Plötzlich ist sie da, die Entschleunigung. Haben wir uns das nicht immer gewünscht? Aber doch nicht so! Oder vielleicht doch? Peter Bubmann, Praktischer Theologe aus Erlangen, erinnert am Karsamstag daran, dass unverhoffte Unterbrechung den Keim neuer und hoffnungsvoller Lebenskunst in sich tragen kann.
Geselligkeit und Kulinarisches erfreuen Leib und Seele. Und wenn’s mal etwas eintrübt, steht jederzeit der passende Buchratgeber bereit: Immer schön optimistisch bleiben und das Beste aus jeder Situation herausholen! Demgegenüber mussten erst Philosophie und Theologie der Lebenskunst wieder ins Bewusstsein heben, dass sich die ars vivendi ursprünglich immer mit der ars moriendi verband (oder aus ihr hervorging). Der Einbruch der Endlichkeit in das Alltagsleben drängt dazu, sich neu zu orientieren und sich selbst in Frage zu stellen. Was tun, wenn Krankheit ausbricht oder das Ende naht? Was, wenn die Lebensrisiken steigen? Was, wenn zu handeln ist, obwohl keiner genau weiß, was zu tun nun sinnvoll wäre?
Die Corona-Krise 2020 erweist sich als Lackmustest jeder Lebenskunst und ihrer Theorien. Ähnlich wie die dauerlächelnden frommen Worte plötzlich ‚facebookender‘ Geistlicher angesichts dieser Krise nur mehr peinlich berühren, ergeht es auch der Schar esoterisch angehauchter populärer Lebenskunst-Optimierer dieser Tage: ‚Gewogen und zu leicht befunden!‘ In der Katastrophe klärt sich plötzlich, was wirklich wichtig ist, wo Substanz ist und wo sie fehlt.
Allerdings gilt auch andersherum: Das Leben wird nicht erst in der Katastrophe ‚eigentlich‘. Was in der Krise fürs Leben gelernt werden kann, kann auch den Alltag bereits vorher tragen und ihn durchdringen. Lebenskunstmaßstäbe hält nicht erst die Apokalypse bereit. Was Corona nun lehrt, kennen wachere Geister auch sonst: „Das Virus ist im höchsten Maße unverfügbar. Wir ertragen es nicht, dass wir unfähig sind, die Folgen der Ereignisse vorherzusagen, dass wir nicht über ein Gegenmittel verfügen.“ (Hartmut Rosa, im Interview im Frühjahr 2020)
Corona fordert vermutlich nicht mehr Todesopfer als sonst unser Lebensstil und die Umweltbelastungen im Jahr auch. Aber das Virus bringt schlagartig unsere Verletzlichkeit und unser Ausgeliefertsein ans Schicksal in Erinnerung. Covid-19 depotenziert die Menschheit kollektiv. Dass das Leben unverfügbar sein könnte, sollte und wollte man möglichst verdrängen – jedenfalls diejenigen, die es sich leisten können, ihre Lebensrisiken in der ‚Risikogesellschaft‘ (Ulrich Beck) weitgehend zu minimieren. Mittel zur Amnesie gegen den Risikoschmerz gibt es allemal genug: von Netflix & Co bis zur modern-fortschrittsfixierten Wissenschaftsgläubigkeit.
Die Tschernobyl-Wolke des Jahres 1986 entfremdete von elementaren Nahrungsmitteln, die AIDS-Krise der 80er und 90er Jahre von den Freuden der Sexualität und empfahl den sexuell Aktiven schon einmal das „social distancing“ als Therapeutikum, 9/11 2001 säte das Misstrauen gegen fundamentalistische Religionsformen, ganz zu schweigen von den privaten Einbrüchen von Kontingenz zwischendurch. Aber neu ist im Jahr 2020 tatsächlich, dass die ganze menschliche Welt gleichermaßen betroffen scheint – lediglich scheint, weil in Wahrheit die Gefährdung sozial ausdifferenziert ist und das Risiko nicht nur mit dem Alter, sondern auch mit der Armut der strukturell unterentwickelten Länder und dem Zustand des Gesundheitssystems korreliert. Das steigert – weltweit gesehen – die Erfahrung des Ausgeliefertseins ans Schicksal für die Mehrheit nochmals – abhängig von der zufälligen Beheimatung in der eigenen Region und ihrer jeweiligen Gesundheitspolitik.
