Tiefgehende Erfahrungen

Julian-Christopher Marx hat die Rolle von Gefühlen für Religion und Ethik untersucht
Julian-Christopher Marx
Foto: Rolf Zöllner

Im vergangenen Monat hat Julian-Christopher Marx (33) in Berlin seine Doktorarbeit abgeschlossen. Der Baden-Württemberger setzt sich kritisch mit einer rationalistisch verengten Theologie auseinander.

Meine Doktorarbeit trägt den Titel „Religion und Lebensführung. Zur affektiven Dimension gelebter Religion“.Unter „affektiv“ verstehe ich die vorsprachliche, nicht unmittelbar bewusste Dimension von Religion. Das unwillkürliche, impulsive und durchaus antreibende Erleben fällt darunter, auch das, was uns widerfährt, was wir nicht bewusst planen. Und mit „Lebensführung“ sind nicht bestimmte Taten gemeint, sondern der Zwang zum eigenen Leben, die Tatsache also, dass wir unser Leben führen müssen.

Ich bin zum Doktor der Philosophie promoviert worden, den die Theologische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin gemeinsam mit der Philosophischen Fakultät vergibt. Das heißt: In der Disputation wurde ich in Theologie und Philosophie geprüft. Diese Berliner Besonderheit kam mir entgegen, denn ich wollte ein theologisches Thema bearbeiten, obwohl ich kein Volltheologe bin. Aber theologische Fragen haben mich seit meiner Schulzeit interessiert, und ich wollte ihnen schließlich –
im Rahmen der Wissenschaft – auch auf den Grund gehen.

Bevor ich an den Universitäten Basel, Luzern und Zürich meinen Master machte, hatte ich in Leipzig Sozialwissenschaften studiert und mich dabei auch mit Religionssoziologie beschäftigt. Dort machte ich zwei Erfahrungen, die eine Spur für meine Dissertation legten: Zum einen gewann ich den Eindruck, dass sich die Religionssoziologen in Leipzig wie in der klassischen Kirchensoziologie zu sehr darauf beschränkten, in quantitativen Befragungen herauszufinden, inwiefern die Leute explizit religiösen kirchlich-dogmatischen Aussagen zustimmen oder sie ablehnen. Und die gelebte Religion der Menschen geriet dabei aus dem Blick. Außerdem begegneten mir in Leipzig Studenten, die entweder einen offensiven Atheismus vertraten, durchaus mit guten Argumenten, oder die mit Religion schlicht nichts anfangen konnten. Das war für mich, der ich in Baden-Württemberg aufgewachsen war, eine neue Erfahrung. Ich dachte darüber nach, wie ich jenen Studenten tiefe religiöse Erfahrungen plausibel machen konnte. Mich beschäftigte die Frage: Wie spricht man ohne kirchlich-institutionalisierte Engführungen über Religion als ein Phänomen des Lebens?

Auch die Erinnerung an meine religiöse Sozialisation hat auf dem Weg zur Doktorarbeit eine Rolle gespielt. Mein Zugang zu Religion ist sehr über Gestimmtheiten geprägt. Dabei spielt bis heute Musik eine wichtige Rolle, wenn ich zum Beispiel große Messen höre oder selber singe. Auch von daher lag es nahe, mich mit der affektiven Seite von Religion, Spiritualität und Ethik zu beschäftigen.

Schon in Leipzig galt mein Interesse einer Theologie, die sich mit Erfahrung beschäftigt und sie ernstnimmt. Und so setzte ich mich später, in meiner Doktorarbeit, mit dem Tübinger Praktischen Theologen Dietrich Rössler (93) und dem Münchner Systematiker Trutz Rendtorff (1931 – 2016) auseinander. Ihre Theorien bilden den Ausgangspunkt meiner Überlegungen. Rösslers und Rendtorffs Theorien waren Reaktionen auf ein von ihnen wahrgenommenes Defizit an Lebens- und Erfahrungsnähe in der Theologie des späten 20. Jahrhunderts. Rösslers Theorie „gelebter Religion“ und Rendtorffs ethische „Theorie der Lebensführung“ wollen von der Lebenswirklichkeit ausgehen, diese analysieren und dabei Orientierung bieten. Sie stehen in der liberalen Tradition Friedrich Schleiermachers, Ernst Troeltschs und Paul Tillichs. Bis heute prägen sie die religionstheoretische, praktisch-theologische und theologisch-ethische Auseinandersetzung. An ihrem liberaltheologischen Programm wird in dritter Generation weitergearbeitet.

