Eine Dauerschleife

Roman gegen das Vergessen

Sie war einmal die größte Hand der Welt. Jetzt fühlt sie sich wie eine Kinderhand an. Mit einer einzigen Beschreibung skizziert David Wagner in seinem Buch Der unvergessliche Riese trefflich die Szenerie: Er beschreibt mit seinem Erzähler, den auch er David nennt, die fortschreitende Demenz des Vaters.

Seit einigen Jahren schon hat das Thema Demenz Einzug in die Gegenwartsliteratur gehalten: Auch Arno Geiger schrieb 2011 in Der alte König im Exil aus der Sohn-Perspektive wie ein Chronist über die Demenz seines Vaters. Oder die Britin Samantha Harvey. In Tage der Verwilderung lässt sie ihren Protagonisten über den erbarmungslosen Verlauf der Krankheit sprechen.

Vorneweg, Der vergessliche Riese ist kein Buch über wissenschaftliche oder medizinische Erkenntnisse des Phänomens demenzieller Erkrankungen. David Wagner nähert sich dem Thema vielmehr allein durch Beschreibungen dessen, was er sieht, fühlt oder erinnert. Und: Der überwiegende Teil des Buches ist in wörtlicher Rede gehalten, so dass der Leser und die Leserin ganz unmittelbar an dem Vater-Sohn-Dialog so Anteil nimmt und die fortschreitende Erkrankung leise und unaufdringlich dokumentiert und in Wort gebracht wird. Anfänglich wirkt es befremdlich, wenn der Vater den eigenen Sohn mit „Freund“ anspricht. Doch schnell wird deutlich, dass diese Anrede für ihn die einzige Möglichkeit ist, Vertrautheit auszudrücken, denn in seiner Welt verrutschen Namen, Erlebnisse, Ereignisse und Personen, wirbeln nur so durcheinander und verlieren ihre Bedeutung.

„Weißt Du, ich vergesse alles. Ich müsste mir viel mehr aufschreiben – warte, ich wollte dich noch etwas fragen.“ Die Fragen nach dem Verbleib des Geldes, des Autos, der Ehefrauen und der Kinder, sie alle beantwortet ihm in unermesslicher Gleichmütigkeit sein Sohn David bei den Besuchen in seinem Elternhaus in Meckenheim bei Bonn. Auch später in einer Seniorenresidenz mit Blick auf den Drachenfels. Immer wieder dieselben Fragen, einer Dauerschleife ähnlich, die sich durch das Buch zieht. Der Sohn, über den in der väterlichen Wohnung in einer Seniorenresidenz am Rhein mit Drachenfelsblick auf dem Zettel neben dem Telefon steht: „David (Sohn) kommt morgen, 24.12. Gegen Mittag.“

Und dieser Sohn hört zu, korrigiert nur milde und gleicht seine Erinnerungen mit den noch vorhandenen des Vaters ab. „Tante Gretl hat gesagt, die Dublany sind sehr intelligent, im Alter werden sie alle blöd.“ Dieser Satz ist einer der Wiederholungen, die sich durch das Buch ziehen und die die Leserin manchmal schon selbst in Erwartung ergänzen möchte. Drei Jahre umfasst der Zeitraum, in dem Wagner seinen Erzähler David immer wieder zu seinem Vater nach Nordrhein-Westfalen, nach Meckenheim, nach Bonn, Bad Godesberg und auch Andernach fahren lässt. Es ist gleichzeitig eine Reise in die alte Bundesrepublik, wenn sie bei ihren Ausflügen das einstige Bundeskanzleramt passieren oder den Kühlturm des AKW von Mülheim-Kärlich beschreiben. Und immer wieder der Blick auf den Rhein. Ganz nebenbei erfährt der Leser von der Nazi-Gefolgschaft der aus Österreich stammenden Großeltern, vom wirtschaftlichen Erfolg des Großvaters und dessen Gefangenschaft in Nürnberg. Es ist ein leises Buch, eines, das vom Abschied handelt, eines, in dem der Grat zwischen Tragik und Komik nicht einfach auszuloten ist. Und eines, in dem ein Sohn bei den Ausflügen in die Vergangenheit die Spuren seiner Kindheit und Jugend wieder aufnimmt. In einer Zeit, in der der Mann neben ihm noch Riese und Vater war.

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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