Ins heilignüchterne Wasser

Der Dichter Hölderlin. Unverfügbar, rätselhaft, faszinierend
Rainer Ehrt (1960): „Hölderlin, maskiert”, 1997.
Foto: akg-images/Ehrt
Rainer Ehrt (1960): „Hölderlin, maskiert”, 1997.

Friedrich Hölderlin wurde vor einem Vierteljahrtausend geboren. Sein Werk und sein Leben liegen fernab von allem, was heute „auf der Höhe der Zeit“ ist – ein guter Grund, sich für ihn zu interessieren.

Ich muß dem Verfasser doch den freundlichen Rath ertheilen, sich an einen gesunderen, klareren, deutscheren Dichter zu halten.“ Ein Lehrer schrieb diesen Satz, einschließlich der Unterstreichung, unter den Aufsatz des Schulpforta-Schülers Friedrich Nietzsche (1861). Der hatte sich enthusiastisch über seinen Lieblingsdichter Hölderlin geäußert. Die Bemerkung des Lehrers gab wieder, was man damals in den Kreisen der „Bildungsphilister“ (der Begriff wurde später von Nietzsche geprägt) von Hölderlin hielt: ein Tollhäusler, mit dem kein Staat zu machen war.

Friedrich Hölderlin starb 1843. Seit 1806 hatte er, für wahnsinnig geltend, bei der Familie Zimmer in Tübingen in Pflege gewohnt – geboren wurde er am 20. März 1770.

Eines seiner bekanntesten Gedichte ist „Hälfte des Lebens“: „Mit gelben Birnen hänget/ Und voll mit wilden Rosen/ Das Land in den See, / Ihr holden Schwäne, / Und trunken von Küssen/ Tunkt ihr das Haupt/ Ins heilignüchterne Wasser.// Weh mir, wo nehm ich, wenn/ Es Winter ist, die Blumen, und wo/ Den Sonnenschein, / Und Schatten der Erde?/ Die Mauern stehn/ Sprachlos und kalt, im Winde/ Klirren die Fahnen.“ (Veröffentlicht 1805)

Vielleicht prophetische Zukunftsfurcht, doch mehr als ein genialischer Wehmutsblick, vielmehr ein Schlüssel zu Leben und Werk Hölderlins: Birnen, die Rosen, Schwäne, „heilignüchternes“ Wasser – auf den ersten Blick ein unscheinbares Landschaftsbild, doch bei und für Hölderlin ein Bild für das Göttliche. Es erscheint in der Natur, und erst, wenn es den Menschen beseelt, wird der in Harmonie mit dem All-Einen leben.

Auf der anderen Seite aber das Ich. Ihm eignet Bewusstsein, es weiß: Nichts ist beständig, auch nicht die beseligende Annäherung an die Götter. Irgendwann droht der Absturz, der „Winter“, das Sprachlose und Kalte.

Anfang des 20. Jahrhunderts galt alles, was Hölderlin ab 1801 geschrieben hat, für die Äußerungen eines Irren. Dabei hat er seine größten Oden, Elegien, Hymnen gerade in den darauffolgenden Jahren bis zur Zwangseinlieferung in die Tübinger Anstalt 1806 geschrieben.

War er wahnsinnig? Darüber gab es praktisch von Anfang an Uneinigkeit. Noch in den 1970er- und 1980er-Jahren erregte ein französischer Germanistikprofessor, Pierre Bertaux, zustimmende Aufmerksamkeit mit seiner Behauptung, Hölderlin habe sein langes Leben lang seine Geistesstörung nur simuliert.

Das Sprachlose und Kalte

Hölderlin stammte aus gutbürgerlichen Verhältnissen, seine Eltern gehörten in Schwaben zur „Ehrbarkeit“, so etwas wie die politisch privilegierte Kaste der „besseren Leut’“. Sein Vater war Klosterverwalter in Lauffen am Neckar, seine Mutter führte ihre Ahnenreihe stolz zurück auf eine – heute würde man sagen: emanzipierte – Frau des 17. Jahrhunderts, Regina Bardili. Der Vater starb schon 1772, die Mutter heiratete zwei Jahre später den Weinhändler J. F. Gok. Doch auch der Stiefvater starb schon, als „Fritz“ neun Jahre alt war.

Der Schüler Hölderlin schaffte es bis auf das Tübinger Stift, die Kaderschmiede der württembergischen Pfarrerschaft. Dort befreundete er sich mit zwei anderen hoffnungsfrohen Jünglingen: Georg Friedrich Hegel und Friedrich Schelling (übrigens: Jene Regina gehörte auch zu deren Vorfahren), die drei bildeten einen Bund, in dem sie, wie es so unter auch intellektuell brausenden Jünglingen zu gehen pflegt, endlos redeten, zechten und philosophierten.

1913 tauchte ein kurzes Fragment in der Handschrift Hegels auf, heute unter dem Titel „Ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus“ bekannt. Es wurde vermutlich von allen dreien gemeinsam verfasst, von Hölderlin könnte darin die Idee einer Remythisierung der Welt stammen.