Man sollte meinen, die Religionsgemeinschaften könnten als typische Krisengewinner aus dieser Katastrophe hervorgehen. Billigten ihnen bisher doch sogar namhafte Soziologen zu, für die Verarbeitung beziehungsweise ‚Bewältigung‘ von Kontingenz zuständig zu sein. Bei früheren Gelegenheiten und Naturkatastrophen funktionierte das bisher auch immer mehr oder weniger gut: Die Pest förderte die Frömmigkeit, der dreißigjährige Krieg bescherte einen Lieddichter wie Paul Gerhardt, nach Zugunglücken und Tsunamis haben Trauergottesdienste Hochkonjunktur. Doch diesmal hat es Kirchen, Geistliche und Gemeinden auf dem falschen Fuß erwischt: Ihr gängiges Instrumentarium, mittels Wort und Ritual deutend des Einbrechens von Kontingenz einigermaßen Herr zu werden, funktioniert nicht mehr richtig. Die Resonanzwirkung von herzerwärmenden Kerzen, anrührenden Klängen, Worten und Gesang ist eben auf leibliche Kopräsenz angewiesen – wie der Segenszuspruch auf die Berührung durch die segnenden Hände.
Die Unterbrechung ist diesmal so radikal, weil sie die Axt sowohl an die Wurzel modernen Selbstverständnisses legt – den Glauben an die unendliche Selbstmächtigkeit des Menschen – als auch die bislang noch sozial geteilten Artikulationsformen einer Resonanz dem Unverfügbaren gegenüber abschneidet. Allein und ohnmächtig zuhause – da ist wirklich guter Lebenskunstrat teuer.
Andererseits: Die große Unterbrechung bietet Chancen echter Lebenskunst. Aus dem Tritt zu geraten, ja selbst Abstürzen kann neue Lebensperspektiven eröffnen. Wer immer nur der oder die Gleiche bleiben will, ist von Lebenskunst weit entfernt. „Du hast Dich gar nicht verändert“ - das ist die ultimativ vernichtende Rückmeldung zur eigenen Lebenskunst. Wo die Not wächst, kann Leben neu entstehen. Die „Erschütterung des Selbst“[1] erweist sich daher als besonders produktiver Ausgangspunkt lebenskünstlerischer Therapeutik und Seelsorge.
„Lebenskunst setzt eine negative Erschütterung voraus, die es unmöglich macht, in der bisherigen Form weiterzuleben.“[2]
Was die theologische Tradition als in der Gottesbegegnung erfahrene Bekehrung beschreibt, nimmt die psychotherapeutische Lebenskunstbetrachtung als Identitätserschütterung in den Blick. Existentielle Enttäuschungen und Infragestellungen des bisherigen Lebens, individuelle wie kollektive Krisen und Katastrophen werden zu Katalysatoren der eigenen Neuorientierung.
Kleine Phänomenologie der Unterbrechung
Unterbrochen werden kennt vielfältige Formen: vom Ins-Wort-Fallen bis zur vollständigen Isolation der Folterkammer. Vieles davon ist lästig, störend oder zerstörerisch, manches heilsam. Früher unterbrach das Testbild im Fernsehen den Sendefluss in der Nacht und signalisierte: Alles hat seine Zeit, auch der Schlaf. Die Unterbrechung wirkte der Maßlosigkeit des Konsums entgegen. Das Fasten in der Kar- oder Adventszeit hatte ursprünglich auch diese Aufgabe: Zeit zurück zu gewinnen für das, was auch lebens-not-wendend ist. Die religiös-rituellen Unterbrechungen werden heute im Raum westlicher Konsumgesellschaften allerdings kaum mehr ausgehalten. Stattdessen wählt man die eskapistischen Möglichkeiten des Reisens und der Urlaube. Allerdings begegnet man dort dann meist nur den gleichen Erlebnisimperativen wie zuhause – nur in anderen Kontexten – und liefert sich ihnen bereitwillig aus. Gerhard Schulze hat das schon Anfang der 1990er-Jahre als Erlebnisspirale beschrieben, die sich unaufhaltsam weiterdreht. Die in den 1960er-Jahren und später Geborenen sind Kinder dieser Erlebnisgesellschaft geworden. Die Digitalisierung des Alltags hat diese Spiralbewegung weiter angetrieben. In den Tiefen des Netzes ist nie Pause. So wird die Ewigkeit als unaufhörliche Daueraktivität simuliert.
