Lernprozesse auf Augenhöhe

Jürgen Habermas bittet zu Buch
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Das gleichermaßen seitenstarke und denkstarke Buch Auch eine Geschichte der Philosophie ist – auch nach Weihnachten – ein Geschenk an die Theologie. 50 Stunden Leseglück in hoher Luft. Über 1750 Seiten verfolgt Habermas das immer spannende und zugleich auch angespannte Verhältnis zwischen Glauben und Wissen. Allein das ist einmalig: Die Erkundung dieser Nähe und Differenz geschieht auf jeder Seite auf Augenhöhe, einer der Lieblingsvokabeln von Habermas lautet: Lernprozess, nirgendwo entdeckt man während der Lektüre gespreizte Überlegenheitsunterstellungen von Seiten des Philosophen, der bereits in seiner Dissertation zu Schelling diesen Fragen nachgegangen ist. Sein eigenes Philosophieverständnis erinnert sehr stark an die übliche Arbeitsplatzbeschreibung einer Theologin oder eines Theologen. Habermas verspürt wenig Lust, als Philosoph zum begriffsanalytischen Dienstleister für die Kognitionswissenschaften zu verkommen, er möchte weiterhin die Philosophie „am Ganzen“ orientieren, spricht deshalb auch von einer komprehensiven Vernunft, will „zur rationalen Klärung unseres Selbst- und Weltverständnisses beitragen“ (1, 12), und klagt die Beteiligungsperspektive ein, fragt danach, was die immer schneller voranschreitende Kumulation, diese Anhäufung von Wissen, für die praktische Lebensführung bedeutet.

Auch die Theologie orientiert sich bekanntlich am Ganzen und fordert traditionell die Beteiligungsperspektive ein. Ich lese diese gewollte Parallelisierung im Selbstverständnis von Philosophie und Theologie auch als Warnung an die Theologie, das eigene Fach nicht zur Religionswissenschaft umzuwidmen – diese Umwidmungseuphorie greift in der Tat immer mehr, etwa in den nordischen Ländern, um sich. Mit dem Schwenk von der Beteiligungs- zur Beobachterperspektive verlöre die Theologie ihre eminent lebenspraktische Ausrichtung, die Habermas auch für die Philosophie unbedingt retten will. Bereits diese von Habermas für die Philosophie eingeklagte Arbeitsplatzbeschreibung könnte ein Lernprozess für die Theologie sein, nicht den Weg der Umwidmung zur Religionswissenschaft einzuschlagen, die in the long run einen downgrad-Effekt und letztlich den Auszug theologischer Fakultäten aus der Alma Mater befördern würde.

Gegenwendig zu einer „säkularistisch verhärteten Mentalität“ (1, 15), plädiert Habermas für eine dialogische Einstellung, die zu einer gegenseitigen Perspektivenübernahme einlädt! „[S]olange es nicht evident ist, dass sich die kreativen Kräfte der Religion erschöpft haben, gibt es für die Philosophie keinen Grund, eine lernbereit dialogische Einstellung zu religiösen Überlieferungen aufzugeben.“ (1, 79) Allerdings schränkt er ein: „Einstweilen müssen wir feststellen, dass Kierkegaard der letzte Theologe gewesen zu sein scheint, von dessen Gedanken die Philosophie neue Anstöße empfangen hat. […] Andererseits speisen sich viele demokratische Widerstandsbewegungen bis in die jüngste Gegenwart aus religiösen Motiven. Wie das Beispiel des »zivilen Ungehorsams« während des Vietnamkrieges in den USA zeigt, sind religiöse Bewegungen nach wie vor Quellen politischer und sogar rechtsschöpferischer Vitalität.“ (1, 78) In seinem Höhenkammparcours folgt auf Kierkegaard, dem Habermas eine grandiose nachmetaphysische Lesart widmet, nur noch Pierce, bis der Diskurs auf dem Gipfellager bei Habermas selbst ans Ziel gelangt. Die französischen Philosophen der Differenz, denen Habermas in seinen frühen zwölf Vorlesungen: Der philosophische Diskurs der Moderne viel Aufmerksamkeit und Sympathie schenkte, bleiben in dieser Philosophiegeschichte im Basislager zurück. Die Theologie bleibt im Gepäck. Mit hoher Luft kommen wir Theologen bekanntlich zurecht. Wir sollten das Gespräch auf Augenhöhe führen.

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Klaas Huizing

Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.


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