„Das Evangelium raushauen“

Innenansichten einer Pfingstgemeinde in Bad Godesberg
LobpreisWeit: Anbetungszeit im Centrum Lebendiges Wort, ein Herzstück in Pfingstgemeinden.
Foto: Kira Neuschäfer
LobpreisWeit: Anbetungszeit im Centrum Lebendiges Wort, ein Herzstück in Pfingstgemeinden.

Wie geht es heute in deutschen Pfingstgemeinden zu? Bunt, innig und mit viel Musik – so ist jedenfalls der Eindruck des Journalisten und Theologen Wolfgang Thielmann. Er hat das „Centrum Lebendiges Wort“ bei Bonn vor der Corona-Pandemie besucht.

Nora Mankel blendet ein Video ein: Vor dem Gottesdienst haben zwei Leute Erna besucht, mit Kamera, und ihr zum 90. Geburtstag gratuliert. Sie bleiben an der Haustür auf Abstand, auch als Erna ihnen die Hand schütteln will. Die beiden segnen Erna. Der Mann sagt ihr: „Du bist für mich ein Vorbild in Liebe und Vertrauen.“ Noch während des Videos hat Nora im Regiecontainer auf ihren acht Bildschirmen und dem Mischpult die nächste Einstellung vorbereitet. Jugendpastor Matthias Reinartz steht vor einem schwarzen Hintergrund und senkrechten Lichtbändern. Die Kleingruppen dürfen sich treffen, sagt er, „aber achtet auf die Hygienemaßnahmen.“ Schon am Montag darauf werden solche Treffen verboten.

Noch aber ist es Sonntag, kurz nach zehn. Im Centrum Lebendiges Wort (CLW) hat der Gottesdienst begonnen. Schon Anfang März hat die Leitung beschlossen, wegen Corona einen Gottesdienst nur zu streamen, als die meisten Kirchengemeinden noch nicht daran dachten. Das CLW ist eine Pfingstkirche im Bad Godesberger Ortsteil Schweinheim. Sein Rundbau mit dem zeltartigen Kegeldach liegt am Fuß vieler nobler Hanggrundstücke. Oft fahren hier die Rettungsambulanzen den Berg hoch ins Waldkrankenhaus, eine Gründung der evangelischen Kirchengemeinden.

Das geplante „Apologetische Wochenende“ im Gemeindezentrum kann so nicht stattfinden, informiert Reinartz. Am Tag darauf wird es abgesagt. Matthias Clausen sollte referieren, ein rheinischer Pastor und Professor an der Evangelischen Hochschule Tabor in Marburg, die zu den Landeskirchlichen Gemeinschaften gehört, also zum klassischen neuen Pietismus. Das Treffen für Jugendliche hätte geheißen „Grill den Theologen“.

Am Anfang und am Ende des Gottesdienstes hat Nora viel zu tun. Während das Lobpreisteam, die Band, die Songs intoniert, wechselt sie die Einstellungen schneller. Sie schiebt die Texte von unten ins Bild damit die Leute zuhause mitsingen können. Wären sie im Raum, würden die Texte an die Frontwand gebeamt. Liederbücher, an denen man sich infizieren kann, gibt es schon seit Jahren nicht mehr. „Du bist erhaben“, singt die Band, „Du lebst für immer!“ Wären Besucher da und Nora unter ihnen, sie würde aufstehen und die Hände heben. Wie so viele, aber längst nicht alle. Keiner muss.

Lobpreis am Anfang und Ende des Gottesdienstes gehört zu den Basics der Gemeinde. So wie mittlerweile in vielen freikirchlichen Gemeinden. Warum? „Mir ist das wichtig, um Gott durch Gesang die Ehre zu geben“, sagt Nora. „Und damit ich mein Herz vor Gott ausschütte, damit er mich berührt und die Herzenshaltung geraderückt.“ Kritiker sagen, dass Musik in den Pfingstkirchen der Emotionalisierung dient, also den Verstand und die Kritik ausschalten soll. Aber das will Nora nicht stehen lassen. „Lieder sind auch Teil der Verkündigung, aber sie bereiten auch auf das Beten und die Predigt vor.“ Ihre Spotify-Playlist ist randvoll mit Anbetungs-Songs, von der US-charismatischen Bethel-Künstlergruppe, der Hillsong-Community, die ihre Gottesdienste als Konzert mit Predigt inszeniert, und deutschen Worship-Gruppen wie der Outbreakband. Die Musik, die sie machen, hat bei Spotify ein eigenes Genre, „Contemporary Worship Music“.

Beträchtlicher Umsatz

Mit nichts ist die pfingstlich-charismatische Szene so erfolgreich wie mit ihrer Musik. Die hat den evangelikalen Bereich weitgehend durchdrungen und zieht auch in landeskirchliche Gemeinden ein. Ohne sie gäbe es wahrscheinlich keine Pop-Kantoren. Evangelikale Verlage machen mit der Musik beträchtlichen Umsatz. Und „Anbetungszeit“ im Gottesdienst mit einer Abfolge von Liedern ist inzwischen gängige Praxis in freikirchlichen Gemeinden.

