils den Kreis im Sinne einer „philosophie engagée“ schlägt. Er nimmt aus hermeneutischen Gründen, weil er verstehen, die Grenzen erweitern will, die Literatur hinzu. Die braucht nicht mit Argumenten zu belegen, ihr Proprium ist es, fündig ungesichert unterwegs zu sein. Zwar wüssten auch Schriftsteller nicht „mehr“, eröffneten aber Zugänge „imaginativen Erlebens“, die über das Denken hinaus reichen. Die Auswahl, die er da trifft, ist so kenntnisreich wie anregend. Er bindet die Texte so ein, wie er auch ins Gespräch mit einflussreichen Todes-Denkern vor ihm tritt: Er paraphrasiert, erläutert und fragt nach, wie platonische Dialoge das tun. Heideggers Heroisierung des Todes etwa bügelt er ab. Epikur und Epigonen, die behaupten, der Tod habe uns gestohlen zu bleiben, da, wenn eingetreten, wir nichts mehr damit zu tun hätten, stößt er vom dünnen Brett der haltlosen Behauptung und zeigt, wie der Gedanke letztlich unser Leben um den wichtigsten Aspekt verkürzt – hänge doch genau daran, dass wir sterblich sind, unser Person-, Individuum- und Autonom-Sein: endlich und darum einzigartig und unersetzbar, was den finalen Verlust nicht lindert, aber begreifen lässt und fast schon Trost ist. Vor dem Hintergrund thematisiert Wils auch „Die Rückkehr der Unsterblichkeit“, jene Bestrebungen und Utopien, die sie aktuell ernsthaft anstreben, ob als ultimative Körperoptimierung oder Einfrieren Ultra-Reicher. Er kritisiert so anschaulich wie unterhaltsam: „Das Ich-Sein in der Ewigkeit ist offenbar entweder sterbenslangweilig oder schwerstmöglich. Das unsterbliche Leben hat das Aussehen einer andauernden Malaise. Wie man es argumentativ und imaginativ auch kehrt oder wendet, seine Bewohner sind stolpernde Wesen, mit Charakterschwankungen konfrontiert, mit Identitätsproblemen behaftet, von Autononiemängeln bedrängt. Und das auch noch in alle Ewigkeit.“

Befreiend wirkt auch, wie er auf Höhe aktueller Debatten um Todeszeitpunktfestlegung und Transplantationsindustrie lakonisch abwinkt: „Der Tod ist interessanter, als eine Ethik des Sterbens vermuten lässt.“ Er nimmt ihn erfreulich ernst, explizit auch vor dem Grauen von Verdun und Auschwitz, aber auf eine Weise, wie sie lange nicht zu lesen war. Der Dialog mit der Literatur erweitert die Grenze des Denkbaren deutlich.

Epochendiagnostisch und gesellschaftsanalytisch erhellend spinnt Wils diesen Faden bis zum Umgang mit unseren Toten, geht es doch dabei letztlich um den Umgang mit uns selbst. Wittgenstein, laut dem wir nur darüber reden könnten, was der Fall ist, der den Tod aber gerade nicht dem Schweigen anheimgab, kann Wils viel abgewinnen. Er nennt das „resignative Mystik“, die sich zwar in das Unvermeidliche fügt, das lebensbestimmende Geheimnis aber gerade deshalb in den Blick nimmt.

Eine facettenreich durchdachte Lehre vom Tod, die zudem unmittelbar anregend ist. Nach der Lektüre kann es passieren, dass man eine längst ad acta gelegte Sargbestattung wieder in Erwägung zieht, auf dem Friedhof spazieren geht und unbedingt bald Die Lebenden reparieren von Maylis de Kerangal oder Die Enzyklopädie der Toten von Danilo Kis lesen möchte – Bücher, die neben vielen anderen bereichernd einfließen. Wils inspiziert die Vorräte höchst lesenswert und ohne jeden Hauch von Esoterik, obwohl er das Gespräch mit den Toten so triftig wie dringend empfiehlt.

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