Apokalyptischer Realismus
Für einen apokalyptischen Blick auf die Welt bedarf es keiner psychopathologischen oder religiösen Aufladung, sondern naturwissenschaftlicher Daten. Das sollte die Theologie bedenken, meint Gregor Taxacher, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Katholische Theologie der TU Dortmund. Er widerspricht Ulrich Körtner, der sich an dieser Stelle für einen praktischen Realismus im Umgang mit dem Klimawandel ausgesprochen hatte.
Fridays for Future“ und befreundete klimapolitische Bewegungen werden inzwischen auch aus Theologie und Kirchen heraus apokalyptischer Hysterie geziehen und als Ersatzreligion denunziert. Dass Apokalyptik christlichen Theologen offenbar als weitere Diskussion erübrigendes Schimpfwort dienen kann, befremdet angesichts der exegetischen Einsicht, „dass die jüdische und frühchristliche Apokalyptik, mit dem Neutestamentler Ernst Käsemann gesprochen, die Mutter aller christlichen Theologie gewesen ist“. Daran erinnert Ulrich Körtner in der Januarausgabe von zeitzeichen – und geht auch sonst differenziert mit der kirchlichen Diskussion um die „Klimaaktivisten“ um. Dennoch muss ich ihm im Kern seiner „Fünf nach drei“ – Diagnose widersprechen.
Körtners Plädoyer gilt einem praktischen Realismus: Politik sei nun einmal die Praxis des Bedingten. Radikalismus und moralischer Rigorismus seien deshalb ihrem Wesen nach eine Überforderung der Politik und gefährlich „für eine freiheitliche Gesellschaft und ihren sozialen Zusammenhalt“. Aber was versteht Körtner unter Realismus? Offenbar das, was Angela Merkel in Verteidigung des (inzwischen leicht nachgebesserten) „Klimapaketes“ der Bundesregierung, wieder einmal Bismarck beschwörend, die „Kunst des Möglichen“ nannte. Der Realismus bezieht sich also auf die sehr begrenzten Möglichkeiten des politischen Handelns – etwa auch darauf, dass die Klimaziele von Paris (die Körtner für „ehrgeizig“, Sachverständige allerdings eher für eine das Schlimmste bannende Mindestanforderung halten) vermutlich nicht erreicht werden können (was die Konferenz in Madrid praktisch bestätigte). Jedenfalls geht es hier nicht um Realismus in der Einschätzung der Lage der Dinge selbst. Denn diese ist laut dem nur von Ignoranten noch geleugneten Stand der Wissenschaft tatsächlich eine Bedrohung für den Fortbestand der menschlichen Zivilisation, wie wir sie kennen. Genau daraus speisen sich ja „Hysterie“ und „Apokalyptik“ einer Greta Thunberg. Sie ist – wie sie in ihrer Rede von Madrid eindrücklich deutlich gemacht hat (und wie auch Körtner unterstreicht) – weit entfernt von jedem religiösen Gehabe, sondern eine Prophetin der Zahlen, des Ausrechenbaren, der realistischen Prognostik. Thunberg ist nur radikal, wenn schon als radikal gilt, zu benennen, was ist (aber das ist laut Rosa Luxemburg ja sogar revolutionär).
Es sollte der Theologie gerade dies zu denken geben: Nicht dass Klimapolitik die neue Ersatzreligion wäre, sondern dass die Apokalyptiker ihre Datengrundlage heute aus Physik, Chemie, Meteorologie, Geografie und Sozialprognostik erheben.
Die Diskrepanz zwischen einer Politik als Kunst der Bewahrung des gesellschaftlichen status quo und der realen Lage im Anthropozän bedroht derzeit die freiheitliche Gesellschaft und den sozialen Zusammenhalt global. Es sind wie stets nicht die Unheilspropheten, welche das Unheil bringen.
Denn auch die biblischen Apokalyptiker waren auf ihre vormoderne Weise Realisten. Vom „Weltuntergang“ – ein in der jüdischen Antike mangels kosmologisch-ontologischem Weltbegriff gar nicht vorhandenes Konzept – ist bei ihnen nicht die Rede, sondern von den Dynamiken imperialer Politik, von der am Ende katastrophischen Auswirkung totalitärer Hybris – symbolisiert in den Monstern des Buches Daniel oder der Johannesoffenbarung, beide unschwer dekodierbar auf die Weltpolitik ihrer Zeit hin. Apokalyptisches Gericht bedeutet, sich die Folgen des eigenen Handelns zuzuziehen.
Apokalyptik malt ein realistisch-düsteres Bild von der katastrophischen Dynamik menschlichen Fortschritts – das haben Walter Benjamins Thesen zur Geschichte ihr abgelauscht. Aber das ist nur ihre eine Seite – „kupierte Apokalyptik“, wie der auch von Körtner zitierte Klaus Vondung dies nennt. Ihre andere Seite bildet die Hoffnung auf die Gegendynamik des Reiches Gottes, der gerade jene ansichtig zu werden vermögen, welche die Situation des Gerichts nicht mehr leugnen und verdrängen.
Davon hätten Theologie und Kirche heute wohl zu sprechen. Sie hätten dann – wie Körtner zu Recht anmerkt – mehr zu sein als ein segnendes Wort zum Sonntag über die Freitagsdemonstrationen, mehr als nur eine Verstärkung dessen, was jede und jeder Sehende eh schon weiß. Sie hätten tatsächlich von jener Hoffnung zu sprechen, die man auch praktiziert, wenn Pessimismus realistisch ist, einer Hoffnung, die – mit Körtner formuliert – „nicht gleichbedeutend ist mit Hoffnung auf den Fortbestand der Welt“, jedoch – über ihn hinaus: mit ihrer von Gott her glaubbaren Veränderlichkeit rechnet.
