Keine Verfallsgeschichte

Wer über die kleiner werdende Zahl der Pfarrerinnen und Pfarrer klagt, sollte genauer hinschauen
In der Bibliothek der Augustana in Neuendettelsau
Foto: Julia Horn
In der Bibliothek der Augustana in Neuendettelsau

In die Debatte um die hohe Zahl der in Pension gehenden Pfarrerinnen und Pfarrer schleicht sich manches Mal ein Missverständnis: Oft wird dabei nämlich nicht gesagt, wie viele in Zukunft gebraucht werden. Angesichts der zurückgehenden Mitgliederzahlen ist längst nicht für jede Pfarrperson eine Nachfolge nötig. Ein Blick in die Statistik von Christiane de Vos, Referentin für Hochschulwesen, und Torben Stamer von der Bildungsabteilung des Kirchenamtes der EKD in Hannover.

Ganze Landstriche ohne Pfarrpersonal, zahlreiche Gemeinden nicht versorgt, Menschen nicht beerdigt – die Befürchtungen rund um den erwarteten Mangel an Pfarrerinnen und Pfarrern werden teils in Bildern gezeichnet, die einen drohenden Untergang der Kirche vor Augen führen. Wir schlagen in unserem Beitrag vor, diese Bilder anders zu rahmen. Dann lassen sich zwar Herausforderungen, aber auch Chancen mit Blick auf die erwartete Situation entdecken.

Tatsächlich könnte man die Zahlen zum Theologiestudium als Zeugnis einer Verfallsgeschichte lesen. Vor etwa 200 Jahren haben noch über 25 Prozent der Studenten evangelische Theologie studiert. Heute bewegt sich die Zahl im Promille-Bereich: 0,8 Prozent aller Studierenden waren im Wintersemester 2017/18 in einem theologischen Studiengang eingeschrieben. Eine solche Betrachtung lässt jedoch viele gesellschaftliche Entwicklungen außen vor – etwa die Tatsache, dass sich die Universitäten seitdem vielen anderen Fächern und Bevölkerungsschichten geöffnet haben, also insgesamt die Akademisierung zugenommen hat. Daher ist es angemessener, einen anderen Blick auf die Zahlen zu werfen.

Abnehmende Kirchenbindung

Anhand der Zahlen der Absolvent*innen der Ersten Theologischen Prüfung lässt sich – etwas vereinfacht – illustrieren, dass die Abnahme der Absolventenzahlen viele verschiedene Ursachen hat. Zwar sank die Anzahl der westdeutschen Absolvent*innen im Zehnjahresvergleich von 1992 bis 2002 um zwei Drittel auf 326 Absolvent*innen. Ein Faktor hierfür ist der demographische Wandel. Im Zehnjahresvergleich um 26 Jahre zurückversetzt – dies ist die Zeit, die für das Abitur, ein gap year und das Studium genötigt wird – sinkt die Zahl der Geburten in Westdeutschland um immerhin etwas mehr als 40 Prozent auf über 600 000 Geburten in 1976.

Für den Zehnjahresvergleich von 1992 bis 2002 dürften zwei weitere Gründe für die sinkende Zahl an Theologiestudierenden eine Rolle spielen. Zum einen gab es nicht genügend Pfarrstellen für alle Absolvent*innen in den westdeutschen Landeskirchen. Zum anderen hat die Kirchenbindung abgenommen. Die Studierendenzahlen hängen offenbar also nicht nur von der Attraktivität der Arbeitgeberin Kirche ab, sondern auch von anderen Faktoren wie der Jahrgangsstärke und der Kirchenbindung.

Erfreulich ist die neuere Entwicklung der Zahlen der Studierenden, die Theologie auf Pfarramt oder Magister studieren. Mit Blick auf die vergangenen zwanzig Jahre fällt auf, dass die Zahlen in der ersten Hälfte der Nuller-Jahre einen Tiefpunkt (um die 3 400 Studierenden) erreichten, danach aber wieder gestiegen sind und derzeit relativ konstant bei etwa 6 600 Studierende liegen.

In den vergangenen Jahren war die Zahl der Menschen, die ihr Vikariat antraten, sehr schwankend. Dies zeugt von einem Phänomen, das an mehreren Stellen der Ausbildungsbiographie die Verantwortlichen vor Herausforderungen stellt: Viele Studierende gehen nicht mehr direkt nach der Ersten Theologischen Prüfung ins Vikariat, andere bewerben sich in mehreren Landeskirchen parallel um einen Vikariatsplatz, wieder andere werden vor oder während des Vikariates Eltern. Dies alles ist legitim bis erfreulich, erschwert aber die Personalplanung. Die neuesten Zahlen lassen 2019 in etlichen Predigerseminaren volle Kurse erwarten.