Jede Zeit hat ihre charakteristische Krankheit: Das Burnout ist die modische gesundheitliche Variante der Unterbrechung, die sich die Seele erzwingt. 2020 wirkt nun wie die weltweite Einlösung der aufgestauten Sehnsucht nach einem kollektiven Burnout. Endlich einmal ein paar Wochen Ruhe – so tönten diejenigen, die es sich leisten konnten. Doch rasch entpuppte sich diese Hoffnung als trügerisch und wurde überholt durch den dringlichen Systemimperativ, nun auf Internet-Aktivismus und digitale Medienkommunikation umzustellen. Das kostet Energie – nicht nur die der Stromerzeuger. Allein die Kunst machte (überwiegend) Pause – und setzt so (eher ungewollt) ein Zeichen.
Die Generalpause - Unterbrechung als ästhetische und religiöse Erfahrung
In ästhetischer Erfahrung ereignet sich etwas, was das Subjekt aus der Bahn werfen und auf eine neue Spur setzen kann. Hier kann es zur Entsicherung der Selbsterfahrung kommen, zu Horizonterweiterungen und neuen Weisen des Verstehens. Im Selbstvollzug ästhetischer Erfahrung finden eigene Passivität und Selbstgenuss zusammen. Hier fällt etwas zu, das ich nicht allein selbst steuern kann. Unverfügbares wird bewusst, neue Möglichkeitsräume scheinen auf.
Als rhythmischer Zeitkunst ist der Musik die Fähigkeit zur Unterbrechung wie die Endlichkeit schon formal eingeschrieben. Vor allem in der rhythmischen Gestaltung, aber auch in Melodik und Harmonik spielt die Kompositionskunst mit der Unterbrechung: einmal im wörtlichen Sinn als Pause, dann im metaphorischen Sinn als überraschende Enttäuschung von Hörerwartungen. Die Hör-Erfahrung solcher produktiven Enttäuschungen stimuliert ästhetische Erfahrungen besonderer Art, die auf das Selbstverständnis des hörenden oder musizierenden Subjekts zurückwirken können. Zum einen kann der Akt des Hörens oder Musizierens selbst schon dem Alltag entheben und entrücken. Musik unterbricht dann den Alltagstrott und begleitet ihn nicht nur, wie es allerdings auch häufig der Fall ist. Sie reißt heraus aus linearer Zeitsklaverei, verdichtet und sprengt die Zeit in Klängen und Rhythmen. Zum anderen kann in der musikalischen Struktur selbst die Pause und Unterbrechung des Flusses produktiv aufmerken lassen. Generalpausen innerhalb der Motive etwa einer klassischen oder romantischen Symphonie (nehmen wir einmal Beethoven oder Bruckner) erhöhen die Spannung der motivischen Linie. Man hört innerlich zurück und zugleich schon voraus. Das Hören stellt auf gespannte Erwartung um.
Die Stimulierung von Erwartungen ist einer der Aspekte ästhetischer Erfahrungen, der die Brücke zu religiösen Erfahrungen zu schlagen imstande ist. Der Kulturphilosoph George Steiner hat diese erwartungsvolle Ausgespanntheit so zu fassen versucht, dass er die Kunst und Musik als eine Kunstform des (Kar-)Samstags metaphorisch beschrieb (wobei vorausgesetzt wird, dass der Sonntag als Auferstehungstag Jesu Christi die Realisierung und damit die Vorwegnahme der Hoffnung darstellt. Botho Strauß fasst zusammen: „Weder am Tag des Grauens noch am Tag der Freude wird große Kunst geschaffen. Wohl aber am Samstag, wenn das Warten sich teilt in Erinnerung und Erwartung.“[3]
Damit wäre der (Kar-)Samstag der eigentliche Tag der großen Unterbrechung, der produktiven Pause. Wer ästhetische Samstagserfahrungen macht, könnte auch sonst für die eigene Lebenskunst einen Gewinn daraus ziehen.
„Wir müssen bereit werden, uns von Gott unterbrechen zu lassen.“[4]
Sich in der eigenen Zeitgestaltung, den eigenen Plänen und von Menschen mit deren Ansprüchen in Notlagen unterbrechen zu lassen, darin sah Dietrich Bonhoeffer im Jahr 1938 (im Rückblick auf seine Zeit der Leitung des Finkenwalder Predigerseminars) einen wichtigen Grundzug christlicher Spiritualität und Lebenskunst. Der katholische Theologe Johann Baptist Metz (1928-2019) wiederum hat ‚Unterbrechung‘ als die kürzeste Definition von Religion ins Spiel gebracht.[5] Das mag im Blick auf die Vielfalt religiöser Phänomene zu einseitig sein, doch etwas Wesentliches ist damit doch benannt: Nur wer innehält und sich unterbrechen lässt, gewinnt die nötige Distanz zum eigenen Leben, die es ermöglicht, sich neu zu orientieren und das eigene Leben unter neuer Perspektive zu ‚lesen‘.
