Lernen von den Alten

Seelsorge für ein gutes Leben nach Corona
Foto: Harald Oppitz

Corona stürzt auch die Seelen in eine Krise. Wie können wir mit der drohenden Traumatisierung eines ganzen Landes umgehen? Indem wir reden mit denen, die so etwas schon mal erlebt haben.

„Entdecken Sie Formate, die Menschen trösten, die zu Hause bleiben müssen“, hatte ich die Vikarinnen und Vikare am Ende der Seminarwoche zum Thema Seelsorge gebeten. Kurz darauf überschlugen sich die Ereignisse. Das Theologische Seminar wurde geschlossen, Gottesdienste sind verboten und aus der Anregung wurde eine dringende Notwendigkeit um die seelsorgliche Betreuung in den Gemeinden weiter zu gewährleisten. Mit organisierten Nachbarschaftshilfen, medialen Gottesdiensten und Andachten, mit Gebeten und Anrufen bei alten Menschen leisten die Kirchen in Deutschland viel. Ganz besonders berührend finde ich die von Italien inspirierte kreative Idee, in einer konzertierten Aktion jeden Abend vom Balkon aus das Lied „der Mond ist aufgegangen“ zu singen.

Inzwischen denke ich darüber nach, was die Herausforderungen für die Seelsorge nach Corona sein werden. Ich bete darum, dass wir vor italienischen Verhältnissen verschont bleiben. Die Seelsorgerinnen und Seelsorger in Italien stehen vor unglaublichen Herausforderungen. Der Anblick der Militär-Lastwagen, die mit Leichen beladen zu den örtlichen Krematorien rollen, spricht für sich. Von persönlichem Abschied, von geteilter Trauer, ja von irgendeiner Trauer“kultur“ kann da kaum noch die Rede mehr sein. Eine solche Situation muss zu einer landesweiten Traumatisierung führen. Mag sein, dass für die eine oder den anderen eine Trauerfeier im kleinsten Kreis kein Problem darstellt. Doch für viele verhindert die derzeitige Einschränkung auf fünf Personen pro Beerdigung einen wichtigen Abschied im Familien- und Freundeskreis. So sinnvoll die Anordnung ist, so tapfer die Angehörigen und die Gesellschaft insgesamt dies tragen – es ist eine Krise für viele Seelen. Und nicht jeder verfügt über die Ressourcen, diese Krise gut zu bewältigen.

Corona ist – so die Bundeskanzlerin – die größte Herausforderung seit dem 2. Weltkrieg. Leider sind die Generationen fast ausgestorben, die uns davon erzählen können, wie sie persönlich mit dieser letzten riesigen Krise umgegangen sind und was ihnen damals geholfen hat, die Traumata des 2. Weltkriegs zu überstehen. Oder auch, was dies verhindert oder gestört hat… Ganz sicher war von organisierter Traumaverarbeitung nach dem 2. Weltkrieg keine Rede. Buchstäblich nicht, denn in sehr vielen Familien wurde nur geschwiegen. Glücklicherweise haben meine Großmutter und meine Eltern viel erzählt. Doch leider habe ich mir nicht alles behalten. Ich erinnere mich, dass mein Vater von den vielen Leichen berichtete, die nach einem Bombenangriff aus einem Keller geborgen wurden. Doch ich habe ihn nie gefragt, ob er bei deren Beerdigung dabei war oder wie seine Eltern über die Bestattung von Bombenopfern gesprochen haben. Da mein Vater vor einem Jahr gestorben ist, kann ich das auch nicht mehr nachholen.

Vielleicht ist es eine gute Idee, diejenigen zu fragen, die noch davon erzählen können. Mein Mann berichtet, dass seine alten Nachbarn so dankbar sind, dass er für sie gerade die Einkäufe erledigt, die sie nicht tätigen können. „Wir können uns gar nicht revanchieren,“ klagen sie. Ich glaube, ich habe da eine Idee. Sie könnten erzählen, wie sie damals alles bewältigt haben. Gab es Trauerfeiern für die Vermissten? Wie wurde an diejenigen erinnert, die in fernen Ländern beerdigt wurden? Welche Rituale waren hilfreich? Und welche Sprüche konnte man am Ende nicht mehr hören? Diese Erinnerungen können wichtige Impulse geben, von denen wir Jüngeren lernen können. Möglicherweise ist es ja sogar eine wenn auch späte seelsorgliche Hilfe, die Alten erzählen zu lassen.

Es gibt ein Leben nach Corona. Ich möchte, dass es ein gutes Leben sein kann. Und ich möchte, dass Seelsorge dazu beitragen kann.

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Foto: Harald Oppitz

Angela Rinn

Angela Rinn ist Pfarrerin und seit 2019 Professorin für Seelsorge am Theologischen Seminar der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in Herborn. Sie gehört der Synode der EKD an.


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