Gottes Reporter

Vor fünfzig Jahren starb der stark religiös geprägte Schriftsteller Stefan Andres
Stefan Andres (1906 – 1970)
Foto: akg-images

Nazi-Gegner, Exilant, Erfolgsautor – Stefan Andres, der vor fünfzig Jahren starb, ging es oft um einen beinahe lutherischen Konflikt des individuellen Glaubensgewissens mit der Institution. Warum es sich lohnt, den Autor von Wir sind Utopia wieder zu lesen, erläutert der Journalist Roland Mörchen.

Ein Kind war gottgeweiht. So entsprach es der Tradition in katholischen Familien. Als eines von neun Geschwistern in der Mosellandschaft aufgewachsen, wurde der Klosterschüler Stefan Andres (1906 – 1970) für das Priesteramt bestimmt. Der spätere Autor unternahm mehrere Anläufe als Ordensbruder, bevor er auf Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte umschwenkte.

Andres heiratete Dorothee Freudiger, die seine Managerin wurde, und veröffentlichte 1932 über seine Klostererfahrungen den Roman Bruder Lucifer. Auch danach schöpfte Andres viel aus dem persönlichen Erleben, das seine Werke um Moral, Schicksal, Sünde, Schuld und Erbarmen grundierte. Unter den Nationalsozialisten brachen für Andres und seine Familie – Dorothee war nach Nazikategorien „Halbjüdin“ – schwere Zeiten an. Der Nazi-Verächter war trotz publizistischer Erfolge eine unerwünschte Person in Deutschland. 1937 ging er ins italienische Exil. Zur finanziellen Not kamen dort der Tod seiner Tochter Mechthild und eine lebensbedrohliche Erkrankung seiner Ehefrau.

Vieles wurde besser nach dem Kriegsende. 1948 brachte der Münchner Piper Verlag Der Ritter der Gerechtigkeit heraus. Dort ließ Andres die meisten seiner Nachkriegswerke erscheinen, auch 1953 Der Knabe im Brunnen. Der Roman, autobiografisch wie Der Taubenturm (1966) über die Endzeit des Zweiten Weltkriegs, handelt von den frühen Kinderjahren. Andres durchlebt mit seiner Hauptfigur Steff noch einmal Krankheit und Tod, die katholische Sozialisation, die Schule, den ersten Krieg und die erwachende Sexualität. Ein ausgeprägtes Sündenbewusstsein erinnert an die Qualen des jungen Mönchs Martin Luther. Andres war vielleicht nie ein Satzbaumeister wie Thomas Mann, der Nebensatz auf Nebensatz türmte. Eher schaute er den Menschen aufs Maul, nahm die Wörter wie Rohdiamanten und feilte besonders an Sätzen, die wie Denkzettel sitzen sollten. Der einst vielgelesene Schriftsteller starb 64-jährig am 29. Juni 1970 in seinem letzten Wohnort Rom an den Folgen einer Operation.

Kirchenväter studiert

Oft ging es ihm um den beinahe lutherischen Konflikt des individuellen Glaubensgewissens mit der Institution, was im Abbruch der Priesterlaufbahn seinen biografischen Niederschlag fand. Ob Prosa wie Vom heiligen Pfäfflein Domenico (1936) oder Drama wie Tanz durchs Labyrinth (1948), Andres’ Gesamtschaffen zeugt porentief von Bibelkenntnissen und humanistischer Bildung. Gleich den Kirchenvätern, die er gründlich studierte, bewegte er sich im Spannungsfeld von Antike und Christentum. Andres verband das horizontale Denken des Heidentums mit dem vertikalen Sinn des Christlichen und versöhnte Christus mit Dionysos. Die 1936 erschienene Erzählung El Greco malt den Großinquisitor, neben der späteren Novelle Wir sind Utopia das bekannteste Werk des Autors, spielt in der heillosen Welt der Inquisition und ihrer Scheiterhaufen. Andres spricht die Rolle des Künstlers in dunkler Zeit an. Tyrannenmord ist hier keine Lösung. El Greco porträtiert den amtskirchlichen Funktionär so wahrhaftig, dass ihm im Spiegel der Kunst sein wahres Gesicht bewusst wird. Wie dort die Historie den Rahmen für eine aktuelle Gewissensbefragung abgibt, so stiftet auch in Wir sind Utopia (1942) der nur angedeutete Hintergrund des Spanischen Bürgerkriegs eine Folie für die persönliche Tragödie. Literaturkritiker haben dem Autor diese Uneindeutigkeit vorgeworfen. Doch Andres geht es nicht um politische Linke oder Rechte.