Rendtorff und Rössler standen in den 1970er-Jahren für eine Wende der evangelischen Theologie hin zur Erfahrung. Aber bei aller Wertschätzung, dem Anspruch von Lebensnähe werden sie meines Erachtens nur unzureichend gerecht. So stellt sich Rendtorffs ethische Überlegung alsbald als verklausulierte Dogmatik dar. Und bei Rössler steht Religion als mentale Einstellung so sehr im Vordergrund, dass die zum Handeln motivierende Dimension religiöser Erfahrung ausgeblendet wird. Das heißt: Ihr Ansatz ist zu rationalistisch und führt zu einer kognitivistischen Engführung.

Zur Überwindung dieses Defizits wollte ich im Rückgriff auf Theorien, die die innere Beziehung von Religion und Lebensführung beleuchten, beitragen. Dafür habe ich mich mit dem kanadischen Philosophen Charles Taylor (88) beschäftigt, dem deutschen Soziologen Hans Joas (71) und dem deutschen Theologen Johannes Fischer (72), der an der Universität Zürich Ethik lehrte. Sie – die erstgenannten sind römisch-katholisch, und letzterer ist evangelisch – betonen so etwas wie eine affektive Dimension der Religion mit Relevanz für das Handeln. Für Taylor hat die Lebensführung mit dem Selbstverständnis des Menschen zu tun: Identität ist, was wir für gut, richtig und erstrebenswert halten. Solche Wertungen erleben wir als gut, wir spüren sie körperlich, aber dabei sind sie immer in Bedeutungshorizonte eingebettet. Auch Joas betont, dass Wertbindungen affektiv zustandekommen: Bestimmte Erfahrungen der Selbsttranszendenz wirken wie eine „Wucht“, der Mensch wächst dabei über sich hinaus. Und für Fischer bestimmt Spontanität ethisches Handeln, nicht die Deduktion von Regeln, zum Beispiel der Zehn Gebote. So wie im Gleichnis der Anblick des unter die Räuber Gefallenen den barmherzigen Samariter „jammerte“ (Lukas 10,33). Hier wird vor Augen geführt, wie ein Mensch vom Leid eines anderen affiziert wird und intuitiv handelt.

Ein bestimmtes, durch biblische Narrative und kirchliche Tradition vermitteltes Verständnis der christlichen Liebe kann in Fleisch und Blut übergehen. Und der affektiven Dimension kommt eine die Wirklichkeit erschließende und die Lebensführung fundierende Rolle zu. Die sittliche Ausrichtung geschieht dabei nicht unbedingt kognitiv-rational, sondern in einer spontan und emotional erlebten, tieferen Weise. Ethisches Verhalten hat letztlich eine starke Gefühlsdimension. Das gilt es zu beachten. Religion bringt existenzielle Erfahrungen mit sich, es geht dabei ums Ganze und Unbedingte. Die evangelische Theologie, vor allem die Ethik, ist dagegen oft durch Kant geprägt, wonach der Einzelne überlegt, was er zu tun hat.

Im Rahmen meiner Tätigkeit im Deutschen Bundestag beschäftige ich mich zur Zeit vor allem mit Migrations- und Religionspolitik, wo sich Berührungspunkte zu religiösen und ethischen Fragen ergeben und damit zu meiner Doktorarbeit, die sich theoretisch mit Religion beschäftigt hat. Ich kann mir vorstellen, solche Fragen zukünftig übergreifend an Schnittstellen von Politik, Wissenschaft und Gesellschaft zu behandeln.

Aufgezeichnet von Jürgen Wandel

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