Ehrenamt nicht instrumentalisieren

Gespräch mit der Fuldaer Soziologieprofessorin Monika Alisch über gute Nachbarschaften, Sozialraumentwicklung und warum sich die evangelische Kirche dem Gemeinwesen öffnen sollte
Foto: David H. Gehne
Foto: David H. Gehne
Die Großsiedlung Köln-Chorweiler ist der ärmste Stadtteil der Domstadt.

Traditionell gilt Nachbarschaft als eine Beziehung des Miteinander und Füreinander, aber der Druck auf dieses Verständnis von Nachbarschaft wird wachsen. Diese Ansicht vertritt die Stadtsoziologin Monika Alisch.

zeitzeichen: Frau Professorin Alisch, was macht eine gute Nachbarschaft aus?

MONIKA ALISCH: Ob eine Nachbarschaft gut ist, entscheiden die Menschen, die sich dieser Nachbarschaft als sozialräumliche Gemeinschaft bewusst sind. Das heißt nicht, dass man voneinander die Tagesabläufe kennt. Allerdings ist eine gute Nachbarschaft sehr wohl ein Stück weit mit sozialer Kontrolle verbunden, die aber auch positiv sein kann. Betrachtet man die Politik mit all den sozialräumlichen Ansätzen, wie zum Beispiel für das Altwerden im Quartier, für ein geschütztes Aufwachsen von Kindern, für soziale Teilhabe von Migrantinnen und Migranten, schwingt immer eine gewisse Romantik von dem Füreinander und Miteinander mit, die aber in einer Nachbarschaft nicht automatisch gegeben ist. Die bloße Tatsache, dass man am gleichen Ort wohnt, heißt noch nicht, dass man auch gemeinsame Interessen hat. Diese Interessen-Gemeinschaft muss oft erst hervorgebracht werden. Dies gelingt, wenn Schwierigkeiten des Wohnens und Lebens in der Nachbarschaft als Problem, das alle angeht, erkannt werden.

Wenn sich also Nachbarn für ein gemeinsames Ziel oder Projekt organisieren?

MONIKA ALISCH: Community Organizing hat das der US-amerikanische Soziologe Saul Alinsky schon in den Dreißigerjahren genannt. Er unterschied zwischen einer Community of Space, also allen Menschen, die an einem Ort wohnen und einer Community of Interest, die es zu entwickeln gilt. Der Ort alleine ist es nicht, der die Community ausmacht, sondern eine Gemeinschaft, die sich über gemeinsame Interessen findet. Und diese lassen sich vielleicht eher finden, wenn sich alle in einer ähnlichen sozialen Lage befinden und eine Notwendigkeit entsteht, etwas zu verändern. Moderne Beispiele sind Initiativen für ein autofreies Quartier, die Verhinderung einer Mülldeponie in der Nachbarschaft oder die Wiederansiedlung von Läden und Dienstleistern.

Und trotzdem nehmen Menschen die Nachbarschaft sehr unterschiedlich wahr.

MONIKA ALISCH: Schaut man auf den Einzelnen, kann das Positive der Nachbarschaft in der Tat sehr unterschiedlich sein. Da gibt es zum einen die frei gewählte Nachbarschaft. Wer es sich leisten kann, zieht dorthin, wo alle so sind wie man selbst. Oder jemand entscheidet sich für eine Nachbarschaft in den Großstädten wie Berlin, Hamburg oder München. Man zieht in den Kiez, der bunt ist und in dem alle unterschiedlich sind, also in ein heterogenes Viertel. Nur wenn immer nur ähnliche Menschen in das Viertel ziehen, wird es langfristig dazu kommen, dass alle nicht mehr verschieden, sondern äußerst ähnlich sind. Das verändert die Quartiere und die ehemals bunte Nachbarschaft.

Ziehen sich ähnliche Menschen in der Nachbarschaft an?

MONIKA ALISCH: Die Politik hat seit den Sechzigerjahren eine gesunde soziale Mischung in einem Quartier, Stadtteil, Nachbarschaft für wichtig und richtig gehalten. Entsprechend gemischt wurde gebaut, also mit Hochhäusern-, Einfamilien-, und Reihenhäusern. Nun hat sich aber über die vergangenen fünfzig Jahre gezeigt, dass diejenigen, die es sich leisten können, wegziehen – sei es, weil ihnen die bunte Mischung nicht mehr gefällt oder sie sich vergrößern wollen. Zurückbleiben die, die diese finanziellen Möglichkeiten nicht haben. Eine Homogenisierung des Viertels nach dem Einkommen beziehungsweise nach den Ressourcen ist die Folge. Aber auch ältere Menschen, die ihr Vermögen in ein großes Einfamilienhaus für ihre Familie am Stadtrand oder auf dem Lande investiert haben, bleiben oftmals an den Ort gebunden, egal wer in der Nachbarschaft neu einzieht. Viele werden auf dieser Immobilie quasi sitzenbleiben.

