Das Leben ist verletzlich

Warum wir keine vorschnellen Antworten suchen sollten
Foto: EKM

Mehr Fragen als Antworten, mehr fragen als antworten … In nur wenigen Tagen mutierte die Fastenzeit 2020 „unter Corona“ zu einem Zwangsfasten für alle: ein Zwangsfasten von Gemeinschaft jeder Art außerhalb des direkten häuslichen Umfelds, von Sport und von Kultur, von Events, von Gottesdiensten und kirchlichen Zusammenkünften; ein Zwangsfasten von direkten, analogen Begegnungen, von Austausch und Diskursen face-to-face; ein Zwangsfasten aber auch von Grundrechten, die in bis dato unvorstellbar kurzer Zeit und ohne nennenswerten Protest eingeschränkt, wenn nicht gar ausgesetzt wurden. Und das alles flächendeckend und in so kurzer Zeit, wie es sich niemand hatte vorstellen können – und wohl weit länger als „Sieben Wochen ohne“.

Damit einher geht eine merkwürdige Umwertung von Werten: Selbstisolation als Nächstenliebe; Distanz als soziales Verhalten; geschlossene Grenzen in ganz Europa und Rückfall in nationales Denken und Handeln. Neue Worte tauchen auf, wie „Herdenimmunität“, „Hochrisikogruppe“, „sehr dynamische Lage“, „Sozialkontaktlosigkeit“, aber auch: „Balkonkonzert“. Und Überschriften von Zeitungsartikeln signalisieren, wie sich Perspektiven verschieben: „Afrika schottet sich gegen Europa ab“; „(digitale) Überwachung rettet Leben“, „Coronavirus hilft beim Klimaschutz“.

Sehr viele Menschen haben Angst, all das zu verlieren, was sie sich mit Mühe aufgebaut haben, viele bangen um ihre ökonomische Existenz: die geringfügig Beschäftigten wie die Niedriglöhner, die „freiberuflich“ tätigen Künstler und Kulturschaffenden und Wissenschaftlerinnen, die kleinen Selbstständigen in Handwerk und Gastgewerbe, im gesamten Dienstleistungs- und Unterhaltungssektor. Dazu kommen die Ängste, die Zahlen und Bilder wecken, weil sie ein so nahes Geschehen erzählen: von einsamen, auf dem Bauch liegenden Beatmungspatienten, von begrenzten Betten und erschöpften Pflegekräften und Ärzten, von Militärlastern mit Särgen, so viele an der Zahl, dass sie andernorts zur Feuerbestattung gebracht werden müssen. In all dem drängt sich eine an den Rand gedrängte Grunderfahrung in die erste Reihe, die für unsere Vorfahren Alltag, für uns als Nachkriegsgenerationen bisher weit weg in der sogenannten Zweiten und Dritten Welt verortet war: wie verletzlich unser Leben ist. Wie wenig wir es in der Hand haben. Wie schnell wir an unsere Grenzen kommen können, in jeder Hinsicht.

Wie wird es uns in den Kirchen, wie wird es uns Christenmenschen gelingen, diese Erfahrung von Verletzlichkeit so nüchtern wie sorgsam, so liebevoll wie überzeugt offen zu halten, für uns selbst und alle Glaubenden wie für Menschen, die mit Glauben nichts anfangen können? Wie wird es uns gelingen, nicht vorschnell Antworten zu geben auf Fragen, die nicht gestellt werden, gar mit einem kontextlosen Bibelwort? Wie wird uns vielmehr das Wagnis gelingen, Fragen nach Gott, dem Schöpfer und Erhalter des Lebens, dem Mitleidenden und Ohnmächtigen, nach Gottes Geistkraft in dieser Welt neu zu stellen, ohne bereits die Antwort in petto zu haben? Vielmehr mit den Worten der Vorfahren und den Worten der Schrift neu zu lernen: stammeln, rufen, verletzlich menschlich bleiben.

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Ilse Junkermann

Ilse Junkermann ist Landesbischöfin a.D. und Leiterin der Forschungsstelle „Kirchliche Praxis in der DDR. Kirche (sein) in Diktatur und Minderheit“ an der Universität Leipzig.


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