Schaut hin!

Wie der Ökumenische Kirchentag zu seinem Motto kam

Ich habe schon an allerlei Veranstaltungen mit einem Motto teilgenommen, beispielsweise an diversen Evangelischen Kirchentagen mit einem biblischen Leitwort. Ich habe auch schon selbst Leitworte für Veranstaltungen mit ausgesucht, beispielsweise für ein zweihundertjähriges Jubiläum einer Universitätsgründung. Noch nie allerdings habe ich das Motto eines Kirchentages ausgesucht und dazu das eines Ökumenischen Kirchentages. Vergangenes Wochenende war es nun soweit – auf der Tagesordnung des Präsidiums des dritten Ökumenischen Kirchentages stand die Auswahl eines biblischen Leitworts. Den Prozess dieser Auswahl fand ich ganz bemerkenswert, denn er unterschied sich vollkommen von dem für die akademische Jubelfeier des Jahres 2010. Die Auswahl im Präsidium des Ökumenischen Kirchentags begann nämlich damit, dass eine Alttestamentlerin und ein Neutestamentler die biblischen Leitworte kurz, aber sehr tiefsinnig auslegten und in ein ganzes Konzept biblischer Texte einbanden, die jeweils den Gottesdiensten, Bibelarbeiten und Andachten des großen Treffens im Mai 2021 zugrunde liegen könnten. Drei alternative Pakete biblischer Texte wurden präsentiert – und man merkte nicht nur die exegetische Leidenschaft und das theologische Vergnügen der Verantwortlichen bei der Auswahl, sondern man spürte auch, dass ein solcher Zugang zu biblischen Texten die zuhörenden Präsidiumsmitglieder faszinierte und alle eifrig entweder in den mitgelieferten Textabschnitten lasen oder ihre elektronischen Bibeln auf den einschlägigen Geräten und Telefonen konsultierten. In meiner akademischen Zunft beobachte ich, wenn von biblischen Texten und ihrer Auslegung nach wissenschaftlichen Maßstäben die Rede ist, bei einigen eine resignative Stimmung – niemand wolle mehr die Ursprachen lernen, in denen biblische Texte verfasst wurden und auch kaum jemand interessiere sich für deren akademische Exegese – und bei anderen ein kämpferisches Eintreten dafür, die Konzentration auf die biblischen Sprachen und die heiligen Texte im Theologiestudium und später in der Predigt endlich zu beenden. Diese alten Überlieferungen würden doch ohnehin niemand mehr etwas sagen.

Bei der Suche nach dem biblischen Leitwort des dritten Ökumenischen Kirchentages spielten die biblischen Ursprachen eine ganz selbstverständliche Rolle, denn natürlich war nach einer ökumenischen Übersetzung zu suchen und für ein solches Treffen nicht einfach die revidierte Lutherübersetzung oder die ebenfalls erneuerte Einheitsübersetzung zu verwenden. Also fielen in den Vorträgen der Alttestamentlerin und des Neutestamentlers hebräische und griechische Worte und es wurde kritisch geprüft, welcher deutsche Ausdruck das Gemeinte besser zum Ausdruck bringen könne. Und kaum, dass das schlussendlich gewählte Leitwort öffentlich geworden war – „schaut hin“ (Markus 6,38), begann eine von vielen über Twitter und Facebook verfolgte Debatte darüber, ob hier das deutsche „Sehen“ oder „Schauen“ dem griechischen Original angemessener sei. In der Diskussion über das Leitwort fragte ein katholischer Laie, ob hier vielleicht doch zu wenig Verheißung und zu viel Aufforderung zum Ausdruck gebracht würde und ließ keinen Zweifel daran, dass er mit der reformatorischen Unterscheidung von Gesetzespredigt und Evangeliumsverkündigung bestens vertraut war (und auf evangelische Zustimmung zu seinem Votum hoffte). Wie engagiert theologisch diskutiert wurde, lässt sich daran erkennen, dass bei der anschließenden Pressekonferenz immer wieder zu hören sei, dass „Schaut hin“ Appell und Verheißung zugleich sei und das schon in der zugrundeliegenden neutestamentlichen Geschichte: Gott wendet den Blick der Menschen und verwandelt das bloß neugierige oder irritierte Hingucken in ein getrostes Schauen. Der normale menschliche Blick sieht nur ein leeres Grab, wer schauen darf, sieht den Gekreuzigten als lebendigen Herrn.

Natürlich glaube ich nicht, dass beim Ökumenischen Kirchentag alle Menschen in Frankfurt darüber diskutieren wollen, welche griechischen Vokabeln für Sehen und Schauen wie ins Deutsche übersetzt werden sollten; selbstverständlich glaube ich nicht, dass heute alle Menschen Zugang zum christlichen Glauben dadurch finden, dass man über biblische Texte exegetisch und theologisch diskutiert oder Vorträge anhört. Aber mich hat sehr glücklich gestimmt, dass das biblische Leitwort des dritten Ökumenischen Kirchentages nicht von einer Werbeagentur ausgesucht wurde (obwohl Marketing-Gesichtspunkte selbstverständlich gründlich diskutiert wurden), sondern nach einem biblischen Wort gesucht wurde, dass zentrale theologische Anliegen ebenso kommuniziert wie das, was gerade im Augenblick anliegt. „Allein durch die Schrift“ ist eben keine hoffnungslos veraltete anti-katholische Kampfparole oder eine berufsbedingte Illusion von Theologieprofessoren für einen Grundzug des Christentums. Und aus der Schrift entsteht eben nach wie vor Orientierung zum Leben: Denn was bleibt zu sagen und zu tun, wenn fast ein Drittel derer, die in einem Bundesland wählen sollen, sich nicht beachtet und nicht gewürdigt fühlt? Mir jedenfalls scheint da „schaut hin“ ein ungemein wichtiger Hinweis für Glaubende wie Nichtglaubende zu sein. Nicht nur in diesem Jahr, sondern sicher auch noch 2021.

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