Dann entscheidet die Höhe des Einkommens über die Nachbarschaft, und homogenere Nachbarschaften nehmen zu?

MONIKA ALISCH: Genau. Ich verstehe bis heute nicht, warum diese Entwicklung den Politikern nicht zu vermitteln ist. Warum also gerade auf kommunalpolitischer Ebene die Vorstellung von einer größtmöglichen Durchmischung bei neuen Siedlungen oder bei neuen Baugebieten vorangetrieben wird. Dabei lässt sich nachweisen, dass es früher oder später zu einer Homogenisierung kommt. Das ist auch eigentlich kein Problem, jedenfalls scheinen homogene Wohngebiete der Wohlhabenden selten ein wohnungspolitisches Problem zu sein.

Was ist die Gegenstrategie?

MONIKA ALISCH: Nun, die Idee der Durchmischung wird immer dann angeführt, wenn die räumliche Konzentration der Armen, der Alten, der Zugewanderten problematisiert wird. Hier wird Homogenität als Problem gesehen. Unterschätzt wird, dass die räumliche Nähe zu Nachbarn, die eine ähnliche Bildung haben, eine ähnliche Zuwanderungsgeschichte oder in ähnlicher Weise irgendwie den Alltag organisieren müssen, auch eine große Unterstützung im Alltag bedeuten kann. Politik muss also genauer hinschauen, wo das Zusammenleben der sozial ähnlichen Nachbarn durchaus funktioniert. Solche Nachbarschaften gilt es zu stärken und nicht als Problemviertel zu stigmatisieren. Die Gemeinwesenarbeit ist genau dafür eigentlich mal entwickelt worden.

Betrifft die gelingende Nachbarschaft den ländlichen Raum ebenso wie die Stadt, oder gibt es gravierende Unterschiede?

MONIKA ALISCH: Die Unterschiede sind gravierend, selbst in unterschiedlichen ländlichen Regionen und Städten. Es gibt eine Reihe von Untersuchungen, die zeigen, dass dieses Aufeinander-angewiesen-Sein in ländlichen Gemeinden sich gerade neu entwickelt. Dahinter steht keine Romantik des Dorflebens, sondern die Notwendigkeit, Hilfen im Alltag für diejenigen Nachbarn zu organisieren, deren Kinder nicht selbstverständlich die Sorgearbeit übernehmen können und werden. Denn die sind in der Regel berufstätig oder längst dort hingezogen, wo die Arbeitsplätze sind. Selbst fünfzig oder siebzig Kilometer sind zu weit, um abends nach Mutter, Onkel oder dem Nachbarn von früher zu schauen und sie zu unterstützen.

Findet man also die so genannten caring communitiys eher auf dem Land? 

MONIKA ALISCH: Die caring community ist ja ein noch gar nicht eindeutig ausformuliertes Konzept. Oft wird es auf die Gemeinschaft bezogen, die sich um eine zu versorgende Person bilden könnte. Versteht man die caring community wirklich als sozialräumliche Gemeinschaft, die Sorge und Hilfe im sozialen Raum organisiert, sind dies nicht nur in ländlichen Räumen häufig selbst organisierte Initiativen aus der Bürgerschaft. Dort kennt man zwar nicht jeden, aber man weiß sehr wohl, wo Leute im Alltag Hilfe und Unterstützung brauchen. Dort wurden in den vergangenen Jahren Vereine gegründet, die Namen tragen wie „Miteinander-Füreinander“ oder „Füreinanderdasein“. Sie führen schon im Namen die Idee der caring community und versuchen, ehrenamtlich das herzustellen, was man der Nachbarschaft gerne zuschreibt. In den Großstädten gibt es ebenfalls umfangreiche Nachbarschaftsvereine oder Internetplattformen, die Helfende und Hilfesuchende zusammenbringen. Sie stellen nach meiner Wahrnehmung die sozialräumlich organisierte Dienstleistung in den Vordergrund.

Was unterscheidet eine Nachbarschaft von einem Sozialraum oder einer caring community?