Der individuelle Gewissenskonflikt der Protagonisten, die beide auf Holzwegen gegangen sind, bildet den eigentlichen Zündstoff. Der Autor zielt auf innere Wandlung, eigentlich auf die Rück-Verwandlung Pacos, des entsprungenen Mönches, der als Gefangener in seine frühere Klosterzelle zurückkommt und einen Leutnant umzubringen plant. Fluchtgedanken werden von Erinnerungen an früher und von Visionen verdrängt. Der Leutnant, der die Exekution der Häftlinge auszuführen hat, sucht in seiner Höllenangst bei Paco die Absolution für all seine schrecklichen Bluttaten. Am Ende steht der Tod, aber trotz Zweifel auch die Gnade der (Selbst-)Vergebung. Das wahre Utopia findet sich nicht in irgendwelchen Traumländern. Toleranz und Gerechtigkeit sind in den Händen fehlbarer Menschen ohne Transzendenzbewusstsein gründlich gefährdet.

Andres lehnte darum auch den Absolutheitsanspruch des Christlichen ab. Die frühe Kirche ging fehl, als sie die Demut Jesu gegen den Willen zur Macht eintauschte, wie er es in seinem letzten Roman Die Versuchung des Synesios (1971) beschwor. Als Ziel der religiösen Sehnsucht galt Andres die Erneuerung der schuldhaft verspielten Einheit mit Gott. Pacos alter kritischer Gesprächspartner Padre Damiano sah Gottes Utopia „im Werden“. Entschiedenes Auftreten und Nächstenliebe verändern die Welt, machen sie aber nicht vollkommen. Dazu bedarf es einer die Historie übersteigenden Erlösung. Nach zehn Jahren und den Bänden Das Tier aus der Tiefe und Die Arche erschien 1959 mit Der graue Regenbogen der Abschluss der Romantrilogie Die Sintflut, einer großangelegten Abrechnung mit ebenso verführerischen wie pseudoreligiösen Staatsideologien, die den Menschen als Teil eines Massenkollektivs kontrollieren wollen. Politische Parallelen waren offenkundig. Dass Andres sie nicht aussprach, machte die Kritik ihm erneut zum Vorwurf.

Wenn Andres sich politisch äußerte, tat er es meist direkt. Er war Atomkraftgegner und sah die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik kritisch. Er hielt nichts vom geteilten Deutschland und trat für die Versöhnung mit Israel ein. Als Romancier wollte er Geschehnisse parabolisch verdichten, nicht dokumentieren, wobei notwendige Bezüge klar waren. Im Roman Der Mann im Fisch, 1963 im Kalten Krieg veröffentlicht, begegnet der Prophet Jona seinem modernen Doppelgänger, der ein zweites Ninive fordert, damit er angesichts atomarer Vernichtung, die in Hiroshima grausame Realität geworden ist, an einen gnädigen Gott glauben kann. Mit Besorgnis reagierte Andres auf den spirituellen Sinnverlust seiner Zeit. Es lohnt sich darum, ausführlicher über ein vergessenes Buch zu sprechen, das kaum aktueller sein könnte. Wie in einem Brennspiegel vereinigt es die zeitkritischen Gedanken des Autors. Die Hörfolge Der Reporter Gottes erschien ab 1952 in mehreren Auflagen und kam 1959 auch als Taschenbuch heraus. Andres traf offenbar den Nerv nicht weniger Leser, die sich über die Rolle des Christentums in der säkularen Gesellschaft Klarheit verschaffen wollten.

Die Gretchenfrage

Das Buch in Form einer Radioreportage ist eine Standortbestimmung. Andres prüft sich und andere, um das Christliche glaubhaft als Kraft ins Gedächtnis zu rufen, die das Leben ethisch durchdringen kann. Der Gottesreporter stellt den Zeitgenossen die Gretchenfrage und setzt sich vom grassierenden Positivismus und Rationalismus entschieden ab. Dabei vergegenwärtigt Andres die Jesus-Geschichte, indem er die Zeiten überspringt und auch biblische Gestalten ans Mikrofon holt, darunter Johannes den Täufer, Simon von Cyrene, einen römischen Hauptmann und die Ehebrecherin, ebenso den ewigen Spießer, „der sich gegen alles schützt, was anders ist und anders denkt als er selbst“. Zuletzt schildert Andres das Drama der Kreuzigung aus der Sicht der Betroffenen. Die Reportage gerinnt zum Zeugnis des sich tief einfühlenden Schriftstellers. Der Hinrichtungspfahl steht nicht nur auf Golgotha, er steht für alle, die in der Welt leiden. Andres zeigt sich als Kreuzesmystiker in der Nachfolge Friedrich Spees („In stiller Nacht, zur ersten Wacht, ein Stimm’ begann zu klagen“).

