Stadtluft macht Zukunft

Warum die Stadt die größte zivilisatorische Errungenschaft Europas ist
Foto: akg-images
Foto: akg-images

Oft schon wurden die Städte in Europa totgesagt, immer wieder haben sie sich neu erfunden. Nun stehen sie abermals vor großen Herausforderungen. Zehn Anmerkungen von dem Autor und Journalisten Uwe Rada.

Folgt man dem italienischen Journalisten Marco d‘Eramo, steht die europäische Stadt vor ihrer bislang schwersten Herausforderung. Kriege hat sie überlebt, große Zuwanderungswellen, doch im Vergleich zu dem, was ihr seit der grenzenlosen Reisefreiheit in Europa widerfährt, waren das alles Peanuts. Denn nun, so d‘Eramo in seinem jüngsten Buch Die Welt als Selfie, befinden wir uns im „touristischen Zeitalter“. Und darin droht ein „Städtemord durch Monokultur“.

Das Ende der Stadt ist schon oft ausgerufen worden, doch immer wieder hat sie überlebt, ihre Fähigkeit, sich zu häuten, immer wieder neu zu erfinden, ist Legende. Dafür spricht allein schon ihre Attraktivität. So hat Berlin in den vergangenen Jahren jeweils 40 000 Einwohnerinnen und Einwohner hinzugewonnen. Und manche von ihnen waren zuvor vielleicht als Touristen in der Stadt gewesen.

Auf der anderen Seite des Erfolgs steht der Aderlass. Schon 2002 hatte die Kulturstiftung des Bundes ein großangelegtes Projekt mit dem Titel „Shrinking Cities“ gestartet, um herauszufinden, wo und warum Städte schrumpfen und welche Gegenmittel es gegen das Ausbluten gibt. In Sachsen-Anhalt versuchte 2010 die Internationale Bauausstellung Stadtumbau, die Städte zukunftstauglich zu machen. Mit mäßigem Erfolg. Je stärker Berlin und Leipzig wachsen, desto größer ist der Druck auf Bitterfeld-Wolfen oder Dessau.

Das gleiche Bild bietet sich in europäischem Maßstab. Metropolen wie London oder Mailand wachsen, in den ländlichen Regionen sterben Dörfer und Städte.

Was wird also aus unseren Städten? Ersticken die einen am eigenen Erfolg während über die anderen bald kaum einer mehr spricht? Und was heißt das für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Klimakrise? Um sich einer Antwort auf diese Fragen zu nähern, lohnt ein Blick zurück.

Historisch ist die Stadt die größte zivilisatorische Errungenschaft, die Europa hervorgebracht hat. Architektonisch und städtebaulich hat sich die europäische Stadt, ganz gleich, ob es sich um römische oder mittelalterliche Stadtgründungen handelt, über all die Jahrhunderte als überaus flexibel erwiesen. Das enge Nebeneinander von Wohnen, Handeln, Arbeiten und Kultur hat den Städten jene Prägung gegeben, von denen sie heute noch zehren – und die nicht selten die Touristen anzieht. Selbst die autogerechte Stadtplanung der 1960er- und 1970er- Jahre, eine Art versuchte nachholende Amerikanisierung, hat der europäischen Stadt nichts anzuhaben vermocht. Heute werden diese Sünden zurückgebaut, es ist gar von einer Renaissance der Innenstädte die Rede. Allerdings muss man sie sich auch leisten können.

Eine Erfolgsgeschichte ist die Stadt auch wegen ihrer inneren Verfasstheit gewesen. Das betrifft nicht nur das Magdeburger Stadtrecht, das die kommunale Selbstverwaltung als Exportschlager bis Krakau und Kiew gebracht hat. Denn Stadtluft hat nicht nur Marktplätze und Märkte hervorgebracht, sie macht auch frei. Denn nur in der Stadt entsteht jenes Klima von Innovation, das die Städte zu Zukunftsmotoren macht. Entstanden ist dieses Klima aus Reibung. Hier entsteht, was wir bis heute Stadtgesellschaft nennen. Vor den Städten (und heute noch außerhalb von ihnen) gab es lediglich homogene Gemeinschaften. Stadt dagegen ist heterogen, in der Stadt trifft man auf das Andere, das Fremde. Das macht manchmal Angst, aber es schafft auch jene Neugier und Lässigkeit, um auf engsten Raum passabel neben- und miteinander leben und die Zukunft gestalten zu können.

