Gott ist zielstrebig (III)

Günter Thomas denkt angesichts der Coronaepidemie über Theologie nach
Gottesdiesnt in der leeren Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche
Foto: epd
Übertragung eines Gottesdienstes aus der für Publikum gesperrten Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin.

Das theologische Nachdenken in Coronazeiten! Günter Thomas, Professor für Systematische Theologie an der Ruhruniversität Bochum, geht mit theologischen Fragen und Antwortversuchen ins Risiko. Heute seine Erwägungen zur Christologie und zur Kirche.

Am Freitag kamen wir bis zur Anthropologie. Heute geht es mit Christologie weiter:

Der Gang in die Fleischlichkeit zeigt die Tiefe der Menschwerdung Gottes in Christus an. Mit dem Christusereignis reagiert Gott auf die untragbaren Risiken der evolutionär sich entfaltenden Schöpfung und Geschichte. Christus kommt in eine Welt der Gewalt. In einer direkten Linie mit dieser tiefen Menschwerdung ereignen sich die Krankenheilungen Jesu. In den Wundern der Heilung adressiert Christus die untragbaren Risiken der biologischen Evolution. Weit davon entfernt, nur Vollmachtszeichen zu sein, sind die Heilungen Interventionen. Sie zeigen die Aspirationen Gottes an, seine Absichten und Ziele mit verletzlichem Menschsein. Der Theologe Karl Barth hat in den 1960iger-Jahren, als große Debatten über die Wunder Jesu geführt wurden, auf einen einfachen Sachverhalt hingewiesen: Das eigentliche Wunder ist, dass sich in Christus Gott den realen leiblichen Nöten der Menschen zuwendet. Der Weg in die schmutzige und leiddurchsetzte Leiblichkeit ist das Wunder. Bemerkenswert sind drei Aspekte:

Erstens: Es ist eine echte Leidenschaft des Erbarmens. Nur im Zusammenhang mit dem Krankheitstod des Lazarus wird erzählt, dass Jesus weinte. Die Krankheitsnot bewegt Gott.

Zweitens: Die in den Heilungen sich dokumentierende Liebe ist so verschwenderisch, dass sie nicht notwendig nach Glaube fragt. In dieser radikalen Zuwendung werden Grenzen der Glaubens, Grenzen der Kirche überschritten.

Drittens: Speziell die Heilungen Jesu am Sabbat, dem Tag an dem Gott selbst ruht, zeigt eine schöpferische Unruhe Gottes an, die in die Richtung der Neuschöpfung drängt. Gott ruht nicht, sondern heilt. Er schafft neu, wenngleich im Horizont der endlichen Welt.

Schon für die Hoffnung der ersten Christen war wesentlich, dass nach dem Ostermorgen das Grab leer war. Der Christus, der auch den „Tod der Natur“ (Jürgen Moltmann) starb, wurde auferweckt. Das leere Grab zeigt an, dass die Leiblichkeit der Existenz nicht abgestreift wurde, sondern ganz in das Auferstehungs- und Verwandlungsgeschehen hineingenommen wurde. Der Schlüssel zur theologischen Verarbeitung der destruktiven Seiten des Lebens ist darum das Verhältnis zwischen Kreuz und Auferstehung. Die Auferweckung des Gekreuzigten ist auch Gottes Protest gegen Prozesse der Viktimisierung und der Abwesenheit von Gerechtigkeit. Es ist ein Nein Gottes gegen alle lebenszerstörende Gewalt in der Schöpfung. Es ist ein Ja Gottes für dieses jesuanische Leben der vielgestaltigen Zuwendung zu den untragbaren Risiken der Schöpfung.

Kirche

In ihrem Reden und Handeln nimmt die Kirche beide Dimensionen des jesuanischen Reden und Handelns auf: Die Sorge um Heilung wie auch die Sorge um die Reich-Gottes-Verkündigung. Mit beidem nimmt die Kirche an der Sendung Jesu teil. Nicht umsonst haben die christlichen Gemeinden stets auch Spitäler gebaut. In der Gegenwart ist die Kirche in dieser Sorge um das reale Wohl von Menschen gleich in zweifacher Weise mit einer problemschaffenden Lösung konfrontiert. Das Zeugnis der Nächstenliebe ist weitestgehend an die professionelle und vielfach unternehmensorientierte Diakonie delegiert. Dieses Zeugnis der staatlich geförderten Unternehmensdiakonie findet darüber hinaus in einem entwickelten fürsorglichen Sozialstaat statt. Die Coronakrise könnte an diesem Punkt ähnlich wie die Flüchtlingskrise im Jahr 2015 aber auch Möglichkeiten einer gemeindenahen Diakonie eröffnen – wäre da nicht das Problem der sozialen Distanzierung. Dennoch werden die Anforderungen der nachbarschaftlichen Unterstützung im Quartier so steigen, dass sich trotz der Distanzierungsnotwendigkeit kreativ notwendige und ausstrahlungsstarke Initiativen entwickeln werden.