Die Wiederbelebung des griechischen Mythos war Hölderlins Lebensidee. Zu messen mit einer gleichsam gewöhnlichen Rationalität war das nicht, nicht einmal mit einer philosophisch geschulten. Die Philosophie war, nebenbei gesagt, auch die große Mode bei den jungen, revoltierenden Theologen des Stifts. Hölderlin empfand sie schließlich als erdgebundenen Begriffs-Klapperatismus, nicht als die Flügel, die die Menschen in das ersehnte All-Eine, die große Harmonie, entführen könnten, die doch einst bei den Griechen Wirklichkeit war. Nein, zu solchem Flug, so Hölderlin, bedurfte die Philosophie einer das Bewusstsein überschreitende Phantasie, sprich: der Poesie. Die Götter erscheinen, wo sie beschworen werden. Die Vermittlerrolle haben die Dichter („Was bleibet aber, stiften die Dichter“ – „Andenken“, 1803).

Für die Philosophen der Zeit war das Bewusstsein ein Problem, gerade weil es ihr Instrument war. Wo dieses nämlich das All-Eine begreifen will, muss es schon parzellieren, und damit ist alles verspielt, man landet immer wieder beim eigenen Ich. Fichte, der Philosoph, der die Tübinger Freunde einst am meisten beeinflusst hatte, folgerte daraus, dass das All-Eine und das Ich eins seien. Kant, bei dem das All-Eine das „Ding an sich“ war, hatte gelassen gemeint: „…was die Dinge an sich sein mögen, weiß ich nicht und brauche es auch nicht zu wissen“.

Dieser Verzicht lag Hölderlin ganz und gar nicht. Er wollte seinem Vorbild Schiller folgen, der mit seinem Aufsehen erregendem Gedicht „Die Götter Griechenlands“ (erste Fassung 1788) schon den Weg Hölderlins beschritten hatte. Vermeintlich! Schiller hatte ein großartiges Bild einer humanen Antike entworfen, dem Inhalte nach verständlicherweise als christentumskritisch aufgefasst: „Da die Götter menschlicher noch waren,/ waren Menschen göttlicher.“ – Aber er hatte sich nicht der Illusion hingegeben, diese Welt wieder aufleben lassen zu können („Ach! Nur dem Feenland der Lieder/ lebt noch deine goldne Spur…).

Hölderlin besuchte Schiller 1794 in Jena, und der förderte ihn forthin, indem er Gedichte von ihm in der Zeitschrift Die Horen veröffentlichte – so weit aber, ihn der Universität als Professor empfehlen, wie Hölderlin zu Zeiten wünschte, ging er nicht.

Goethe war skeptisch. Er empfahl dem jungen Mann bei dessen Besuch 1797 „kleine Gedichte zu machen und sich zu jedem einen menschlich interessanten Gegenstand zu wählen“. Hölderlin wirkte auf Goethe „etwas gedrückt und kränklich“ und „mit Ängstlichkeit offen“. Irgendwann in den späten 1790er-Jahren wurde bei Hölderlin „Hypochondrie“ diagnostiziert. Allmählich wurden daraus Übererregungs- und Verwirrungszustände. So im Jahre 1800. Er hatte im Mai einen endgültigen Abschiedsbrief seiner geliebten Susette (sie schrieb sich „Suzette“) Gontard erhalten.

Die Geschichte war die: Hölderlin war 1796 Hauslehrer der Bankiersfamilie Gontard in Frankfurt am Main geworden. Die Mutter von vier Kindern und Ehefrau Suzette und Friedrich verliebten sich, natürlich auf Heimlichkeit angewiesen. Schließlich, 1798, wurde es dem Gatten zu viel, nach einem heftigen Streit verließ Hölderlin überstürzt das Haus. Die Liebenden trafen sich noch eine Zeitlang zu flüchtigen Begegnungen, wohl bis zu jenem Brief im Mai 1800. Suzette war TBC-krank, sie starb 1802 an den Röteln.

Dass Hölderlin Hauslehrer geworden war, war kein Zufall. Für jemanden, der, wie er, als Stipendiat ein Theologiestudium im Stift absolviert hatte, gab es kaum andere Möglichkeiten, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, wenn er nicht Pfarrer werden wollte. Das wollte Hölderlin nicht. Wohl aber seine Mutter – ein ständiger Konflikt, auch von materieller Bedeutung, denn sie behielt ihm sein ihm zustehendes väterliches Erbteil vor.

Hölderlin aber begann nach seiner Flucht aus dem Gontardschen Hause erst recht einen Kult um die Geliebte, sie wurde zu der „Diotima“ in seinem Briefroman Hyperion oder der Eremit in Griechenland (1797/99), mit ihr, so fühlte er es, wäre er nicht mehr einsam bei seinen immer von Depression gefährdeten Aufschwüngen.