MONIKA ALISCH: Sozialraum als Konzept oder Begriff, der auch in der Praxis und in der Politik verwendet wird, hat viele Ursprünge. Ähnlich wie die Begriffe Inklusion oder Quartiersmanagement sind diese Interpretationen recht wehrlos dem ausgesetzt, was politisch oder in der Praxis damit gemacht wird. Wenn über Sozialraum oder sozialraumbezogene Strategien gesprochen wird, meinen fünf Leute zehn verschiedene Dinge. Sozialraum entsteht aus der Wechselwirkung vom Handeln der Menschen und der Struktur. Gemeint sind dann Planungsräume, wie die Jugendhilfeplanung oder die Sozialplanung in jeder Stadt. Sie definiert aber auch die subjektiven Aneignungsräume oder Bildungsräume jedes Einzelnen. Nicht immer ist mit Sozialraum also das gemeint, was sich Wissenschaftler oder Politiker als Nachbarschaft vorstellen. Und hinter der Nachbarschaft steckt eigentlich auch ein Konzept. Ich komme als Stadtsoziologin aus einer Tradition, der so genannten Chicagoer Schule, in der neighborhood ein wichtiger Begriff ist. Er war immer auch geografisch beschrieben und meint eben nicht nur die Bewohner der Wohnung nebenan. Und gleichzeitig verbinden wir soziale Nachbarschaft sofort mit dem, was man füreinander tut und für das man eine gemeinsame Verantwortung trägt. Als stadtsoziologisches Konzept ist Nachbarschaft eher neutral, in der Politik meist positiv besetzt.

Hat sich unsere Wahrnehmung von Nachbarschaft dadurch verändert, dass wir jetzt in größeren Räumen denken?

MONIKA ALISCH: Ich habe bislang nur von wissenschaftlich erdachten Konzepten und von politischen Reaktionen darauf gesprochen. Diese Konzepte gehen immer von etwas Größerem aus als von der kleinen Nachbarschaft. Doch die Frage ist immer, wo der Mensch lebt. Wenn man in der fünften Etage eines der Hochhäuser am Aschenberg hier in Fulda lebt, sind die Nachbarn nicht unbedingt die Menschen aus der ersten oder der zwölften, sondern die auf der gleichen Etage. Wenn ich in einer Einfamilienhaus-Siedlung wohne, ist Nachbarschaft vielleicht so groß wie die Einfamilienhaus-Siedlung, in der ich lebe. Lebe ich in einem Dorf, kann sich die Nachbarschaft auf das ganze Dorf erstrecken – das muss aber nicht so sein.

Wie kann man den Sozialraum in Abgrenzung zur Nachbarschaft beschreiben?

MONIKA ALISCH: Der kleinste gemeinsame Nenner für alle, die versucht haben, Sozialraum zu definieren, ist ein stabiles Netzwerk sozialer Kontakte mit geografischen Bezügen. Das kann aber über Grenzen von Quartieren und räumlichen Nachbarschaften hinausgehen. Und wenn ich von diesem Sozialraumbegriff ausgehe, kann eine derartige Strategie, die in einer Kommune oder auch von Kirchengemeinden umgesetzt wird, soziale Teilhabe und Partizipation schaffen. Es geht darum, Prozesse von Partizipation und Teilhabe zu ermöglichen und zu stärken. Das ist für mich der Kern sozialraumbezogener Strategien, unabhängig von einer Idee von Nachbarschaft.

Evangelische Kirchen orientieren sich an ihren eigenen Orten und Gebäuden. Sollten sie sich dem Sozialraum öffnen?

MONIKA ALISCH: Die Kirche ist ein lokaler Akteur. Alles, was dieser Akteur vor Ort macht, hängt sehr stark von den handelnden Pfarrerinnen und Pfarrern ab und ob diese sich auch gefordert sehen, diakonisch zu arbeiten. So kann die Kirchengemeinde zu einem sozialen Ort über ihre Grenzen hinaus werden. In städtischen Quartieren heißt das aber auch, sich Menschen anderer Religionszugehörigkeiten zu öffnen. Sie wahrzunehmen als das, was sie sind: Familien, die vor Ort wohnen, Kinder und Jugendliche, die Unterstützung, Zuwendung, Angebote oder Bildung brauchen. Hier können sich auch die Gemeindeglieder engagieren, die ja letztlich die Ressource des Akteurs Kirche bilden.

Könnten die evangelischen Kirchengemeinden im Gemeinwesen auch Menschen mobilisieren, die man landläufig als Weihnachtschristen bezeichnet? Oder vielleicht sogar neue Milieus erschließen?

