Talfahrt nach unten
Die sogenannte Freiburger Studie zu künftigen Mitgliederzahlen der Kirchen in Deutschland erregte vor einigen Monaten großes Aufsehen. Die beiden federführenden Forscher der Studie, Fabian Peters und David Gutmann, fassen die wichtigsten Ergebnisse für die evangelische Kirche zusammen und zeigen Ansätze für das kirchliche Handeln in der Zukunft auf.
Es sind widersprüchliche Zeiten, in denen die beiden großen Kirchen in Deutschland derzeit leben. Seit Beginn der 1970er-Jahre verlieren sie kontinuierlich Mitglieder. Gerade in den vergangenen Jahren waren die Mitgliederverluste überdurchschnittlich hoch. Gleichzeitig steigt deren Kirchensteueraufkommen nicht nur nominell, sondern auch kaufkraftbereinigt scheinbar ununterbrochen an.
Dieses ruhige Fahrwasser werden die Kirchen in den kommenden Jahrzehnten voraussichtlich verlassen müssen. Spätestens mit der Verrentung der geburtenstarken Jahrgänge werden die Kirchen den Gürtel enger schnallen müssen. Denn gemäß den Ergebnissen unserer „Freiburger Studie“ wird sich bis 2060 nicht nur die Zahl der Mitglieder beider großer Kirchen in Deutschland halbieren. Im gleichen Zeitraum wird das Kirchensteueraufkommen quasi unverändert bleiben, was bei realer Betrachtung der finanziellen Möglichkeiten einen Rückgang der Kirchensteuerkraft um ebenfalls etwa die Hälfte bedeutet.
Die Mitgliederzahlen der evangelischen Kirche reduzieren sich nach der Vorausberechnung von 21,5 Millionen im Jahr 2017 auf 10,5 Millionen im Jahr 2060. Damit werden die evangelischen Mitgliederverluste etwas größer sein (minus 51 Prozent) als die katholischen (minus 48 Prozent). Die deutschen Diözesen profitieren zum einen von höherer katholischer Zuwanderung aus dem Ausland. Für die evangelische Kirche kommt zum anderen der überalterte Mitgliederbestand vor allem in Ostdeutschland hinzu, der zumindest mittelfristig zu höheren Sterbefällen führt.
Natürlich hat die projizierte Entwicklung auch Auswirkungen auf die konfessionelle Zusammensetzung der Gesamtbevölkerung: Während 1995, also kurz nach der Wiedervereinigung noch knapp 70 Prozent der Bevölkerung einer der beiden großen Kirchen angehörte, waren es im Jahr 2017 nur noch 54 Prozent. 2060 wird dieser Anteil bei etwa 31 Prozent liegen. Vorrausichtlich bereits 2024 wird eine Mehrheit der in Deutschland lebenden Menschen keiner der beiden Volkskirchen mehr angehören. Hat sich das Verhältnis der beiden großen Kirchen zueinander in den vergangenen Jahrzehnten stark zugunsten der katholischen Kirche entwickelt, wird sich dieser Trend bis 2060 vermutlich nur schwach fortsetzen. 2017 kommen in Deutschland auf 100 Protestanten 108 Katholiken. 2060 werden es 116 sein.
Stärker als die Unterschiede zwischen den beiden Konfessionen, wirken sich regionale Besonderheiten aus. Die Mitgliedschaftsverluste bis 2060 variieren in den Landeskirchen und Diözesen zwischen 72 und 36 Prozent der Mitgliedschaftsbestände des Jahres 2017. Dabei verzeichnen vor allem die im Osten gelegenen Diözesen und Landeskirchen die relativ größten Verluste. Während 2060 im Süden und Westen der Republik immer noch mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung einer der beiden Kirchen angehört, wird das im Osten gerade noch auf jeden neunten zutreffen. Die Entwicklung der Kirchensteuerkraft entspricht in den Regionen im Wesentlichen der Mitgliederentwicklung.
Immer mehr Austritte
Die eigentliche Dramatik der „Freiburger Studie“ lässt sich allerdings erst beim Blick auf die Gründe für den Mitgliederrückgang erkennen. Dabei muss zwischen den natürlichen Auswirkungen des demografischen Wandels, also der Differenz aus Sterbefällen, Geburten und dem Wanderungssaldo von Kirchenmitgliedern, und kirchenspezifischen Einflüssen, also Tauf-, Austritts- und Aufnahmeverhalten, unterschieden werden. Das Ergebnis ist besorgniserregend: Die beiden Kirchen schrumpfen nicht allein aufgrund des demografischen Wandels, wie dies regelmäßig kirchenintern behauptet wird. Ist das gegenwärtige Austritts-, Aufnahme- und Taufverhalten in Landeskirchen und Diözesen auch für die Zukunft repräsentativ, basiert der Mitgliederschwund nicht einmal zur Hälfte auf dem demografischen Wandel. Zwar liegen die zukünftigen kirchlichen Sterbefälle weit über der Zahl der konfessionell gebundenen Zuwanderungen und der Geburten von konfessionell gebundenen Eltern. Der größere Anteil des Mitgliederrückgangs ist jedoch auf kirchenspezifische Faktoren zurückzuführen: Zum einen werden nicht alle Kinder von Kirchenmitgliedern getauft. Zum anderen treten deutlich mehr Menschen aus den beiden Kirchen aus als in die Kirchen ein.
