Die Gedanken zu den Sonntagspredigten für die nächsten Wochen stammen von Jürgen Kaiser. Er ist Pfarrer i.R. in Stuttgart.
Befreiter Geist
Sexagesimae, 16. Februar
Und du, Menschenkind, sollst dich vor ihnen nicht fürchten noch vor ihren Worten fürchten. Es sind wohl widerspenstige und stachlige Dornen um dich, und du wohnst unter Skorpionen; aber du sollst dich nicht fürchten. (Hesekiel 2,6)
Dass Gottheiten an Orte und Statuen gebunden sind, war für die Völker des Nahen Ostens vor 2600 Jahren selbstverständlich. Und deshalb wurden Kriege so lange geführt, bis man das Heiligtum des Feindes erobert und die Gottheit mit ihrer Statue mitgenommen hatte. Dann war der Krieg beendet. Denn der seines Gottes beraubte Feind musste kapitulieren. Bis er wieder zu Kräften kam und seinen Gott zurückerobern konnte.
Die fremden Götter wurden verschleppt und ihre Tempel zerstört. So ging das an Euphrat und Tigris hin und her. Und damit war auch klar, dass die Juden kapitulieren mussten, nachdem Jerusalem erobert worden war. Aber ihre Feinde waren verblüfft, dass sie im Tempel in Jerusalem keine Gottheit fanden, die sie mitnehmen konnten. Und genauso verblüffend war, dass die nach Babylon deportierte Oberschicht des jüdischen Volkes von ihrem Glauben nicht abließ. Das war Theologen und Propheten wie Ezechiel, auch Hesekiel genannt, zu verdanken. Denn sie trennten den Glauben an Gott von Orten und Statuen. Vielmehr sprachen sie vom Geist Gottes, der auch in Babylon weht und wirkt, Gott also nicht mehr an den Tempel in Jerusalem gebunden ist. So globalisierten diese Theologen den Glauben an den einen Gott, indem sie seinen Geist von der Gebundenheit an einen bestimmten Ort loslösten. Und das bewirkte eine gewaltige Kulturwende der Menschheit.
Wer aber glaubt, dass alle diese Entwicklung bejubelten, irrt. Denn wer an der Befreiung des Geistes mitwirkt, lebt gefährlich. Die Freiheit des Geistes verunsichert. Das Bestehende wird nun in Frage gestellt, Bekanntes und Bewährtes sind nicht mehr selbstverständlich. Mit Hesekiel gesprochen: Stachlige Dornen liegen auf dem Land, das der Befreite beackert, giftige Skorpione bedrohen ihn. So beschreibt Hesekiel, was ihn erwartet. Gott selber warnt ihn. Die Freiheit des Geistes ist eben kein Zuckerschlecken. Aber Gott sagt auch zu, dass er dieses Menschenkind nicht allein lässt.
Stachlige Dornen und giftige Skorpione machen denen, die an Gott glauben und dies ernstnehmen, auch heute das Leben schwer. Wer das Ertrinken von Menschen im Mittelmeer bekämpft und eine Lanze für Flüchtlinge bricht, dem schlägt nicht nur in den „sozialen Medien“ Hass entgegen. Menschenverachtung ist leider wieder gesellschaftsfähig geworden, Menschlichkeit ist in Deutschland nicht mehr selbstverständlich. Dabei entspricht sie dem Auftrag Gottes und dem Glauben an ihn. Aber die Arbeit am Reich Gottes ist eben alles andere als einfach.