Bislang kaum ein Mangel

Da schon häufig über den Mangel an Pfarrer*innen geschrieben wurde, ist es wichtig zu betonen: Bislang gibt es ihn nicht oder kaum. Die Lage in den einzelnen Gliedkirchen ist regional sehr unterschiedlich. Jedoch ist mit einem Rückgang der Pfarrpersonen im kommenden Jahrzehnt zu rechnen.

In die Debatte schleicht sich manches Mal ein Missverständnis ein: Wenn aufgeführt wird, wie viele Pfarrpersonen in den nächsten Jahren in den Ruhestand gehen, wird anschließend häufig nicht gesagt, wie viele in Zukunft gebraucht werden. Angesichts der zurückgehenden Mitgliederzahlen – die jüngst veröffentlichte Freiburger Projektion rechnet mit einem Rückgang um die Hälfte bis 2060 – braucht es nämlich längst nicht für jede*n pensionierte*n Pfarrer*in eine Nachfolge. Dies hat in der Realität der Ortsgemeinden und in den nichtparochialen Arbeitsbereichen häufig schmerzhafte Folgen, weil dort Stellen gekürzt oder gestrichen werden.

Der Stellenabbau hat aber nicht den Pfarrermangel als Ursache, sondern die kleiner werdende Kirche. In den ostdeutschen Landeskirchen ergibt sich die größte Herausforderung aus der kleiner werdenden Kirche mit ihrem Personalabbau und neuen Anforderungen, während die westdeutschen Landeskirchen durch ihre Einstellungs- und Stellenpolitik in den Achtziger- und Neunzigerjahren besonders mit dem Pfarrermangel konfrontiert sind.

Nicht mehr antizipierbar

Die EKD-Gliedkirchen haben auf den erwarteten Pfarrer-mangel mit unterschiedlichen Maßnahmen reagiert. Etliche Landeskirchen stellten in den vergangenen Jahren mehr Pfarrer*innen ein, als es der Stellenplan vorsieht. Die Kirchen haben ihr Engagement in der Nachwuchsförderung verstärkt. Es gibt ein ganzes Netzwerk Nachwuchsgewinnung. Im Engagement für den pastoralen Nachwuchs haben sich die Landeskirchen zu einer gemeinsamen Kampagne zusammengeschlossen (www.das-volle-leben.de). Auch für die Begleitung Studierender wurden und werden neue Konzepte entwickelt.

Ungeachtet aller Maßnahmen und Anstrengungen werden Pfarrer*innen fehlen und Stellen nicht mit Pfarrpersonal besetzt werden können. Konkrete Zahlen liegen hierzu ekd-weit nicht vor, da die Entwicklung von vielen verschiedenen Faktoren abhängt. Die Nordkirche rechnet zum Beispiel mit einem Rückgang der Pfarrer*innen im aktiven Dienst zwischen 2020 und 2030 von 1 700 auf 1 100 Personen, da in dem Zeitraum 900 Pensionierungen etwa 300 Neueinstellungen gegenüberstehen. Die Zahlen sollten jedoch nicht verallgemeinert werden. Unabhängig vom konkreten Ausmaß des Pfarrermangels stellen sich angesichts dieser Perspektive Fragen nach den Aufgaben von Pfarrer*innen neu.

Wie sieht der Beruf aus, für den Universität und Kirche ausbilden? Diese Frage begleitet sämtliches Arbeiten an Ausbildungskonzepten, Personalplanung und -entwicklung. In vielen Gliedkirchen gibt es Konsultationsprozesse zum Pfarrbild und zur Kirche der Zukunft. Pfarrbilder und Kirchenbilder gehören zusammen. Entsprechend verstehen viele Predigerseminare ihre Aufgabe so, dass sie lediglich für die ersten Amtsjahre und nicht für die gesamte Amtszeit ausbilden. Wie der Pfarrberuf in zehn bis zwanzig Jahren aussähe, ließe sich nicht sagen.

Die Entwicklung des Berufs ist nicht mehr antizipierbar. Die Predigerseminare arbeiten deswegen kontinuierlich an Konzepten der kirchlichen Ausbildung, die den permanent sich wandelnden Anforderungen des Berufs strukturell und inhaltlich Rechnung tragen. Die Veränderungen des Pfarrberufs bedeuten auch für die Nachwuchsgewinnung, dass Menschen gebraucht werden, die die Zukunft der Kirche mitgestalten wollen. Für alle Ordinierten ergibt sich daraus die Relevanz kontinuierlicher Fortbildung – ein Anliegen, das geduldiges ekd-Papier schon lange festgehalten hat…

Schaut man auf die Theologiestudierenden, Vikar*innen und Pfarrer*innen, so erhält man ein Bild wachsender diversity: Die Genannten haben unterschiedliche geschlechtliche Identitäten und sexuelle Orientierungen. Sie leben in verschiedenen Lebensformen: als Singles, Alleinerziehende, Ehepartner*innen mit und ohne Kinder.