Die Kirchenmitgliedschaft wird in Deutschland – anders als in anderen europäischen Ländern – durch die Taufe begründet. Damit ist sie neben der Geburtenentwicklung auch von der Taufbereitschaft der Eltern abhängig. Deswegen sind nicht nur Kirchenaustritte, sondern gerade auch unterbliebene Taufen für den kirchenspezifischen Mitgliederrückgang verantwortlich. Weniger getaufte Kinder bedeuten nicht nur kurzfristig weniger Mitglieder, sondern führen langfristig zu weniger Geburten von Kirchenmitgliedern und verstärken so langfristig den demografisch bedingten Mitgliederschwund.
Ob ein Kind getauft wird, hängt in Deutschland maßgeblich von der Kirchenmitgliedschaft der Eltern ab. Setzt man die Zahl der Kindertaufen mit der Zahl der Geburten von evangelischen Müttern ins Verhältnis, ergibt sich eine Quote von 80 Prozent. Werden in einem Jahr fünf Kinder von Kirchenmitgliedern zur Welt gebracht, dann werden im gleichen Jahr vier getauft. Das sind nicht zwangsläufig die gleichen Kinder – aber diese Quote hat sich in den vergangenen Jahren in Landeskirchen und Diözesen kaum verändert und scheint ein zuverlässiger Schätzfaktor zu sein. Bei der Taufquote ergeben sich keine nennenswerten Unterschiede zwischen der evangelischen und katholischen Kirche. Die Taufbereitschaft variiert jedoch regional stark. Je städtischer eine Landeskirche geprägt ist, desto weniger Kinder werden getauft. Je höher der Anteil der Mitglieder beider Kirchen an der Gesamtbevölkerung, desto mehr sind es. War es über Jahrhunderte üblich, dass Eltern ihre Kinder im Alter von wenigen Tagen oder Wochen taufen ließen, werden heute viele erst später getauft. Nach der Vollendung des zweiten bis zum 15. Lebensjahr vergrößern sich evangelische Jahrgänge aufgrund von Taufen um mehr als ein Viertel (28 Prozent). Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Konfirmation zu: Beinahe jede zehnte evangelische Taufe wird rund um die Feier dieses Festes vollzogen. Damit ist die Konfirmation die bedeutendste Gelegenheit zum Kircheneintritt, die es in der evangelischen Kirche gibt. Hier zeigen sich erstmals signifikante Unterschiede zur katholischen Kirche: Katholische Taufen finden vorwiegend in den ersten Lebensjahren statt. Insbesondere kann die katholische Kirche im Zusammenhang mit dem Sakrament der Firmung keine statistisch signifikante Erhöhung der Taufzahlen feststellen.
Vom 15. bis zum 21. Lebensjahr bleiben evangelische Jahrgangsstärken quasi unverändert groß. Ab dem 22. Lebensjahr ändert sich dieser Zustand: Rein rechnerisch treten danach bis zum 31. Lebensjahr 30 Prozent der evangelisch getauften Männer und 23 Prozent der evangelisch getauften Frauen aus der Kirche aus. Danach fallen die Austrittsverluste geringer aus. Es sind also vor allem junge Menschen, die ihrer Kirche den Rücken kehren. Bei Männern ist die Bereitschaft zum Kirchenaustritt höher als bei Frauen. Über 90 Prozent aller Kirchenaustritte erfolgen während des Arbeitslebens, wenn die finanziellen Anreize für einen Kirchenaustritt am höchsten sind. Das legt einen Zusammenhang zwischen der individuellen Bereitschaft zum Kirchenaustritt und der Zahlung von Kirchensteuern nahe. Besonders deutlich wird dies in der Phase der höchsten Austrittswahrscheinlichkeit zwischen 20 und 35 Jahren. Diese fällt in der Regel mit dem Eintritt in das Berufsleben und damit der ersten Kirchensteuerzahlung zusammen.
Auch beim Austrittsverhalten zeigen sich Unterschiede zwischen den Konfessionen. Kirchenaustritte sind in der evangelischen Kirche höher als in der katholischen. Die Quoten haben sich allerdings in beiden Kirchen seit den 1990er- Jahren angenähert. Zusätzlich sind nicht nur Kirchenaustritte, sondern auch Kircheneintritte in der evangelischen Kirche höher, sodass beide Kirchen mit relativ gleichen Verlustraten konfrontiert sind.