Es sind solche Krisenzeiten, die eindrücklich sichtbar machen, in welch großen Koalitionen und Bündnissen die Kirchen an den Nachtseiten des Lebens arbeiten. Die Organisationen und die Menschen in diesen Koalitionen reparieren die Welten jeden Tag! Sie bedürfen der Wahrnehmung und ausgesprochenen Würdigung, auch auf der ganz lokalen Ebene und speziell in den kommenden Krisenwochen.

Eine ganz besondere ethische Herausforderung für die Kirche wird sein, in Zeiten einer Wiederentdeckung des Nationalstaates als Verantwortungsraum auf die grenzüberschreitende Zuwendung Gottes zu verweisen. Dies kann nur beispielgebend geschehen, nicht als moralische Forderung.

In diese Bündnissen und Partnerschaften der Kirche darf allerdings nicht untergehen, dass die Kirche in dieser Krise etwas beizutragen hat, das nur sie selbst einspielen kann: Mit Gott reden, mit Gott verhandeln. Aufgabe der Kirche in der Coronakrise ist es, einen Raum für die Polyphonie des Glaubens zu erhalten und anzubieten. In der Polyphonie des Glaubens wird die Kirche ein Raum, in dem in der Gestalt der ehrlichen und wütenden Klage, der Gestalt der erschöpften Bitte, auch in der Gestalt des mutigen Dankes und nicht zuletzt in der Gestalt des verwegenen Lobes geglaubt wird.

Das heißt konkret, dass die Kirchen Gott um seinen Geist des Trostes für alle Kranken bittet. Sie bittet um Gottes Geist der Kraft für alle, die für andere sorgen. Und nicht zuletzt bittet sie Gott um seinen Geist der Barmherzigkeit für alle Gesunden. Als Glaubende klagen Christen aber auch Gott die Not, die diese Pandemie in so viele Menschenleben bringt. Sie klagen Gott, dass das Chaos in Gestalt solcher Dunkelheiten diesen Raum nimmt. Die Gemeinden haben die Freiheit Gott zu danken für alle Menschen, in denen in diesen Tagen die Segenskräfte der Fürsorge, Solidarität und der Liebe wirken. Und es finden sich hoffentlich auch Menschen, die in dieser Krise im Lob Gottes wirklich verwegen eine Radikalität des Angewiesenseins auf Gottes rettende Lebendigkeit leben und formulieren können. In allen Vollzügen der Polyphonie des Glaubens handeln Christen auch stellvertretende für all die Menschen, die im Krankheitsleiden die Zerstörung des Lebens erleiden, aber die Sprachen des Glaubens nicht mehr finden.

All dies heißt nicht, dass es nicht auch die Möglichkeit geben kann, dass die Kirche mutig und ehrlich schweigt. So richtig dies ist, so sehr bietet eine Krise wie diese weltweite Pandemie aber auch eine erstaunlich produktive Provokation: Es ist die irritierende und tröstliche Einsicht, dass die Kirche stets mehr bezeugt, als sie selbst leben kann. Die kirchliche Rede von der Gegenwart Gottes in Christus und im Geist kann in einer solchen Krise nur verwegen, ja vielleicht richtig trotzig sein. Die Kirche bezeugt – dies selbst eingestehend – „Unglaubliches“ und gegenwärtig „Unglaubwürdiges“, nämlich Gottes Güte. Dies ist eine Gratwanderung und natürlich bei Licht betrachtet eine paradoxe Form, analog der Jahreslosung: „Herr ich glaube, hilf meinem Unglauben“. Aber dies ist eben die Pointe des reformatorischen Kirchenverständnisses. Und es ist die Pointe der theologischen Behauptung, dass sich Gott nur selbst erschließen, beglaubigen und vergegenwärtigen kann. Das heißt, dass die Kirche als Zeugin ein Wort sagt, an dem sie selbst auch zweifelt.

Deshalb bittet die Kirche um den Geist, genau dann, wenn sie predigt und wenn sie die Öffentlichkeit anspricht. Die Kirche hat dann die Chuzpe, Dinge zu sagen, die sie selbst kaum glauben kann. Dies ist, wie gesagt, eine notwendige Gratwanderung zwischen einer unglaubwürdigen „pausbäckigen Gewissheit“, die nichts anderes ist als eine äußerst beredte Sprachlosigkeit einerseits und dann andererseits einem Fatalismus, der nur religiös frisiert ist. Diese hoffnungsvolle Ehrlichkeit wirkt befreiend, sowohl auf die vielen unruhig in der Kirche fragenden Menschen wie auch auf die außerhalb der Kirche skeptisch fragenden Menschen.

Soweit für heute. Am Mittwoch kommen wir dann zu Gottes Geist, zur christlichen Hoffnung und darauf fußend zur Protestantischen Ethik!

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