Der große Menschensauger

„Großstädte“, hat Hartmut Häußermann einmal geschrieben, seien „Integrationsmaschinen“. Vor allem aber seien sie ohne Zuwanderung nicht denkbar. „Zuwanderung ist konstitutiver Bestandteil von Stadtentwicklung“, so der 2011 verstorbene Stadtsoziologe. Das gilt natürlich zuallererst für das 19. Jahrhundert, das Zeitalter der Industrialisierung, in dem die Stadtbevölkerung von Manchester über das Ruhrgebiet bis Berlin regelrecht explodierte. Allein in Berlin stieg die Zahl der Bewohnerinnen und Bewohner von 200 000 im Jahre 1815 auf über zwei Millionen kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs. Neben den altehrwürdigen Städten wie Paris oder Rom gab es nun also auch Emporkömmlinge unter den Metropolen.

Spätestens seit der Verstädterung des 19. Jahrhunderts muss man auch über das Verhältnis von Stadt und Land reden. So kamen nach Berlin nicht nur Baustoffe wie Kohle aus Schlesien, sondern auch Arbeitskräfte, unter ihnen die sprichwörtlichen Spreewälder Ammen, denen vor einigen Jahren in Burg eine Ausstellung gewidmet war. Da Stillen in den besseren Kreisen der Hauptstadt als „animalisch“ galt, waren die Spreewälderinnen mit ihren sorbischen Trachten nicht nur Abhilfe, sie galten bald auch als Statussymbol. Zeitweise sollen über tausend von ihnen in Berlin ihren Dienst geleistet haben, viele ließen sich in ihrer Heimat schwängern, um in Berlin gutes Geld verdienen zu können. So ging die Entwicklung der Stadt also einher mit der Auflösung dörflicher Strukturen auf dem Lande. Die Stadt, der große Menschensauger.

Und die Stadt als große Revolutionärin. Zwar waren die Ammen, auch wenn August Bebel ihr Schicksal beschrieben und Heinrich Zille sie gezeichnet hatte, keine Gruppe, die sozialistischer Umtriebe verdächtig gewesen wäre, dafür verdienten sie zu gut, und auch ihr gesellschaftlicher Status in Berlin war vergleichsweise hoch. Das industrielle Reserveheer allerdings, das die Industrialisierung aus Schlesien nach Berlin oder aus Polen ins Ruhrgebiet spülte, kam in den Städten auf der untersten sozialen Leiter an, ohne dass es große Aufstiegsmöglichkeiten gegeben hätte.

So entstanden in den Städten die berüchtigten Elendsviertel – beschrieben in zahlreichen Werken der Literatur, aus denen die moderne Stadtsoziologie hervorgegangen ist – und mit ihnen die wachsenden sozialen Unruhen und revolutionären Bestrebungen. Oft tragen diese auch die Städte, an denen sie stattfanden, im Namen, etwa die „Pariser Commune“. Bis heute sind Städte damit Symbole für Freiheitsbestrebungen geblieben, man denke nur an den „Prager Frühling“ oder den „Fall der Berliner Mauer“.

Orte der Vielfalt

Als Berlin 2012 den 775. Jahrestag seiner ersten urkundlichen Erwähnung feierte, war es die erste gesamtstädtische Feier seit der 700-Jahrfeier der Nazis 1937. Die 750-Jahrfeier 1987 fand schließlich unter den Bedingungen der Teilung statt. Doch weniger dieser als vielmehr der Nazifeier von 1937 galt der Titel, den sich Berlin 2012 ausgesucht hatte: „Berlin. Stadt der Vielfalt“. Es war eine Verneigung vor der Einwanderungsgeschichte der deutschen Metropole, angefangen von den Hugenotten über die türkischen Gastarbeiter bis zur Einwanderung nach dem Fall der Mauer aus den Ländern Mittel- und Osteuropas.