Im Jahre 1800 also der traumatische endgültige Abschied von Suzette Gontard. Schließlich wurde Hölderlin eine Hauslehrerstelle bei einem deutschen Kaufmann in Bordeaux vermittelt. Im Winter Anfang 1802 marschierte er dort hin, zu Fuß, er hätte auch Kutschverbindungen nützen können. Im Juni schon war er wieder zu Hause, so verwahrlost, heißt es, dass ihn seine Freunde kaum erkannten. Hier erfuhr er von Isaac von Sinclair, dass Suzette inzwischen gestorben war. Er ging zurück nach Hause, wo auch die Mutter ihn für verwirrt hielt.

Isaac von Sinclair und Hölderlin hatten schon 1794/95 für fast ein Jahr in Jena zusammen gewohnt. Sinclair, inzwischen Regierungschef des Ministaats Hessen-Homburg, war ein treuer Freund. Nach Hölderlins Rückkehr aus Bordeaux wollte er ihn unbedingt nach Homburg ziehen, wohl der Ansicht, dass der sich dann wieder ins bürgerliche Leben finden werde. 1804 vermittelte er Hölderlin eine Hofbibliothekarsstelle in Homburg vor der Höhe und zahlte heimlich selbst sein Gehalt. 1806 aber teilte er der Mutter mit, dass er sich nicht länger um Hölderlins Angelegenheiten kümmern könne.

Dazwischen lag eine obskure Hochverratsgeschichte. Sinclair hatte im Freundeskreis revolutionäre Reden gegen den Kurfürsten von Württemberg geschwungen, Hölderlin war dabei gewesen, nun kam Sinclair Februar 1805 in Württemberg in Haft. Die Sache verlief im Sande, im Juli konnte er seine Stellung in Homburg wieder einnehmen. Hölderlin entging dem Prozess nur, weil ein Arzt ihm bescheinigte, sein Wahnsinn sei „in Raserei übergegangen“, der Kranke habe in seinen wenn auch wirren Reden Beschuldigungen gegen Sinclair erhoben. Dieser Vorgang war übrigens Angelpunkt der Bertaux’schen Argumentation von Hölderlins Simulantentum – der habe immer Furcht davor gehabt, wegen seiner Sympathien für die Ideen der französischen Revolution verhaftet zu werden.

Im September 1806 aber wurde Hölderlin zwangsweise in die Klinik des renommierten Mediziners J. von Autenrieth zur psychiatrischen Behandlung eingeliefert. Autenrieths Porträt: ein Gesicht wie ein Knoten. Seine Behandlungsmethoden waren danach. Ihre Anwendung hätte auch einen Stärkeren in den Irrsinn treiben können. Wessen Hölderlin ausgesetzt war, ist unklar, vorhandene Zeugnisse geben nicht viel her. Hölderlin verblieb 231 Tage (bis Mai 1807) in der Klinik und wurde dann als unheilbar entlassen. Bis 1805 aber hat Hölderlin seine Riesengedichte geschaffen.

Im Hölderlinturm

Die monumentale Elegie „Brot und Wein“(um 1800) zeigt noch einmal den ungeheuerlichen Anspruch und die ständige Gefahr des Absturzes, beides so charakteristisch für Hölderlin. Erst das Lob der Nacht, geheiligt den Irrenden und den Toten, die uns aber auch „das Heiligtrunkene“ gönnen muss, dann der Anruf der Götter „Göttliches Feuer auch treibet, bei Tag und bei Nacht,/ Aufzubrechen. So komm! Dass wir das Offene schauen…“ Dann der jähe Absturz: „Aber Freund! Wir kommen zu spät. Zwar leben die Götter,/ Aber über dem Haupt droben in anderer Welt.“ Zwei- oder dreimal nimmt Hölderlin in diesem Gedicht Bezug auf Jesus, merkwürdigerweise als einem Letzten, nicht als einem Anfang – letzter in der Reihe der antiken Götter, Nachfolger des Dionysos, der bei Hölderlin zwar ein „Donnerer“, aber doch auch der Stifter der Kultur ist.

Ab 1807 lebte Hölderlin dann im berühmten „Hölderlinturm“ in Tübingen zur Pflege bei der Familie Zimmer. Seine Besucher – und es wurden im Laufe der Zeit immer mehr – fanden ihn konzentrationsschwach, aber von einer grotesk-zeremoniellen, geradezu betont „wahnsinnigen“ Förmlichkeit und mussten sich bestätigt fühlen oder eingestehen, dass der Mann jedenfalls nicht ganz bei Sinnen war.

Sein Nachleben war nicht weniger verwirrend als seine Erdentage. Im Zwanzigsten Jahrhundert entdeckt als dritter Klassiker neben Goethe und Schiller, wurde er von allen möglichen Seiten mit Beschlag belegt und vor die verschiedenen Karren gespannt, gern auch politisch. Rechte wie Linke erblickten in ihm ihren Herold. Er zählt aber eher, wie etwa auch der frühe Hölderlin-Fan Friedrich Nietzsche, zu denen, die nicht aufhören, zu wirken und zu leuchten, auch wenn die großen Ideen, die sie bewegten, für uns nur noch blasse Schemen sind.

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