Große weite Nacht

Fauré mit le Sage

Das Kunst- und Kulturzentrum deSingel ist Belgiens Aushängeschild in Sachen zeitgenössischer Kunst; sein Konzertsaal regelmäßig Heimstatt des Collegiums Vocale Gent und von Hervé Niquet. Der Pianist Éric le Sage hat sich den akustisch betörend klaren Saal für die Gesamteinspielung der Nocturnes von Gabriel Fauré (1845–1924) auserkoren, die zuletzt der große Schubert- und Schumann-Virtuose Jean Hubeau vor gut dreißig Jahren veröffentlichte.

Éric le Sage, Professor an der Hochschule für Musik in Freiburg und gleichfalls ein großer Schumann-Kenner, was sich an dem Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik 2010 für seine Schumann-Einspielung ablesen lässt, hat einen ohrenfällig plastischeren Zugang zu Fauré – und wird ihm damit mindestens ebenso gerecht wie seinerzeit Jean Hubeau. Die Nocturnes sind im Œuvre Faurés eine immer wiederkehrende Form: Anfänglich noch in traumwandlerischer Nähe zum Großmeister der erschütternd-flüchtigen Arabesken, Frédéric Chopin, und ihrer dunkelfunkelnden Virtuosität, finden sie sehr schnell aus der Windsbrautträumerei zu fokussiert melancholisch-dramatischer Lyrik, die selbstverständlich in Zwischenwelten Einzug hält und mit harmonischen Verführungen in symbolistische Gefilde lockt wie die mythologische Farbwelt Böcklins.

Gleich die erste Nocturne des 30-Jährigen ist ein Beispiel für die Eigenwilligkeit, mit der Fauré sich dieser Form sicher und ausdrucksstark zu bedienen weiß. Hier lässt auch sofort die Kraft und die bergbachklar quellende Virtuosität Éric le Sages aufhorchen, der Fauré aus seinem Jahrhundert in unsere Zeit holt und jeden klassizistischen Pastellton in Leidenschaft und kühnen Drang – noch in der Träumerei – umgießt. Das ist große Kunst auf allen Seiten, die sich in den folgenden Nocturnes bis etwa zur fünften, die den Abschied von Chopins Seite markiert, fortsetzt. In der sechsten Nocturne, etwa zwanzig Jahre nach der ersten, wartet Fauré mit einer vertieften und veränderten Sensibilität auf. Das Spiel ist kein flüchtiges mehr auf der am Morgen entzauberten Elfenwiese, sondern trägt mit aus den Spätnachmittagsstunden gewebten Beginn durch die Nacht und über sie hinaus mit einer veränderten Stabilität, die in den Spielarten des Moll badet, ohne zu versinken.

Éric le Sage porträtiert diese pianistischen Lebensstufen Faurés mit seinem empathisch geradlinigen Spiel grandios! Mit der neunten Nocturne, noch einmal knapp 15 Jahre später, scheint Fauré noch einmal verändert auf – reduzierter, expressiver, konzentrierter. Auch das strahlt unter den Fingern le Sages. Große, weite, lange Winter-Nacht.

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