Schon seit Oktober 2019 werden die Gottesdienste der Gemeinde auch gestreamt, um mehr Menschen zu erreichen. Das war die Zeit, nachdem Nora in die Gemeinde gekommen war. Sie studiert und macht eine Ausbildung in Film- und Motion-design. Sie ist in das neue Streamingprojekt eingestiegen und konnte ihre Kenntnisse umsetzen. Wie fast alle ist sie ehrenamtlich engagiert. So auch der Leiter der Medienarbeit, Vincens von Bibra. Er leitet eine Design- und Medienagentur, die Imagefilme für Unternehmen herstellt.

Pastor Julian Betker ist für das Corporate Design der Gemeinde und das Lobpreisteam zuständig. Es trifft sich jeden Donnerstag, um zu beten, an der Performance zu arbeiten und das nächste „Lied des Monats“ zu suchen. „Die Leute im Gottesdienst sollen sich wohl fühlen“, sagt Nora, „aber wir wollen auch Gott das Beste liefern.“ Der Gemeinde gehe es um Reichweite, Tiefgang und Relevanz. Dazu gehört eine gute Ausrüstung.
Vier professionelle Kameras verfolgen heute den Gottesdienst. Für die Streaming-Ausrüstung hat die Gemeinde unter ihren knapp 500 Mitgliedern gesammelt. Woher kommt so viel Engagement? „Es macht mir auch Ultra-Spaß“, sagt Nora, „und wenn das so ist, dann willst du das auch gerne und gut machen.“

Teil des Körpers werden

Sie ist aus einer anderen Freikirche hierhergekommen. Was findet sie hier? „Ich habe gelernt, dass ich Kirche bin“, antwortet sie. „Ich will mich einbringen, möchte Teil des Körpers werden, der Jesus sein will.“ Man hat sie gefragt: „Worauf hast Du Bock?“, und sie hat sich für die Medienarbeit entschieden. „Aber ich könnte jederzeit sagen: Das wird mir zu viel“, fügt sie hinzu, „es gibt keinen Druck, mehr machen zu müssen, als man kann und will.“

Pastor Jimmy Hong predigt heute, der Sprecher des Ältestenrates, ockerfarbenes T-Shirt, schwarze Jeans, Sneakers, Anfang dreißig. „Ich kann euch sagen, dass ich mich nicht von Angst, von Furcht leiten lasse, weil ich weiß, zu wem ich gehöre, und ich weiß, wer mein Gott ist“, so leitet er seine Predigt ein, während die Musiker von der Bühne gehen. Er zieht eine Bibel mit Goldschnitt aus der Gesäßtasche und liest Psalm 91: „Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt“; er betont jeden Satz. Nora blendet den Bibeltext von rechts ins Bild, weiß auf dunkelblauem Grund. Jimmy Hong betet. „Dass das Lesen keine Pflicht ist, Herr, sondern eine Wahrheit ist, Jesus; dass dein Wort unsere Herzen durchdringt.“ Kaskadenartig ergießen sich jetzt die Sätze hintereinander. Er sagt am Schluss nicht „Amen“, sondern „A-Mähn!“ mit einer langen Pause dazwischen. Jede Silbe ist jetzt wichtig.

Ab und zu geht er während der Predigt zwei Schritte seitlich zu einem Pult, auf dem ein Notebook steht, und schaut aufs Manuskript. Die Arbeit im Regiecontainer wird ruhiger. Hinter Jimmy Hong steht das Schlagzeug, von dämpfenden Acrylwänden umgeben. Er rät dazu, am Tag genauso viel Bibel zu lesen wie Nachrichten auf dem Handy zu schauen. Die Predigt dauert vierzig Minuten, das ist üblich. Am Ende klappt er das Notebook zu, während das Keyboard wieder eingesetzt hat. Er geht ein paar Schritte nach vorn, betet und haucht zum Schluss „Danke, Jesus“. Nora blendet seinen Instagram-Account ein. Mit Jimmy Hong war sie letztes Jahr zum „Summer Ride“, einem missionarischen Einsatz junger Leute in Ostdeutschland. Zu den Einsatzorten gehörte die Lutherstadt Wittenberg.

Erst am Schluss kommt Mario Wahnschaffe, 55 Jahre, der Hauptpastor. Per Videoeinspielung segnet er die Zuschauer, mit einem, zwei, drei Bibelversen. Er ist seit mehr als einem Jahr krankgeschrieben, eine Stammzelltherapie. Jetzt geht es aufwärts. Und er ist der Schwiegersohn von Erna, dem Geburtstagskind vom Anfang. Im März hat er das Papier mit seinem Blutbild auf Facebook veröffentlicht mit dem Satz. „Jesus tut heute noch Wunder!“ Im Gespräch erzählt er auch von den Tagen, in denen er panische Angst hatte zu sterben, als ein Arzt ihm prognostizierte, dass ihm ohne Transplantation vielleicht noch drei Monate bleiben würden. Er hat das so auch der Gemeinde gesagt.