Städte als Orte der Vielfalt, das ist heute wohl eines der stärksten Argumente für die Stadt. Wo sonst treffen Kulturen, Religionen und Sprachen so auf engstem Raum zusammen wie im zunehmend bunten Raum der Städte. Doch diese anhaltende Attraktivität der Städte und ihre Diversität können nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihnen seit jeher etwas Janusköpfiges anhaftet. Neben der Faszination Metropole gab es immer auch die Angst vor der Stadt, dem Moloch, dem Sündenbabel, dem Sieg der Maschine über den Menschen, verkörpert in Fritz Langs „Metropolis“. Umgekehrt wehren sich die Städter mit einer Verachtung der Provinz. Sie galt bald als rückständig und reaktionär. Bis heute spiegeln sich diese Zuschreibungen etwa in den Erklärungsversuchen über das Wahlverhalten städtischer und ländlicher Milieus.

Worüber weniger gesprochen wird, sind die fließenden Übergänge zwischen Stadt und Land. Auch da ist das 19. Jahrhundert ein gutes Beispiel. Die Industrialisierung brachte nicht nur menschliche Arbeitskräfte in die Stadt, sie entfremdete auch die Städter vom Land. In Berlin war der Aufstieg der Metropole gleichbedeutend mit dem Bedeutungsverlust der Mark. Es brauchte erst Theodor Fontane und seine Wanderungen durch die Mark Brandenburg, um beide Lebenswelten wieder miteinander ins Gespräch zu bringen. Fontanes Reisebilder und Geschichtslektionen machen die bis dahin eher als Einöde empfundene Mark zu dem, was sie bis heute ist – eine zauberhafte Landschaft aus Flüssen, Seen und Wäldern sowie eine Geschichtslandschaft, deren Schlösser, Herrenhäuser, Klöster und Kirchen zu unserem kulturellen Erbe gehören.

So brachte die Provinz der Metropole Arbeitskräfte, und die Metropole der Provinz die ersten Touristen. Nicht mehr nur Italien und die „Grand Tour“ standen im 19. Jahrhundert auf der Agenda der Touristen, auch nicht mehr nur Alpen und Gebirgstäler, sondern auch der Ausflug ins Grüne. Denn nicht nur Städte gehören seit damals zum „touristischen Zeitalter“, sondern auch die „Landpartie“.

Als 1908 in Berlin das Märkische Museum gebaut wurde, eine architektonische Reminiszenz an die märkische Kirchenarchitektur, kam mit dem Bau von Ludwig Hoffmann auch ein Stück Land in die Stadt. Dieser Trend dauert bis heute an und ist ein europäischer geworden. Auf Brachflächen wird gegärtnert, auf Marktplätzen bringen Bauernmärkte gesunde Lebensmittel an sehnsüchtige Städter, auf Dächern entstehen Gemüse und Fischzuchtanlagen. Nie waren die Städte so grün wie heute.

Das gilt auch für ihre Umwelttauglichkeit. Um die Städte an den Klimawandel anpassungsfähig zu machen, werden Gründächer gefördert und Fassaden begrünt, als „Schwammstädte“ sollen sie das Wasser halten und bei Bedarf wieder abgeben. Auch bei der Verkehrswende spielen die Städte eine wichtige Rolle. Berlin hat als erste deutsche Stadt ein Mobilitätsgesetz, das den Radverkehr stärken soll, in Madrid kommt mit dem Auto nur noch in die Innenstadt, wer Bewohner ist.

So werden die Städte immer grüner – und zugleich immer dörflicher. Denn die neue Renaissance der Innenstädte schafft auch neue Ansprüche. Wer in den 1990-er-Jahren noch ins Umland der Großstädte zog, um dort Ruhe und Abgeschiedenheit zu genießen, will nun beides, wenn er zurückkehrt: städtische Kultur und dörfliche Ruhe. Nicht selten verschwindet damit auch das, was Städte attraktiv macht, das Clubleben zum Beispiel. Diese Verdorfung der Stadt kann man, neben ihrer Touristifizierung, in ganz Europa beobachten, im neureichen Notting Hill in London, in den Gated Communities von Warschau, im Bionade Biedermeier des Prenzlauer Berg. Der Grund ist die wachsende Gentrifizierung und Segregation. Es bildet sich nicht mehr automatisch Gesellschaft in den Städten, vielmehr existieren mehr und mehr lokale Gemeinschaften nebeneinander her. Das gilt sowohl für die Reichen und die grün-alternative Mittelschicht, als auch für Arme und Migrantencommunities. Die Integrationsmaschine Stadt, die die Integrationsmaschine Industrie abgelöst hat, ist an ihre Grenzen gekommen.