MONIKA ALISCH: Das kann ich mir gut vorstellen. Meiner Ansicht nach haben die christlichen Kirchen eben auch einen Auftrag, über die reine Mitgliedschaft durch die Taufe hinaus, sozial zu wirken und Prozesse von Teilhabe an Gesellschaft mitzuorganisieren. Sie sollten wirklich offen sein für das, was Menschen als Interesse artikulieren oder daran mitwirken, diese Interessen überhaupt erstmal hervorzubringen. In vielen Milieus ist das Benennen von Bedürfnissen und Interessen nicht alltäglich.

Und was haben die Kirchengemeinden davon?

MONIKA ALISCH: Wenn sich die Kirchen als institutioneller Akteur auf lokaler Ebene auf diese Entwicklung einlassen, können sie Menschen anders erreichen, als nur zur Weihnachtszeit, Taufe, Konfirmation und zur Hochzeit in Weiß. Die evangelische Kirchengemeinde ist in der Regel Ansprechpartner vor Ort. Aber dazu müssten sich Kirche und ihre Diakonie viel stärker annähern, um im Gemeinwesen mit einer Stimme zu sprechen. Die Diakonie betreibt Pflegeeinrichtungen, Altenheime oder Pflegestationen, während die Kirchengemeinde oftmals mehr für das Liturgische zuständig ist. Das diakonische Prinzip müsste viel stärker in den Vordergrund dieser Kirchengemeinde treten.

Eignet sich gemeinwesenorientierte Arbeit der Kirchen auch für die Integration von Migrantinnen und Migranten?

MONIKA ALISCH: Schwierig. Die Arbeit der evangelischen Kirchengemeinde ist sichtbar an das Gebäude der Kirche und des Gemeindehauses gebunden. Und bei meinen Forschungen habe ich erlebt, dass der Raum der Kirchengemeinde in der Arbeit mit älteren Migranten und Migrantinnen in einem Stadtteil oft zur Verfügung stand. Nur leider haben vor allem diese ihn nicht genutzt. Die Tatsache, dass kirchliche Arbeit so sichtbar mit den Gebäuden verbunden ist, hat auch Nachteile, wenn es um Öffnung geht.

Besteht dabei nicht die Gefahr, dass es sich letztlich um Sparkonzepte handelt? Dort, wo sich der Sozialstaat zurückzieht, versucht man ehrenamtliche Strukturen aufzubauen und suggeriert auch, dass der Bürger seine Probleme selbst lösen muss?

MONIKA ALISCH: Das ist die große gesellschaftspolitische Diskussion, die wir schon seit einigen Jahren führen. Tatsächlich stellt sich die Frage, inwieweit man eine moralische Verpflichtung zur Mitverantwortung generieren kann. Die Aufgaben des Wohlfahrtsstaates sind ohne zivilgesellschaftliches Engagement gar nicht zu lösen. So lange der Wohlfahrtsstaat so funktioniert wie jetzt, kann er die Aufgaben nicht bewältigen. Anstatt in kurzfristige Förderung einzelner Projekte zu investieren, wäre es daher wirksamer, gezielt in Infrastruktur zu investieren, also in offene Räume zum Beispiel. Diese geben die Möglichkeit, Teilhabechancen zu erhöhen und partizipativ an der Gestaltung des Umfeldes, der Nachbarschaft, des Sozialraums oder Quartiers mitzuwirken. Dieses Konzept bietet eine räumliche Ressource, die Bewohner eines Ortes eigenständig managen können. Mit der Idee, dass sich über solche Infrastrukturen Interessen zusammenbringen und überhaupt erkennen lassen. So werden Prozesse in Gang kommen, die nachhaltiger sind, als wenn man in kleinen und kurzzeitigen Projekten denkt.

Können online-Plattformen wie www.nebenan.de helfen, Nachbarschaften zu gestalten?