Wahnschaffe hat Selbstkritik gelernt. Er sagt, früher habe er sich besser gefühlt, weil er Pfingstler sei. Dafür schäme er sich heute. Aber er ist Evangelist durch und durch. Er predigt in Fußgängerzonen. Auf Youtube diskutiert er in einem Video mit dem Salafistenführer Ibrahim Abou-Nagie. Seine Aufgabe liege darin, sagt er in seiner oft drastischen Sprache, „das Evangelium rauszuhauen in alle Welt.“ Wahnschaffe ist konservativ. Homosexuell empfindende Menschen sollten enthaltsam leben, da teilen er und seine Gemeinde die Mehrheitsposition der Pfingstler. Doch er lässt es stehen, wenn andere im evangelikalen Spektrum gelebte Homosexualität nicht mehr verurteilen. Das tun längst nicht alle. Nach wie vor toben um gelebte Homosexualität heftige Kämpfe, auch, weil dahinter die Frage nach dem Bibelverständnis steht.

Pfingstler sind überzeugt, dass es zwei Taufen gibt, eine mit Wasser und eine zweite mit dem Heiligen Geist. Früher meinten Pfingstler auch, dass man die zweite Taufe daran erkennt, dass jemand „in Zungen reden“ kann, so wie das etwa Paulus im ersten Korintherbrief beschreibt, und dass man dann ein besserer Christ ist. Pfingstler gerieten bei der Anbetung in ekstatische Verzückung, riefen göttliche Prophetien aus, denn sie waren überzeugt, dass Gott auch heute noch rede – und sie zogen Kritik auf sich, weil sie Heilungsgottesdienste veranstalteten und den Eindruck erweckten, als würde man mit dem richtigen Glauben von allen Gebrechen gesund.

Die Bewegung entstand 1906 in Los Angeles. Noch im gleichen Jahr gelangte sie nach Skandinavien. Überall wuchs sie rasch. Der schwedische Schriftsteller Per Olov Enquist hat in seinem Roman Lewis Reise von 2001 ihre frühen Jahre in seiner Heimat beschrieben. Von Skandinavien kam die Bewegung nach Hamburg und Kassel und fasste in den Landeskirchlichen Gemeinschaften kurz Fuß. Dann aber distanzierte sich die Gemeinschaftsbewegung und mit ihr der neue Pietismus strikt von den ekstatischen Auswüchsen, die ihnen unheimlich waren. Erst in den 1980er-Jahren näherten sich beide theologisch ähnlichen Bewegungen wieder an – auch unter dem Eindruck der seit den frühen 1960er-Jahren aufgekommenen charismatischen Bewegung. Sie ist den Pfingstkirchen theologisch eng verwandt, organisierte sich aber vor allem als Erneuerungsbewegung in den großen Kirchen.

Schnell wachsende Gemeinden

Weltweit zählt das pfingstlich-charismatische Christentum zu den am schnellsten wachsenden Zweigen des Christentums, vor allem auf der südlichen Erdhalbkugel. Ein Viertel der 2,2 Milliarden Christen sollen zu ihr gehören. In Brasilien sind Pfingstler wegen ihres sozialen Engagements zu einer ernsthaften Konkurrenz der katholischen Mehrheitskirche herangewachsen. Sie sollen bereits ein Viertel der Bevölkerung umfassen. In Europa hat die Ökumene theologische Extreme zumeist abgeschliffen.

In Deutschland sammeln sich Pfingstler vor allem im 1947 gegründeten Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden. Dort ist auch das Centrum Lebendiges Wort eine der mehr als achthundert Mitgliedsgemeinden. An ihrem theologischen Seminar „Beröa“ in Erzhausen bei Darmstadt hat Wahnschaffe seine Ausbildung gemacht. Heute zählt er dort zu den Gastdozenten. Die Seminaristen erhalten BAföG; das Seminar ist als einer Höheren Fachschule vergleichbar anerkannt.

Die Bonner Gemeinde gehört zur örtlichen Ökumene, der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen. Ihr Zentrum in Bad Godesberg umfasst auch eine Kindertagesstätte. Die Gemeinde hat sich dafür entschieden, einen hohen Trägeranteil zu zahlen, damit sie mehr Einfluss auf die Erziehungsziele hat.

Der Gottesdienst im Stream geht mit Gebet und Lobpreis zu Ende. „Die Schönheit deiner Majestät gabst du für unsere Freiheit auf“, singt das Team. Und wie in einer altkirchlichen Litanei wiederholt die Band ein uns andere Mal „Preist den Herrn“. Nora fährt die Regler herunter. Die Predigt ist nach dem Gottesdienst auf dem Youtube-Kanal der Gemeinde zu sehen.

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