Gott ist zielstrebig (V)

Günter Thomas denkt angesichts der Coronaepidemie über Theologie nach
Gottesdienst-Streaming in der Corona-Krise
Foto: epd

Theologie in Coronazeiten! Günter Thomas, Professor für Systematische Theologie an der Ruhr-Universität Bochum, geht mit Fragen und Antwortversuchen ins Risiko. Heute der fünfte und letzte Teil über die Protestantische Ethik.

Am Mittwoch waren wir bis zur Christlichen Hoffnung gekommen. Heute schließe ich mit einigen Erwägungen zur evangelischen Ethik. Wer alle fünf Teile am Stück lesen will, der findet unter diesem Teil einen Link zum Gesamttext. Doch jetzt zur Ethik:

Die Coronakrise entlarvt die vielen David Copperfields der evangelischen Ethik als das was sie sind: Illusionisten für gute Zeiten. Und sie wird zunehmend auch die religiösen Chauvinisten demaskieren. Die Krise deckt einen schwer lösbaren Grundkonflikt des 21. Jahrhunderts auf.

Gegenläufig zu den Träumen der politischen, kulturellen und religiösen Kosmopoliten macht die Krise leider unbarmherzig klar: Solidargemeinschaften sind begrenzte Gemeinschaften. Wollte man die Gegenwart mit einem ethischen Fachbegriff belegen, so müßte man von einer Wiederauferstehung naturrechtlicher Einsichten sprechen. Dies ist zunächst nur eine Beobachtung, keine Würdigung. Enkel sorgen im Raum der Familie für die Großeltern. Die Nachbarschaft oder die Straße wird zu einem Ort gelebter Solidarität. Das Quartier, das nichts anderes ist als das Dorf in der Stadt, wird zum Fürsorgeraum. Die Stadt, die Polis organisiert die Krankenversorgung. Die imaginierte und modernisierte Brauchtumsgemeinschaft („Wir in Bayern“) ordnet für sich die Dinge. Zentren des Multikulturalismus sind langsamer. Der Nationalstaat schließt die Grenzen und verbietet den Export von Masken und Schutzanzügen.

In dem Moment, wo Humanität nicht nur moralisch gefordert wird, sondern organisiert werden muß, geschieht dies soziologisch zwingend in begrenzten Organisationseinheiten. Reale Verantwortung, die praktiziert wird und die auch erwartet werden kann, geschieht notwendig in begrenzten Verantwortungsräumen. Organisationen schließen immer ein und aus. Deren Grenzen sind nicht starr, sondern vielfach beweglich und verhandlungsoffen. Aber an diesen Grenzen enden Entscheidungen und Zuständigkeiten. Nicht selten sind die verschiedenen Verantwortungsräume in einander verschachtelt, so dass sich Verantwortungen und Entscheidungskompetenzen überlagern und neu herausbilden können. Hinzu kommt, dass sich jeder Mensch zumeist in mehreren Verantwortungsräumen zugleich bewegt.

In der kollektiven, ja globalen Notsituation geschieht nun etwas mehr oder weniger Überraschendes: a) Effiziente Organisation, b) reale Verantwortungsübernahme in begrenzten Verantwortungsräumen und c) natürliche Gemeinschaften ziehen sich gegenwärtig magnetisch an.

Die partikularen Verantwortungsräume müssen keine natürlichen Gemeinschaften sein, aber die Anziehungskräfte sind schon bemerkenswert. Dies ist – theologisch ethisch betrachtet – zugleich Lösung und Problem.