Die erste Schöpfungsgeschichte der Bibel endet mit einer Selbstunterbrechung Gottes: Nach seinem Schöpfungswerk hält er inne, unterbricht den Fluss der Entwicklung des Lebens, um zurück und vorwärts zu schauen: und siehe, es war sehr gut, es wird weiter gut sein. Eine tiefe Weisheit liegt in dieser schöpfungstheologischen Spekulation: Das fortwährende Schöpfungshandeln Gottes, das ja mit den ersten sechs Tagen nicht zu Ende ist und sich auf andere Weise permanent fortsetzt (creatio continua nennt das die dogmatische Tradition), braucht das Innehalten, um zum Ziel zu kommen. Denn am Sabbat gilt es, die Erinnerung zu ordnen, um dann wieder aufbrechen zu können. Für Christ*innen ist allerdings der Sonntag zum Symbol der großen Unterbrechung geworden. Er gilt als der Auferstehungstag Jesu Christi. Es ist der Tag nach dem jüdischen Sabbat, an dem damals für die Jünger des Galiläers alles ruhte, auch die Hoffnung. Der Sonntag ist näher am Aufbrechen als am Aussetzen. Er bringt in Bewegung – die Jünger auf dem Gang nach Emmaus, die Frauen, die vom Grab weglaufen, um die Auferstehungsbotschaft zu verkünden. Der Sonntag dynamisiert, weil er die Überwindung der Zwangsunterbrechung am Karsamstag bereits im Rücken hat. Noch im säkularisierten Fortschrittsmythos der Moderne steckt etwas von dieser Aufbruchsdynamik. Sie überdreht allerdings ins Endlose, wo sie den Sabbat vergisst.
Heilsame Unterbrechung als Aufgabe der Lebenskunstseelsorge und christlichen Therapeutik
In der kollektiven (Corona-)Krise wäre demnach therapeutische und seelsorgliche Karsamstagskunst gefragt: Den Karfreitag wirklich in den Blick nehmen, nicht vorschnell die Krise schönreden und durch oberflächlichen Optimismus übertünchen. Die eigene Endlichkeit, wie sie am Karfreitag selbst am Sohn Gottes sich realisierte, mit offenem Visier in den Blick nehmen. Da ist zunächst zu erfahren und durchaus auch zu beklagen, dass wir eben nicht die Herren der Zeit und der Zukunft sind.
„In diesem Sinne zielt die Lebenskunst vor allem auf den Umgang mit den Erfahrungen der Endlichkeit, in denen aufscheint, wie wenig souverän die Menschen angesichts der Zeit sind.“[6]Die große Unterbrechung des Karsamstags fällt jedoch auch mit dem jüdischen Sabbat zusammen. Und wird deshalb – in der christlichen Glaubenstradition – vom Sonntag als Tag der Auferstehung ‚überholt‘. Daher kann es bereits am Tag der Grabesruhe zugleich erste Zeichen der Hoffnung geben. Sie zuzulassen und den Möglichkeitssinn der Hoffnung zu kultivieren, gehört daher genauso zur samstäglichen Lebenskunst wie die Klage und Kultivierung der eigenen Sterblichkeit. Lebenskunstseelsorge – egal ob als religiöse oder als säkular-therapeutische – hätte sich in solchen Karsamstags-Unterbrechungen zu üben und sie ins Spiel der Selbsterfahrungen einzuspielen – mit allen Mitteln religiöser, ästhetischer und ritueller Unterbrechungskunst.
[1] Vgl. den Abschnitt zu dieser Überschrift bei: Günter Gödde/Jörg Zirfas, Therapeutik und Lebenskunst. Eine psychologisch-philosophische Grundlegung, Gießen 2016, 636-644.
[2] A.a.O., 636.
[3] George Steiner, Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? Mit einem Nachwort von Botho Strauß (aus dem Engl. Von J. Trobitius) (Edition Akzente), München/Wien 1990 (orig. London 1989), 318.
[4] Dietrich Bonhoeffer, Gemeinsames Leben/Das Gebetbuch der Bibel (DBW 5), Gütersloh 3. Aufl. 2008 (zuerst 1987/1939), 84.
[5] Vgl. Metz, Johann Baptist: Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie, Mainz 5. um ein neues Vorwort erweiterte Auflage 1992, 166.
[6] Gödde/Zirfas, Therapeutik, 644.
Peter Bubmann
Peter Bubmann ist Professor für Praktische Theologie (Religions- und Gemeindepädagogik) im Fachbereich Theologie an der Friedrich Alexander Universität Erlangen.