Erzählt Andres 1965 in Die biblische Geschichte das Alte und Neue Testament nach, so greift er schon hier Bibelgeschichten eigenschöpferisch auf. Dabei versteht er den überlieferten Text nicht als unveränderlich, sondern deutet ihn vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen neu. Dieser auch im Judentum gepflegte lebendige Auslegungsprozess dient der Bewahrung einer religiös-narrativen Kultur.

Bereits im ersten „Reporter“-Kapitel stellt Andres fest, dass eine religiöse Sehnsucht die Menschen umtreibt, selbst wenn sie Scharlatanen nachrennen. „Denn – wer weiß? – es mag sein, dass jedes Menschenherz bei Tag und Nacht nach dem Frieden mit sich selbst seufzt, mit dem Nachbarn, mit Gott, ohne dass es dem Träger so vieler heiliger Seufzer jemals bewusst würde, wonach er sich eigentlich sehnt“, notiert der Reporter. Für Andres war der historische Jesus kein Utopist, der eine bessere Welt propagierte. Vielmehr reifte das Reich Gottes in ihm, bis es ihn drängte, es als „ewige Utopie Gottes“ in alle Lebensbereiche einsickern und im Menschen wachsen zu lassen. Der Glaube kann einen heilsamen Stachel im Fleisch kultivieren: den Zweifel, der laut Andres oft die Glut schürt. Andres votiert gegen jedes Bestreben, dem die Person „nur noch als Menschenmaterial, als Bestandteil eines Volkes, einer Rasse, als Zubehör der Wirtschaft, der Politik, als verstaatlichte Arbeits-, Zeuge- und Kampfkraft“ gilt. Der Autor stemmt sich gegen autoritäre Normierungen – kommen sie nun aus der kirchlich-dogmatischen oder aus der naturwissenschaftlich-rationalen Ecke. „Wir wissen es: Nie wird das Reich Gottes in diesem Äon eine allgemein nach außen sichtbare Wirklichkeit werden. Umso mehr muss es eine Sehnsucht bleiben, die wirklichste, spürbarste unserer Zeit.“

Zwischendurch steht in Andres’ Werk Jesus im Examen, bei dem Universitätsgelehrte ihm auf den Zahn fühlen. Doch schon unter ihnen selbst kommt es zum Disput, der das Verhältnis von Naturwissenschaft und Glaube berührt. Wo der eine Professor die Welt nur wiegt, misst, analysiert, den Zufall und das Nichts predigt, sucht der andere, Zwischen den Zeilen der Welt zu lesen und über das bloß Physische hinauszudenken. Ein Satz trifft es messerscharf: „Wir haben unsere Wissenschaft von Gott frei gemacht, nun hat sie uns von allem frei gemacht, was göttlich und menschlich ist.“ Wem fielen dafür keine aktuellen Beispiele ein? Andres diagnostizierte den seltsamen Widerspruch zwischen Hilfsbereitschaft und Gleichgültigkeit. Das sehen wir auch heute: viele Spenden bei Naturkatastrophen, aber auch Unfallgaffer und Hasskriminalität. Bei Andres liest sich das so: „Ja, ich sehe es noch kommen: eines Tages schickt ihr eure helfende Güte in Karawanen übers Land, bis an die Grenzen der Erde – und der nächste Mensch an eurer Seite friert, weil das Feuer in euren Herzen sich erschöpfte überm Wohltun und Notlindern.“

Ärgernis erregen

Der Kirchenkritiker Karlheinz Deschner gewann 1957 in dem von ihm herausgegebenen Buch Was halten Sie vom Christentum? den Eindruck, „dass sich viele heute in Deutschland einfach scheuen, über das Christentum öffentlich auszusagen“. Deschners Buch versammelte Aufsätze bekannter Autoren zur gestellten Frage. Einige befürchteten anscheinend den Verlust ihres Renommees. Das erinnert an Albert Camus’ Roman Der Fall, der gleichfalls 1957 auf Deutsch erschien: „Sie wollen kein Ärgernis erregen und behalten darum ihre Gefühle für sich. So habe ich zum Beispiel einen atheistischen Romancier gekannt, der jeden Abend sein Gebet sprach. Das hinderte ihn keineswegs daran, in seinen Büchern aus Leibeskräften über Gott herzuziehen.“ Der Christ Stefan Andres wollte Ärgernis erregen. Als einer von achtzehn Autoren schickte er für Deschners Buch den Beitrag „Bild und Maßstab“ ein. Er bekannte darin Jesus als Idealbild des Menschen und als verbindliche Richtschnur.

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