Der Pfarrberuf wird tendenziell „weiblicher“. 2014 lag der Anteil der Frauen an den Pfarrer*innen im aktiven Dienst noch bei 37 Prozent. Bei den nachkommenden Generationen (Studierende, Vikar*innen, Pfarrer*innen in den ersten Amtsjahren) ist grob gerechnet ein Verhältnis von 60 Prozent Frauen zu 40 Prozent Männern zu beobachten, wobei die Relationen in einzelnen Landeskirchen unterschiedlich sind. Dieser Frauenanteil liegt damit leicht über dem Frauenanteil an den Kirchenmitgliedern (circa 55 Prozent).

Auch die Erwartungen an die Gestalt der Arbeit im Pfarrberuf verändern sich: Immer mehr Pfarrer*innen arbeiten lieber in (multiprofessionellen) Teams, die sich über die Arbeitsaufteilung verständigen, orientiert an Gaben und Profil. Sie fordern ein Klima, in dem man zu den eigenen Stärken und Schwächen stehen darf, denen entsprechend eine geeignete Pfarrstelle gesucht werden kann.

Zur Vielfalt pfarramtlicher Profile gehört es auch, Menschen mit unterschiedlichen Berufsbiographien den Zugang zum Pfarrberuf zu ermöglichen. Dafür wurde in den vergangenen Jahren eine Rahmenstudienordnung für einen Weiterbildungsmaster „Master of Theological Studies“ entwickelt, der zum Eintritt in das Vikariat berechtigt. Zugleich wird mit dieser Öffnung für Quereinsteiger*innen an der akademischen Bildung des Pfarrpersonals festgehalten. Denn trotz des erwarteten Mangels ist es wichtig, für eine qualitativ gute akademische Ausbildung der Pfarrpersonen Sorge zu tragen; darin besteht bei Fakultäten und Kirchenleitungen Konsens.

Wie kann ein gutes Theologiestudium zehn Jahre nach Umsetzung der Modulstrukturierung in Folgen der „Bologna-Reform“ aussehen? Dafür lohnt ein Blick auf die Motivation der Studienanfänger*innen, die Maximilian Baden genauer in seiner im kommenden Jahr erscheinenden Dissertation untersucht. Nach Baden kann bei den Studienanfänger*innen eine kirchliche Anbindung beobachtet werden, wobei gerade die Pfarrpersonen, aber auch Religionslehrkräfte für das Studium motivieren. Die Studienanfänger*innen schätzen über die Auseinandersetzung mit dem eigenen Glauben hinaus insbesondere den Gegenwartsbezug, den sie in der Theologie vermuten. Es sei angefügt, dass die Studienanfänger*innen heute andere Kompetenzen und Wissensbestände mitbringen als noch vor zwanzig Jahren. Sie lernen und kommunizieren anders.

Rolle der Pfarrpersonen klären

Im Mai 2019 haben sich erstmals in großem Rahmen Aus- und Fortbildungsverantwortliche der Universitäten und Kirchen in einer Konsultation „Pfarrer/in werden und sein“ getroffen und miteinander über Kriterien, Themen, Didaktik und Ziele von Theologiestudium auf Pfarramt, Vikariat und Fortbildung debattiert. Unter anderem in Folge dieser Konsultation wird derzeit in den zuständigen Gremien und Konferenzen darüber diskutiert, was das Theologiestudium heute leisten kann und sollte.

Aus kirchlicher Perspektive ist es eine besondere Herausforderung, die drei Phasen – Studium, Vikariat und Fortbildung in den (ersten) Amtsjahren – angemessen aufeinander zu beziehen. Dafür ist auch eine Rollen- und Aufgabenklärung der ausbildenden Institutionen notwendig. Die Ausbildung zum Pfarrberuf ist genauso wie der Beruf selbst im Wandel von Theologie, Kirche und Gesellschaft zu sehen. Ein Beispiel dafür ist die Frage nach dem Miteinander der Berufsgruppen. Wie wird sich die Rolle von Pfarrer*innen innerhalb der Landschaft kirchlicher Berufe verändern? Und was wird das für die jeweiligen Ausbildungen bedeuten?

Die gegenwärtigen und anstehenden Veränderungen motivieren uns, für eine weiterhin qualitativ hochwertige Ausbildung einzutreten. Sie soll Menschen im 21. Jahrhundert für einen anspruchsvollen Dienst in Kirche und Öffentlichkeit befähigen.

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Torben Stamer

Torben Stamer ist Mitarbeiter in der Bildungsabteilung des Kirchenamtes der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Hannover.


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