Darin hat die christliche Botschaft (in der Tradition von Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer gesprochen) tatsächlich anderes zu sagen als Religion. Wer dagegen den Umweltaktivismus als Ersatzreligion abtut, entlarvt seine eigene Identifikation des Christlichen mit dem, was der kürzlich verstorbene Johann Baptist Metz die „bürgerliche Religion“ nannte, die eben nur religiös ist und deshalb nicht stört.Es sei nicht etwa fünf vor zwölf, sondern „vielleicht schon längst fünf nach drei“, sagt Ulrich Körtner. Verstehe ich ihn richtig, meint er damit nicht, dass es schon für die Abwendung der ökologischen Katastrophe zu spät sei, sondern dass wir halt schon in dieser Katastrophe leben und sie – einschließlich einzukalkulierendem Klimawandel – politisch managen müssen. Das wirkt irgendwie beruhigend: Wir leben in einer post-apokalyptischen Situation, aber die fühlt sich so schrecklich ja gar nicht an. Also lasst uns die Ärmel aufkrempeln, die Dämme an den Küsten erhöhen, Elektroautos bauen und die Bäume gentechnisch widerstandskräftiger machen.
Diese schon von dem Umwelt-„Optimisten“ Björn Lomborg vertretene Sichtweise entspringt einer sehr eingeschränkten nord-westlichen Perspektive. Die reichen Industrienationen mögen ihren status quo (bei gleichzeitiger weiterer Aufgabe ihrer „humanen Werte“ im Umgang mit der Welt außerhalb dieser Insel der Seligen) noch eine Weile aufrecht erhalten können. Was sie dabei auch mit einem „Green New Deal“, einem den Wachstumszwang beibehaltenden „grünen Kapitalismus“ aufrecht zu erhalten suchen, haben die Politikwissenschaftler Ulrich Brand und Markus Wissen in ihrem gleichnamigen Buch treffend als „imperiale Lebensweise“ beschrieben. Diese Lebensweise ist deshalb so schwer zu verändern, weil sie „breit akzeptiert, sozioökonomisch-institutionell abgesichert und in den Alltagspraxen der Menschen tief verankert ist“ und weil ihre „negativen Folgen teilweise externalisiert werden“.
Akademische Umlaufbahnen
Für die ersten und ohnmächtigsten Opfer dieser Externalisierung der ökologischen Katastrophe (die ja weit komplexer ist als die tatsächlich zu beklagende Verengung des Blicks auf den Klimawandel) muss Körtners Zeitansage zynisch klingen. Für die Bewohner der südasiatischen Küsten Ozeaniens, der arktischen Tundren, der subtropischen Sahel-Regionen, der Salzwüsten ehemaliger Anbauregionen, der sterbenden tropischen Wälder bedeutet die Zeitansage „Fünf nach drei“ tatsächlich die Apokalypse im nur negativen Sinn. Und sie enthält die Botschaft, dass wir sie aufgegeben haben.
Auch davon hätte eine realistische prophetische Theologie und die kirchliche politische Predigt zu sprechen: Dass die „Realpolitik“, mit der wir derzeit unsere imperiale Lebensweise zu verlängern suchen, dem entspricht, was die moraltheologische Tradition einmal die „himmelschreiende Sünde“ nannte. Apokalyptische Theologie ist die Rede von einem Himmel, in dem dieser Schrei gehört wird. Sein Echo verlangt von uns die Realpolitik, mit der derzeitigen Realpolitik auf ganzer Linie zu brechen. Das zu erwarten, ist wenig realistisch, sagt Ulrich Körtner. Ich fürchte, er hat Recht. Aber darüber nachzudenken, was es heißt, in eben dieser Diskrepanz zu leben, zu handeln, zu glauben, scheint mir die dringendste Aufgabe der Theologie. Alle ihre großen Grundworte – vom Reich Gottes, vom Geist, von Gnade und Erlösung, vom Kreuz, von Sterben und Auferstehen – hätte sie abzuklopfen daraufhin, was uns Schwankenden zwischen Klimademo und tragischer Melancholia das Evangelium zu sagen hat.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es geht nicht darum, all diese großen Worte in einer Nutzanwendung auf die Klimakrise aufgehen zu lassen. Diese Worte sagen Christen und Christinnen immer alles – aber wenn sie in einer konkreten Situation keine konkrete Bedeutung haben, haben sie für uns gar keine Bedeutung mehr. Gott ist, mit Bonhoeffer zu sprechen, immer gerade heute Gott. Und nochmals gegen Missverständnisse: Der Autor dieser Zeilen hat nicht schon ein Konzept für eine solche Auslegung des Evangeliums im Anthropozän in der Tasche. Ich glaube überhaupt nicht, dass dies die Möglichkeit einzelner Theologen und Theologinnen ist. Es käme darauf an, dass die Theologie – herausgefordert durch die angebliche Ersatzreligion der Klimaaktivisten – wieder als Theorie zur Praxis der Christen und Christinnen gehörte, angebunden an Gemeinden, Gruppen, Verbände, die hier und da tatsächlich von der Situation aufgeweckt erscheinen, herausgerufen aus der Ersatzreligion des separierten „nur Religiösen“. Das sollte auch die Theologie aus ihren akademischen Umlaufbahnen katapultieren, die für die meisten Christen und Christinnen verständlicher Weise weitgehend irrelevant geworden sind.
Gregor Taxacher
Gregor Taxacher ist römisch-katholischer Theologe, Geschichtsphilosoph, Journalist und Autor. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Katholische Theologie der Technischen Universität Dortmund. 2012 erschien sein Buch „Apokalypse ist jetzt: Vom Schweigen der Theologie im Angesicht der Endzeit“.