In beiden Konfessionen ergeben sich ähnliche regionale Unterschiede wie beim Taufverhalten: In städtischen Gebieten sind die Austrittsquoten höher als in ländlichen Regionen. Die Bereitschaft zum Kirchenaustritt fällt darüber hinaus in Regionen mit einem hohen Kirchenmitgliederanteil an der Gesamtbevölkerung – gleich welcher Konfession – kleiner als in Regionen mit geringerem Christenanteil aus. Zudem beeinflussen gesellschaftliche Ereignisse die Bereitschaft zum Kirchenaustritt, was beide Kirchen beinahe gleichermaßen betrifft. So haben etwa die Diskussion um den verschwenderischen Lebensstil des Bischofs in Limburg im Jahr 2013 und die Einführung des automatisierten Abzugs von Kirchensteuer auf Kapitalerträge im Jahr 2014 die Kirchenaustritte bundesweit und in beiden Kirchen in die Höhe schnellen lassen. Auch die Diskussion um sexuellen Missbrauch im Jahr 2010 und 2018 haben zu einem Anstieg der Austritte geführt. Dieser war allerdings in der katholischen Kirche stärker ausgeprägt.
Die Zahlen zeigen eindrücklich, dass Kirchenaustritte kein statistisches Randproblem sind, sondern die zukünftige Entwicklung der Mitgliederzahlen erheblich beeinflussen. Zudem können Kirchenaustritte – zumindest statistisch signifikant – nicht mit der Arbeit in der Kerngemeinde vor Ort erklärt werden. Sie sind keine Frage von theologischen Grundüberzeugungen oder synodalen und bischöflichen Entscheidungen. Für die Höhe von Kirchenaustritten spielen die binnenkirchlich heiß diskutierten Fragen, ob kirchliche Arbeit nun liberal oder pietistisch, lutherisch, uniert, reformiert oder katholisch, progressiv oder konservativ sein muss, eine untergeordnete Rolle. Austritte geschehen – statistisch signifikant – in der Peripherie der Parochie.
Zweifelsfrei ist es für immer kleinere Teile der Bevölkerung attraktiv, „von der Wiege bis zur Bahre evangelisch“ zu sein. Aufgrund des demografischen Wandels und der gesellschaftlichen Megatrends Säkularisierung und Individualisierung werden die Kirchen kleiner und ärmer. Doch für einen Teil des Mitgliederrückgangs bietet die projizierte Entwicklung Möglichkeiten zu reagieren. Eine Erhöhung der Taufen und Aufnahmen und eine gleichzeitige Verringerung der Austritte hätte nicht nur mehr Mitglieder zur Folge. Auch der Rückgang der Kirchensteuerkraft würde geringer ausfallen.
Berührungspunkte suchen
Gerade mit Blick auf unterbliebene Taufen und Austritte lohnt es sich, genauer auf die kirchliche Arbeit zu blicken. Wie können Eltern zur Taufe ihrer Kinder flächendeckend und ansprechender eingeladen werden? Wie können die wenigen Kontaktpunkte mit jungen Kirchenmitgliedern in den Jahren vor der ersten Kirchensteuerzahlung besser genutzt und ausgebaut werden? Wo hat Kirche Berührungspunkte zu denen, die nicht regelmäßig mit ihr in Kontakt stehen (wollen)? Wie lassen sich Kasualien (Taufe, Kommunion/ Konfirmation/Firmung, Hochzeit, Bestattung) und subsidiäre Aufgabenerfüllung (Kindertagesstätten, Religionsunterricht, Freiwilligendienste, Angebote von Diakonie und Caritas et cetera) einladender gestalten? Wie können neue Kontaktflächen mit Menschen zwischen 20 und 35 Jahren geschaffen werden, die sich einerseits flächendeckend an alle richten und andererseits distanzierte Kirchenmitgliedschaft erlauben und wertschätzen?
Wenn es den Kirchen gelingt, tragfähige Antworten auf diese Fragen zu entwickeln, könnte die Entwicklung besser als projiziert ausfallen. Und vermutlich werden dann einige mehr bewusst und überzeugt „von der Wiege bis zur Bahre evangelisch“ bleiben und „Kirche – ja bitte!“ sagen.
Literatur
David Gutmann, Fabian Peters und andere: Kirche – ja bitte! Innovative Modelle und strategische Perspektiven gelungener Mitgliederorientierung. Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 2019, 288 Seiten, Euro 24,–.
David Gutmann
David Gutmann ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungszentrum Generationenverträge der Freiburger Universität.
Fabian Peters
Fabian Peters ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungszentrum Generationenverträge an der Freiburger Universität.