Gleiche Würde
Estomihi, 23. Februar
Jesus fragte ihn (den Blinden): Was willst du, dass ich für dich tun soll? Er sprach: Herr, dass ich sehen kann. Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! Dein Glaube hat Dir geholfen. (Lukas 18, 40–42)
Wenn Gott wirkt, ändern sich Bilder und Begriffe, die sich Menschen von ihm machen. Da sind die Jüngerinnen und Jünger jahrelang, Tag und Nacht mit Jesus unterwegs. Aber sie begreifen, sehen buchstäblich nichts. Sie können Jesu Wirken nicht deuten. Denn die Zusammenhänge bleiben ihnen verschlossen. Den sehenden Jüngern gegenüber, am Wegesrand steht ein Blinder. Dieser spricht Jesus mit dem höchsten Titel an: „Sohn Davids!“ Ausgerechnet ein Mann der nichts sieht, erkennt Jesus. Deswegen soll er zum Schweigen gebracht werden und wird verjagt. Aber das klappt nicht. Denn Jesus ruft den Blinden zu sich und fragt, was er für ihn tun soll. Ihn sehend machen. Das geschieht, und Jesus sagt zu ihm: „Dein Glaube hat Dir geholfen!“
Dabei ist es nicht so, dass Jesus den Behinderten zum Objekt macht. Schon die Vorstellung, dass er dem einen hilft und dem anderen nicht, ist falsch. Denn der Blinde sagt selber zu Jesus, was er will und braucht. Und er sagt das, weil er –
anders als die Jünger – erkennt, wen er vor sich hat. Obwohl die Jünger sehen und der Blinde nichts sieht. So hat unsere Geschichte eine doppelte Pointe. Während die Sehenden blind sind, ist der Blinde der einzig Sehende. Und – der Blinde ist Subjekt des Handelns. Indem Jesus ihm hilft, begegnet er ihm auf Augenhöhe. Und das hat schon was: Gott auf Augenhöhe zu begegnen.
Vor dem christlichen Gott muss man eben nicht Angst haben, sich nicht verstecken, nicht in Sack und Asche gehen. Denn er ist ein Gott, der den Menschen erhebt und ihm eine Bedeutung und Würde verleiht, der sich dieser gar nicht bewusst ist. Daher verhält sich der Mensch so, als solle er die Schöpfung nicht bewahren und bewirtschaften, sondern ausbeuten. Und er geht mit Mitmenschen um, als seien sie nichts wert und allein Objekte seiner Lust und Macht. Gott begegnet nicht nur ausgewählten Menschen auf Augenhöhe, sondern allen, Menschen aller Hautfarben, aller Nationalitäten, aller Geschlechter. Weil er ihnen allen dieselbe Würde zugesteht.
Das müssen wir scheinbar Sehende erst mal sehen. Und dann die richtigen Schlüsse daraus ziehen und uns entsprechend verhalten. Da haben wir, die Jüngerinnen und Jünger Jesu sein wollen, noch allerhand vor uns.
Alt und aktuell
Invokavit, 1. März
Gott der Herr rief Adam und sprach zu ihm: Wo bist Du?(1. Mose 3, 9)
Adam bedeutet Mensch. Gott sucht ihn – nachdem er sein Vertrauen missbraucht hat. Theologen nennen diese Geschichte Sündenfall. Obwohl in der ganzen Erzählung das Wort „Sünde“ kein einziges Mal vorkommt. Es ist die große Geschichte des Vertrauensbruches, der die Beziehung des Menschen zu Gott zerstört. Adam, der Mann, versteckt sich. Er entzieht sich der Verantwortung. Erst durch Verstecken, dann durch Leugnen. Eva, die Frau, sei schuld, nicht er.
Eine alte Geschichte? Im Gegenteil: Sie ist sehr modern. Denn auch heute entziehen sich Männer ständig der Verantwortung, verlassen ihre Familien und zahlen keinen Unterhalt für die Kinder oder lassen Partnerin oder Partner im Stich, weil sie unfähig zu einer Beziehung sind. Manager, die angeblich keine Ahnung von dem haben, was ihre Untergebenen treiben. Rechtsextreme Politiker, die immer nur auf andere zeigen: „Merkel muss weg!“, „Brüssel ist schuld!“, „ Die Flüchtlinge…“.
Es ist mehr als eine Krankheit, dass niemand mehr Verantwortung übernehmen will. Vertrauen ist ein kostbares Phänomen. Man kann es nicht greifen, fassen, besitzen und einschließen. Aber wenn man jemand vertraut, verlässt man sich auf sein Wort, seinen Rat, seine Unterstützung und baut darauf Lebensentscheidungen. Denn dem Rat eines Freundes, dem ich vertraue, folge ich. Aber Vertrauen ist zerbrechlicher als Glas. Wird es zerstört, ist es für immer dahin. Dann gibt es einen nicht mehr zu reparierenden Bruch. Auch davon erzählt unsere Geschichte. Nach dem großen Vertrauensbruch ist das Paradies verloren. Und zwar für immer.
