Kein Sprint, ein Marathon

EKD-Synodale ziehen in Dresden Zwischenbilanz bei der Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt

Während der EKD-Synodaltagung in Dresden tauschen sich Mitglieder des EKD-Beauftragtenrates, Synodale und von sexualisierter Gewalt Betroffene aus. Ihre Bilanz: „Wir stehen erst am Beginn.“

Die anstrengenden Wochen, die hinter ihr liegen, sieht man Kerstin Claus nicht an. Sie ist Mitglied des Betroffenenrates des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM). Die Vorbereitung ihrer Rede vor den EKD-Synodalen in Dresden kostete sie Kraft und Ausdauer, musste sie doch die Quadratur des Kreises schaffen. Einerseits die Forderungen der Betroffenen von sexualisierter Gewalt gegenüber der evangelische Kirche deutlich machen und Versäumnisse benennen und andererseits in den Dialog mit der Evangelischen Kirche in Deutschland und ihren Synodalen treten. Die 50-Jährige war in den Achtzigerjahren von einem evangelischen Pfarrer in Bayern missbraucht worden. Unter den Folgen leidet sie bis heute. Sie hat lange gekämpft, um gehört zu werden, und nun erfüllt sie dieser Tag auch „mit Stolz“, wie sie in Dresden vor der Presse sagt.

Den Synodalen allerdings hält sie den Spiegel vor und erinnert an das Zitat des EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm aus dem vergangenen Jahr. Der hatte vor der EKD-Synode 2018  gesagt:  „Null Toleranz mit Täter und Mitwissern.“  „Das haben sie in ihren Landeskirchen noch nicht eingelöst“, mahnt Kerstin Claus. Dass Täter, die Missbrauch begangen haben, noch immer im kirchlichen Dienst tätig sind, weiß auch sie aus eigener leidvoller Erfahrung. Deshalb fordert sie vor den Synodalen, dass Täter nicht weiter in der Verkündigung eingesetzt werden und auch Gemeinden von ihnen erfahren müssten.

Sie ruft die Synodalen dazu auf, eine Haltung zu entwickeln: „Jenseits aller Verfahren muss Täterschaft ausgesprochen und darf nicht hinter Aktendeckeln versteckt werden.“ Und sie fragt weiter: „Wo bleibt der Satz, der uns Betroffene in den Mittelpunkt stellt?“ Deutlich ist: Ohne klare Haltung wird der anstehende Prozess nicht gelingen. Und: Es wird die Kirche etwas kosten, da ist sich Kerstin Claus sicher: „Sie werden ihren Wesenskern aufgeben, ihre Deutungshoheit.“

Dass institutionelle Aufarbeitung nur gelingen kann, wenn die evangelische Kirche und Betroffene auf Augenhöhe sprechen, wird an diesem Vormittag deutlich. Das ist auch die Lehre aus der Auseinandersetzung mit dem Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig. Daraus ergibt sich: Bevor die Kirche handelt, muss sie an die Betroffenen herantreten, sie muss deren Geschichten hören, sie muss sie ernst nehmen, Wut, Trauer und Verbitterung aushalten. Vor allem muss sie ihr Handeln danach ausrichten. Deshalb ist richtig, dass die evangelische Kirche einen Betroffenenbeirat einrichten will. Er soll als kritisches Gegenüber zur EKD die Betroffenenperspektive in die verschiedenen Arbeitsprozesse einbringen. Ab sofort können sich Betroffene für den Rat, der aus zwölf Personen für die Dauer einer Amtszeit von vier Jahren gewählt wird, bewerben.

Aber das ist nur ein Punkt der Zwischenbilanz, die die Hamburger Bischöfin und Sprecherin des Beauftragtenrates zum Schutz vor sexualisierter Gewalt Kirsten Fehrs und der bayerische Kirchenjurist Nikolaus Blum an diesem Vormittag liefern. Zur Erinnerung: Während der Synodaltagung in Würzburg vor einem Jahr hatten die Synodalen einen Elf-Punkte-Plan zur Aufarbeitung der sexualisierten Gewalt in der evangelischen Kirche verabschiedet.

Eine neue Gewaltschutzrichtlinie legt verbindliche Standards in der Prävention, aber auch für die Intervention fest. Bemerkenswert ist, dass der Begriff der sexualisierten Gewalt noch weiter definiert wird, als es die strafrechtliche Terminologie vorsieht. Das heißt: „Sexuell bestimmtes Verhalten bei Kindern ist immer und ohne Ausnahme sexualisierte Gewalt.“ Und: „Sexuelle Kontakte innerhalb einer Seelsorge- und Vertrauensbeziehung sind mit dem Schutzauftrag der Kirche nicht und nie vereinbar und deshalb unzulässig.“ Ansprech- und Meldestelle sowie Unabhängige Kommissionen in mittlerweile 18 von 20 Landeskirchen bilden die Basis des „empfohlenen fachlich-professionellen und individuellen Unterstützungssystems“. Das Ziel: eine Vereinheitlichung der Arbeitsweise der Kommissionen und allgemein gültige Kriterien für die Bewilligung von Leistungen zu definieren.

Der bayrische Kirchenjurist Nikolaus Blum macht in Dresden deutlich, dass die evangelische Kirche weiter auf individuelle Lösungen setzt, die auch „nach Verjährung und ohne strenge Nachweispflicht ihre Wirksamkeit entfalten“. Im Gegensatz zur katholischen Kirche, in der derzeit  Entschädigungszahlungen in Höhe von bis zu 400 000 Euro diskutiert werden. Der bayerische Oberkirchenrat verweist darauf, dass Forderungen in diesen Größenordnungen zwangsläufig zu Auseinandersetzungen über die Beweisbarkeit von Sachverhalten führen würden, „also genau zu den Verfahren, welche die Betroffenen über lange Zeit stark belasten und retraumatisieren würden“.

Fest steht: „Aufarbeitung ist kein Sprint, Aufarbeitung ist ein Marathon“, sagt Kerstin Claus. Und bei aller Kritik formuliert sie am Ende ihre Vision: einer Kirche, die Sprechräume schafft, in der Täter immer machtloser werden, weil sie nicht mehr auf das Schweigen setzen können. Und einer Kirche, in der Kinder und Jugendliche sprechfähig sind und in der ihr Schutz tatsächlich Priorität hat.

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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