MONIKA ALISCH: Solche Initiativen sind das Pendant zu den Bürgerhilfevereinen in ländlichen Räumen, die es in der Tradition der Seniorengenossenschaften in den Neunzigerjahren schon gegeben hat. Sie bieten eher ein Dienstleistungsmatching von Hilfeleistung gegenüber geäußerten Hilfen. Sie tauschen Hilfeleistungen aus und übernehmen gleichzeitig Aufgaben, die dazu dienen, das Gemeinwesen lebendig zu halten. Auch Bürgerhilfevereine organisieren soziales Leben, was ebenso die Kirchengemeinde tun könnte. Zum Beispiel einen Kinoabend im Monat zu veranstalten, oder für ältere Menschen, die nicht mehr alleine aus dem Haus kommen, ein Kaffeetrinken anzubieten; die Ehrenamtlichen in solchen Vereinen fahren Menschen zum Friedhof, damit diese Gräber ihrer Angehörigen pflegen können. Sie organisieren soziales Leben und halten damit das Gemeinwesen lebendig, auch in Orten, wo die Infrastruktur eher weniger wird.

In der Stadt stehen bei diesen Portalen die Hilfe und die Dienstleistung im Vordergrund. Aber es werden auch Straßenfeste organisiert.

MONIKA ALISCH: Vom Selbstverständnis solcher Initiativen her ist es durchaus nicht immer gewollt, dass über das Helfen oder über die Dienstleistung hinaus Freundschaften entstehen oder Menschen zusammengebracht werden. Wir haben in einem großen Forschungsprojekt, das wir in Osthessen und in Oberbayern mit Bürgerhilfevereinen durchgeführt haben, festgestellt, dass engagierte Personen gerade keine engere Bindung wollen. Das ist das eine. Ein weiteres Ergebnis dieser Forschung war, dass wir diesen Aktiven deutlich machen konnten, wie wichtig dieses Organisieren des Sozialen ist und dass es nicht beiläufig oder gar nebensächlich ist. Vielmehr ist es der erste Schritt, mit denen, die Hilfe brauchen, in Kontakt zu kommen. Das Soziale zu organisieren, ist also sehr wichtig. Bei diesen großstädtischen Initiativen, Portalen oder Internetplattformen sind wenig internetaffine Menschen per se ausgeschlossen und nur bestimmte Milieus und Altersgruppen angesprochen. Außerdem muss man sehen, wer sich hinter diesen Stiftungen verbirgt und ob sie wirklich allein das Gemeinwohl im Blick haben. Bei www.nebenan.de steckt das Berliner Start-Up-Unternehmen Good Hood GmbH dahinter. Beteiligt daran sind wiederum Lakestar und auch die Mediengruppe Burda. Die Investoren hoffen auf ein Wachstum mit gezielt abgestimmter Werbung.

In Zukunft werden die Nachbarschaften in Deutschland wichtiger. Was bedeutet das politisch?

MONIKA ALISCH: Der Druck auf ein Konzept wie Nachbarschaft, wie Miteinander und Füreinander, auf ein Konzept von sozialräumlich organisiertem Miteinander wird wachsen. Und diese Nachbarschaftsidee wird dann wichtiger, wenn die Politik deutlich macht, dass es zur Lösung von sozialen Problemen der Zivilgesellschaft, der Familie und der Nachbarschaft bedarf. Meiner Vorstellung von einem gelungenen Wohlfahrtsstaat entspricht das nicht. Aus meiner Sicht verpuffen sehr viele Gelder früher oder später, weil sie nur in kurzfristige Projekte gegossen werden anstatt in eine Infrastrukturförderung. Gleichzeitig wird das freiwillige Engagement instrumentalisiert statt gestützt.

Ich habe den Eindruck, dass man die Nachbarschaft heutzutage in Deutschland neu entdeckt. Gibt es eine neue Offenheit?

MONIKA ALISCH: Leute ziehen noch immer in städtische Quartiere, weil sie selber entscheiden wollen, wo und bei wem sie anonym bleiben oder wem gegenüber sie Nähe herstellen wollen. Und vieles, das in den Siebziger- oder Achtzigerjahren gerade in den Großstädten an Quartiersbezug hergestellt wurde, ist noch immer aktuell. Es waren eher die Linksalternativen, die jedes Großstadtquartier, in dem sie gewohnt haben, zu ihrem gemacht und eine cooperate idendity, eine Stadtteilidentität hergestellt haben. Ich sehe noch nicht, dass sich eine neue Offenheit und ein zeitlicher Trend erkennen lassen.

Das Gespräch führte Kathrin Jütte am 18. Juni in Fulda.


 

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Foto: privat

Monika Alisch

Monika Alisch habilitierte sich an der Humboldt-Universität zu Berlin im  Institut für Sozialwissenschaften zum Thema: Soziale Stadtentwicklung“. Seit fünfzehn Jahren ist sie Professorin für Sozialraumbezogene Soziale Arbeit/Gemeinwesenarbeit und Sozialplanung der Hochschule Fulda. 

Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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