Die Erzählung von Adam und Eva spiegelt die Lebensgeschichte jedes einzelnen Menschen. Denn was sich auf dem Weg des Erwachsenwerdens ereignet, ist auch eine Geschichte der eigenen Brüche. Ein Rabbi wurde einmal gefragt: „Wie kann ich Gott zum Lachen bringen?“ Seine Antwort: „Das ist einfach. Erzähl ihm Deine Lebensplanung!“
An den Brüchen im Leben nicht zu verzweifeln, sondern daran zu wachsen, das ist die Kunst. Bei aller Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies. Dass dies gelingt, zeigt die Sündenfallgeschichte ebenfalls. Denn Gott schließt mit dem Menschen einen Bund und lässt ihn nicht verloren gehen. Deshalb seine Frage: „Mensch, wo bist Du?“. Nicht sich verstecken, nicht lügen und auf Andere zeigen, sondern sich da bewähren, wohin Gott dich, mich gestellt hat.
Versöhnt und frei
Reminiszere, 8. März
Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren. (Römer 5, 8)
Sünde“ wird oft darauf reduziert, dass man ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte zu viel isst, zu schnell Auto fährt oder Ehebruch begeht. Und sonst spielt der Begriff „Sünde“ keine Rolle mehr. Dabei war er für Paulus von zentraler Bedeutung. Nicht im Sinne des Schlagers „Wir sind alle kleine Sünderlein“ oder des Chansons „Kann denn Liebe Sünde sein?“ Das Wort „Sünde“ beschrieb für Paulus vielmehr den zentralen Bruch zwischen Gott und Mensch. Und begonnen hat er mit der Vertreibung aus dem Paradies.
Gott ist Gott, und der Mensch ist Mensch. Und damit ist der Mensch gottlos. Aber weil er sich nicht damit begnügen möchte, lebt er seine religiösen Sehnsüchte nach dem verlorenen Paradies aus und erschafft sich Götter wie Macht, Sex, Geld, Fußball, Weltanschauungen, Ideologien. Es gibt unzählige (Ersatz-) Religionen. Sie leben von charismatischen Führern, zentralen Veranstaltungsorten, Ritualen, Gesängen, Riten, Fahnen und Farben. Und das alles kann so intensiv und extrem sein, dass aus der Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies die Hölle wird.
Und bei alledem gilt: Der Mensch kann die Feindschaft zwischen Gott und ihm nicht von sich aus überwinden. Das muss Gott selber tun. Und er tat es in Jesus von Nazareth. Das ist der Glaube der Christen: Gott findet sich nicht mit der Hölle ab, die Menschen erschaffen. Vielmehr versöhnt er den Menschen mit sich. Dies ist durch den Tod Jesu geschehen. Deshalb ist der Todesschrei Jesu am Kreuz der kostbarste Augenblick in der Geschichte Gottes mit uns. Endlich versöhnt und frei.
Martin Luther brachte das 1519 in Heidelberg auf den Punkt. Die reformatorische Bewegung hatte gerade erst begonnen. Die Heidelberger Professoren waren entsetzt und widersprachen in jedem Punkt, aber die Studenten waren begeistert. In der 28. These der Heidelberger Disputation brachte Luther ein ästhetisches Element in die Diskussion: „Der Mensch ist schön… Die Liebe Gottes findet nicht vor, was seiner Liebe wert ist, sondern erschafft es… Wenn Gottes Liebe am Menschen lebendig wirksam wird, so liebt sie Sünder, Böse, Törichte, Schwache – um sie zu Gerechten, Guten, Weisen, Starken zu machen… Denn die Sünder sind deshalb schön, weil sie geliebt werden, sie werden nicht deshalb geliebt, weil sie schön sind.“ Also: „Du bist schön, weil Du von Gott geliebt wirst.“ Das erst erhebt den Menschen aus dem Staub, aus Verzweiflung und Depression, und verleiht ihm seine neue, eigene Würde.