Ernüchternd und auch für viele bitter ist die Einsicht: Sehr große Verantwortungsräume sind nur dann unter Zeitdruck effizient, wenn sie nicht partizipatorisch, sondern wie Diktaturen organisiert sind. 1,5 Milliarden Menschen lassen sich nicht via Stuhlkreis organisieren. Die EU versucht auf ihre Weise vergeblich ein Gegenbeispiel zu sein. Wer die Kraft der Selbstorganisation nutzen möchte und muß, kann die Organisationseinheiten nicht zu groß werden lassen. Die Frage ist, wie sich  Cluster der Selbstorganisation hinreichend koordinieren lassen. Ethisch heißt dies, dass es pointiert unbegrenzte Verantwortung, gar Weltverantwortung nicht gibt. Das ist die desillusionierende Kraft der Coronakrise. Ja, es gibt kein wirklich verantwortliches Handeln, das in seiner Begrenzung nicht in einer Triage-Konstellation steht und hierin schuldig wird.

Die moralische Klarheit und Helle weicht zwangsläufig den schwierigen Grautönen: Ist die Entscheidung der Bundesregierung, den Export von Schutzmasken und Schutzanzügen zu verbieten ein verantwortlicher Akt der Fürsorge für die deutsche Nation oder angesichts der Not anderer Länder ein Akt des nationalstaatlichen Chauvinismus? Was wäre die Alternative? Grenzenlose Empathie drückt sich notorisch vor der Triage-Situation der Entscheidung, eben vor der Grenze.

In der Coronakrise läuft auch das von der EKD so gerne zur Versöhnung von Evangelium und Politik hoch gepriesene Schiff der Goldenen Regel auf das scharfkantige Riff der Entscheidung: Wer ist der andere, den ich so behandeln soll, wie ich von ihm behandelt werden möchte? Wer hier alle sagt, drückt sich vor der notwendigen Entscheidung. Umgekehrt formuliert: Wieviel Selbstbehauptung und Selbstdurchsetzung natürlicher Gemeinschaften ist wichtig und richtig – auch für eine Kirche, die selbstlose Liebe predigt und eine Theologie, die Liebe als freie Selbstzurücknahme zugunsten anderer begreifen möchte? Welcher anderer? Wer soll die bisher nicht exportierten Schutzmasken nun bekommen? Das Problem notwendig ausgrenzender Solidarität und unausweichlich begrenzter Liebe ist nicht neu. Schon in der Flüchtlingskrise haben sich beide Kirchen vor diesen Einsichten mit viel Pathos weggeduckt. Die Coronakrise rückt dieses Problem allerdings in den Vordergrund und beleuchtet es grell.

Theologisch gilt es, die Macht der Solidaritätsgemeinschaften anzuerkennen – wenngleich nicht unkritisch. Gegen sie theologisch nur zu polemisieren und dann doch in Anspruch zu nehmen ist ein leicht durchschaubarer Selbstbetrug. Sie sind aber nicht zu idealisieren oder gar religiös zu überhöhen. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes komplexe Notlösungen.

Sie adressieren eine Not und bieten in ihren Grenzen Lösungen. Aber sie sind keine Ideallösung. Und ihre Lösung ist zugleich Anzeige einer Not. Diese innere Spannung ist in der Krise anzuerkennen und zu leben. Das heißt aber in der Coronakrise auch, dass die Kirche praktisch sehr deutliche und extravagante Zeichen einer grenzüberschreitenden Fürsorge setzen muß. Angesichts der in Staaten ohne effektives Gesundheitssystem aufziehenden Coronakrise ist mehr als ein Rettungsboot notwendig. Die afrikanischen Staaten benötigen zehntausende Beatmunggeräte. Die Kirche ist unausweichlich Teil von gewachsenen Solidaritätsgemeinschaften und nimmt doch zugleich an Gottes grenzüberschreitender Fürsorge teil. Wie das Exportverbot für Schutzausrüstung deutlich macht, gibt es in den nächsten Wochen und Monaten keine moralisch lupenreinen Entscheidungen. Wenn es in Zeiten der Coronakrise zu einer organisatorisch notwendigen Revitalisierung des Nationalstaates kommt, ist insbesondere die Kirche herausgefordert, ohne Anklage der Politik selbst die weltweite Ökumene zu leben. Ohne Zweifel strahlt diese dann in die Politik aus. In der gelebten Solidarität mit dieser Welt und ihren stets ambivalenten Gemeinschaften lebt dann die Kirche mit grenzüberschreitender Liebe machtvolle Zeichen, sichtbare und effektive Gleichnisse einer kommenden Welt. Die Ethik ist immer der Lackmustest für die Gestalt der christlichen Hoffnung.