Heute existiert eine Vielzahl von Städten. Hauptstädte sind darunter und Metropolen, aber auch Großstädte und Landstädte, sogar „Global Cities“ wie London, deren Wertschöpfungskette von der regionalen Wirtschaft schon lange abgekoppelt ist. Ihr Erfolg oder Misserfolg hängt nicht nur von der lokalen Politik ab, sondern auch von ihrer geoökonomischen Lage. Die „Blaue Banane“, die von London über das Ruhrgebiet bis nach Mailand reicht, bildete dabei die Wachstumsregionen in Europa vor dem Fall der Mauer ab. Seitdem sind neue Entwicklungsachsen dazu gekommen, zum Beispiel über Berlin nach Warschau oder über Wien nach Budapest. Doch mit den wirtschaftlichen Zentren können sie es nur punktuell aufnehmen.

Immer mehr zeichnet sich ab, dass es in Europa Gewinner- und Verliererregionen geben wird. Der Soziologe Manuel Castells spricht sogar von places of flow und places of space. In den einen ist alles in Bewegung, Menschen, Kapital, Warenströme, in den anderen steht die Zeit still, und man ist froh, wenn wenigstens das Postauto noch kommt. Diese neue, globale Produktion von Raum macht auch vor den Städten nicht halt. Neapel hat es, in einer europäischen Verliererregion gelegen, schwer, den Anschluss zu finden. Das gleiche gilt für die ostdeutschen Städte. In Regionen wie London oder Mailand dagegen ist ein Ende des Booms nicht absehbar. Wachsende und schrumpfende Regionen sind die entscheidenden Gegensätze heute, sie haben den Stadt-Land-Gegensatz abgelöst.

Dezentrales Städtenetz

Dennoch gibt es unterhalb dieses Megatrends neue Entwicklungen, die für die Zukunft positiv stimmen lässt. Bereits im Januar 2016 ergab eine Studie des Berlin Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, dass die Abwanderung aus den neuen Bundesländern – mit einem Bevölkerungsverlust von insgesamt 1,8 Millionen Menschen seit der Wende – gestoppt war. Erstmals zog es mehr Menschen aus dem Ausland und den alten Bundesländern nach Ostdeutschland als von dort fortgingen. „Seit der Wiedervereinigung hing dem Osten ein schlechtes Image an“, erklärten die Autoren der Studie, Theresa Damm und Manuel Slupina. „Wer kann, der geht in den Westen – so hatte es lange den Anschein. Dass jetzt auch viele Studienanfänger aus den westdeutschen Bundesländern nach Leipzig, Dresden oder Jena gehen, ist ein Erfolg für diese Städte.“

Die neue Attraktivität der ostdeutschen Städte ist auch das Ergebnis von Anstrengungen: Viele zu DDR-Zeiten vernachlässigte Innenstädte wurden saniert, es gab Fördermittel für die Instandsetzung von Plätzen und ganzen Stadtquartieren, die Infrastruktur ist auf dem neuesten Stand.

Das gilt nicht nur für die „in“ gewordenen Städte wie Leipzig und Erfurt, sondern auch für mittlere und kleinere Städte, die ebenfalls von der Landflucht profitieren. Wenn sie ihre Infrastruktur halten oder ausbauen, sind sie nicht nur attraktiv für Ältere, die dort ins Museum oder zum Arzt gehen wollen. Sie bieten auch jenes Maß an Überschaubarkeit, dass sie sowohl für Vielfalt stehen als auch für Orientierung.

So ist in Deutschland vor allem ein dezentrales Städtenetz ausschlaggebend für die Zukunftsfähigkeit der Städte. Denn anders als in Frankreich oder London mag Berlin zwar ähnlich attraktiv wie Paris oder London geworden sein. Aber es ist nicht die Stadt, in die alle ziehen wollen oder müssen. Und anders als bei Venedig oder Rom wäre es in Berlin wohl auch verfrüht, von einem „Städtemord durch Monokultur zu sprechen“.

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.
Foto: Marco Cerovac

Uwe Rada

Uwe Rada, geboren 1963, ist Redakteur der »taz« und Buchautor. Er lebt in Berlin. Für seine publizistische Arbeit hat er verschiedene Stipendien und Preise erhalten, unter anderem von der Robert-Bosch-Stiftung und dem Goethe-Institut. 


Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Gesellschaft"