Kenner

Über das Verhältnis zu Russland

Ach – Demokratie, das ist bei uns nicht so wichtig. Außerdem ist das Land viel zu groß, um das durchzusetzen“. Wer das Buch Russlands Traum von Reinhard Krumm gelesen hat, erfährt, dass diese lapidare Antwort einer St. Petersburger Reiseleiterin auf die Frage einer deutschen Touristin nach der Politik des „lupenreinen Demokraten Putin“ mehr Wahrheit enthält, als man auf den ersten Blick meinen mag.

Krumm, Leiter des Regionalbüros für Zusammenarbeit und Frieden in Europa der Friedrich-Ebert-Stiftung mit Sitz in Wien, geht in seinem Buch der Frage nach dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft in Russland nach, analysiert dessen geschichtliche Entwicklung von der Zarenzeit bis in die Gegenwart und zeigt: Es gibt heute in Russland viele Träume: von sozialer Sicherheit, einem Auto, einer guten Wohnung, einer Datsche – und von einem starken Staat. Demokratie, Meinungsvielfalt, eine offene Gesellschaft – das steht offenbar nicht an erster Stelle. Woraus die Frage erwächst, wo Russland im Blick auf seine Ideale und Werte steht: an der Seite des Westens oder eher im Osten?

„Das Volk“, so diagnostizierte der österreichische Gesandte Sigmund von Herberstein zu Beginn des 16. Jahrhunderts über die Menschen in Russland, „ist von solcher Natur, dass es sich der Leibeigenschaft mehr als der Freiheit freut.“ Bei aller Skepsis gegenüber solchen Pauschalisierungen: Bis heute, so schreibt Krumm, werde noch oft von offizieller Seite betont, dass der „Reformator“ der russischen Gesellschaft immer der Staat gewesen sei, unter Peter dem Großen und Katharina der Großen, bei der Oktoberrevolution und beim Ende der Sowjetunion 1990/91.

Falsch ist diese Einschätzung sicher nicht. Schließlich hatten die meisten Bürgerinnen und Bürger über Jahrhunderte ja auch keine Chance, sich aktiv an der Gestaltung von Politik und Gesellschaft zu beteiligen. Es gab keine Freiheit, unterhalb der staatlichen Ebenen bestenfalls kleine Freiräume, in denen sich so etwas wie eine Zivilgesellschaft bilden konnte. An diesen Belastungen aus der Geschichte trägt die russische Gesellschaft bis heute. Besonders in den Knochen stecken vielen Menschen die Erfahrungen mit dem stalinistischen System und dessen staatlicher Allmacht. Diese Allmacht ließ, so Krumm, den Staat in den Augen der Bevölkerung zum Sündenbock für alles werden. Die Folge: „Selbstverantwortung konnte unter diesen Umständen schnell abgetreten werden.“

Selbstverantwortung, Verantwortung für die Gemeinschaft: Heute gibt es Krumm zufolge – trotz offenkundiger politischer Repressalien unter der autoritären Regierung Putins – die Chance sich einzubringen. Vielerorts geschehe das auch, vor allem auf kommunaler Ebene. Wohin Staat und Gesellschaft in Russland gehen, wagt allerdings auch Krumm als Kenner des Landes nicht vorauszusagen. Eine Modernisierung nach westlichem Vorbild ist seiner Meinung nach jedenfalls nicht unbedingt das Ziel.

„Anleitung zum Verständnis einer anderen Gesellschaft“ hat der Autor sein äußerst dicht geschriebenes Buch im Untertitel genannt. Als solche ist der knapp 130 Seiten lange Essay eine hilfreiche Lektüre für alle, denen das Verhältnis zu Russland und den Russen nicht egal ist. Und das ist in Deutschland eine erfreulich große Zahl von Menschen, wie eine aktuelle Umfrage der Körber-Stiftung beweist: Danach meinen 66 Prozent der Bundesbürger, Deutschland solle mehr mit Russland kooperieren.

Richtig. Aber erfolgreich gelingen kann das nur, wenn wir uns interessieren für dieses riesige Land, dem in deutschem Namen so viel Leid zugefügt wurde. Wenn wir versuchen zu verstehen, was die Menschen bewegt. Leicht ist das nicht. Aber Krumms Buch könnte ein erster Schritt sein.

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