Theologie und Kirche werden in der sich noch weiter verschärfenden Krise gut beraten sein, nicht gegen ausgrenzende Solidaritätsgemeinschaften moralisch anzunörgeln. Jetzt die moralische Agentur zu spielen und als Verstärker appellativer Moral zu dienen, wäre geradezu ein selbstmörderisches Unterfangen. Gefragt ist theologische und ethische Ehrlichkeit. Die Nerven liegen ohnehin blank. Die Verantwortungsträger brauchen keine Rat-Schläge. Das Evangelium ist für die Verantwortungsträger auch eine Einladung, Fehler zu riskieren.

Die Kirche darf in allen Kooperationen nicht vergessen zu sagen, was nur sie sagen kann. Ethisch wird es darauf ankommen, auf allen Ebenen der Organisation Kirche den unausweichlichen Konflikt zwischen ausgrenzender Solidarität und grenzüberschreitender Humanität oder gar Liebe im Auge zu behalten, bewußt und lebendig, ohne Empörung und ohne sich wegzuducken.

Eine letzte selbstkritische Notiz ist noch notwendig. Die Kirchen sangen in den letzten Jahren laut im Chor der Biotechnologiekritiker mit. Fakt ist, dass eine Impfung gegen COVID-19C aus irgendeiner Biotechnologieschmiede kommen wird.  Was ist riskanter? Die biotechnologische Entwicklung oder mutierende Viren? Vielleicht hat neben der einen oder anderen Partei auch die Kirche an diesem Punkt in ihrer Ethik zu wenig die Nacht- und Schattenseiten der naturalen Schöpfung sehen wollen. In der Hängematte eines hoch entwickelten Gesundheits- und funktionierenden Sozialsystems liegend lassen sich gut romantische Vorstellungen von Natur pflegen. Ein letztes Wort muß hier und heute nicht zu sprechen sein. Aber auch an diesem Punkt stellt die Coronakrise der Kirche und der Theologie unangenehme Fragen, die auf eine Antwort warten.

Als Christen glauben wir an einen Schöpfer, der diese Welt gut, aber nicht perfekt geschaffen hat. Diese gute Schöpfung entfaltet sich auch abgründig frei, aber Gott begleitet sie. Auf Gottes Seite arbeiten Christen gemeinsam mit vielen Menschen an der Begrenzung des Chaos und der Dunkelheiten, die diese Schöpfung und so auch unser Leben enthalten. Auch ohne Gottesdienste feiern wir am kommenden Osterfest eine neue Welt Gottes ohne Schmerzensschreie, ohne Leid und ohne Tod. Verwegen und trotzig hofft die Kirche auf eine neue Welt Gottes, in der die Nächte der Krankheit nicht mehr sein werden. Aber wir werden nicht nur als einzelne Christen, sondern auch als Kirche stets zurückgeworfen auf den Text der Jahreslosung für 2020. Angesichts der Not von Krankheit, Leid und Tod rufen wir Menschen: „Herr ich glaube. Hilf meinem Unglauben!“ Als Kirche leben wir die Polyphonie des Glaubens. Wie leben in diesen herausfordernden Wochen letzten Endes von dem Versprechen Gottes, dass er auch in Zeiten der Not dieser Welt zugewandt bleibt und in seinem Geist mitten unter uns ist.

Hier können Sie die fünf Teile von „Gott ist zielstrebig“ an einem Stück lesen

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