Vertrauen ist der Klebstoff

Warum die Bedeutung der Nachbarschaft Teil der neuen sozialen Frage ist
Fotos: David H. Gehne
Fotos: David H. Gehne

Arm und Reich, Jung und Alt leben immer seltener als Nachbarn. Das ist oftmals nicht freiwillig gewählt, sondern Ausdruck sozialer Ungleichheit. Die Gehälter driften auseinander, Wohnraum wird in den Städten knapp und teuer. Wie Nachbarschaften prägen, erforscht Sebastian Kurtenbach, Soziologe und Vertretungsprofessor für Politikwissenschaften/Sozialpolitik an der Fachhochschule Münster.

Zwei Dinge gelten im Leben als sicher: Man hat Familie, und man hat Nachbarn. Erste kann man sich nicht aussuchen, zweite auch nur bedingt. Während unbestritten ist, dass Familie wichtig für die Prägung eines Menschen ist, erscheint das für Nachbarschaft weniger eindeutig. Doch meines Erachtens hat Nachbarschaft einen ebenso prägenden Charakter.

Was verstehen wir unter Nachbarschaft, denn sie scheint uns ja zu prägen? Fluch und Segen des Nachbarschaftsbegriffs ist seine Mehrdeutigkeit, der etwas Räumliches und etwas Soziales meint. Im Englischen wird daher auch zwischen neighborhood, also der räumlichen Einheit, und community, der sozialen Einheit, unterschieden. Im Deutschen wäre das Nachbarschaft und Gemeinde, letzteres ist heute vor allem ein Ausdruck religiöser Vereinigungen. Schon die räumliche Einteilung einer Nachbarschaft fällt nicht leicht. Gehört in einem Mehrfamilienhaus jeder zur Nachbarschaft, sind es nur die Flurnachbarn oder erstreckt sich die Nachbarschaft auch auf die angrenzenden Häuser? Wie sieht es bei Einfamilienhaussiedlungen aus? Sind die Nachbarn diejenigen, die man von seiner Haustürschwelle sieht oder doch nur die, deren Garten an den eigenen grenzt? Oder reicht die Nachbarschaft auch noch weit darüber hinaus? Auf diese Fragen gibt es pro Nachbarschaft wahrscheinlich so viele Antworten wie Nachbarn. Allen gemein ist nur eine relative Übersichtlichkeit; doch wie viele Menschen oder Haushalte eine Nachbarschaft bilden, ist nicht so eindeutig festzulegen.

Noch komplizierter wird es bei der sozialen Bedeutung von Nachbarschaft, denn ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis ist vielen Menschen wichtig. Was das aber heißt, ist ebenso nicht einfach festgelegt. Ein paar Konventionen sind wohl als Norm, also eine als allgemeinverbindlich wahrgenommene Verhaltensweise, zu sehen, wie das Grüßen im Treppenhaus und vielleicht auch Pakete für die Nachbarn anzunehmen und diese wieder rauszugeben, wenn sie danach fragen. Aber ebenso weitergehende nachbarschaftliche Verhaltensweisen sind bekannt, wie einen Ersatzschlüssel bei den Nachbarn zu deponieren oder die Blumen zu gießen, wenn die Nachbarn im Urlaub sind. Das sind aber eins-zu-eins-Beziehungen, also direkte zwischen Nachbarn. Nachbarschaft umfasst sogar das Geflecht aller sozialen Beziehungen im Stadtteil und ihre jeweils individuelle Wahrnehmung und Deutung. In dem Zusammenspiel zwischen unklaren räumlichen Grenzen und vielschichtigen sozialen Beziehungen ergibt sich ein Bild von Nachbarschaft, welches auch mit Erlebenswelt übersetzt werden kann.

Gemeinsame Erlebenswelt

Und hier zeigt sich der zweite Aspekt: Für wen ist Nachbarschaft eigentlich prägend? Die Antwort lautet, wie so oft: „Es kommt darauf an.“ Die jeweilige Lebenssituation entscheidet darüber. Eine Managerin, die um den Globus fliegt und nur am Wochenende zuhause ist, ist der Erlebenswelt weniger ausgesetzt, als es Kinder oder Ältere sind. Zeit und Abhängigkeit durch nahräumlich angeordnete soziale Beziehungen scheinen hier besonders prägend zu sein. Vor allem Kinder sind offen für Umwelteinflüsse, aber sie ebnen auch den Weg, um mit Nachbarn in Kontakt zu kommen. Denn häufig wohnt das Nachbarskind nicht weit entfernt, und so lernt man als Eltern andere Menschen in derselben Lebenslage kennen. Wenn sich Menschen sozial ähnlich sind, zum Beispiel im Einkommen und in der Lebenssituation, dann ist auch die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie sich gegenseitig positiv wahrnehmen und Vertrauen fassen.

Vertrauen ist der Klebstoff der Nachbarschaft, der (hier gemeint) sozialen Einheit. In den usa wurde ein mittlerweile weltweit etablierter Ansatz entwickelt, der sich „kollektive Wirksamkeit“ nennt. Im Kern geht es darum, ob Menschen ihrer Nachbarschaft, als kollektivem sozialem Gebilde vertrauen und welche Folgen das hat. Die Ergebnisse sind bemerkenswert. Dort, wo kollektive Wirksamkeit stark ausgeprägt ist, ist auch die Kriminalitätsrate gering sowie das Wohlbefinden hoch. Besonders bemerkenswert ist: Wenn man auf die Hilfe seines Nachbarn vertraut, wenn diese erfragt wird, hat das positive Effekte, und man ist auch bereit, selbst etwas zu tun. Um das klar zu machen: Es geht um eine Wette in die Hilfsbereitschaft der Nachbarschaft in einer abstrakten Zukunft, welche einen Effekt auf das Handeln und Wohlbefinden im Hier und Jetzt hat. Zahlreiche Studien haben untersucht, ob es diesen Effekt gibt. Und viele haben ihn gefunden, auch außerhalb der usa.

Nachbarschaft ist also eine räumliche und soziale Einheit, die eine lebenslagenabhängige Bedeutung in ihrer Wirkung hat, welche auf Vertrauen in die Nachbarschaft basiert. Das beantwortet aber noch nicht die Frage, wie genau sie einen prägenden Effekt haben soll. Mit genau dieser Frage beschäftigt sich der Forschungszweig der Kontext- oder auch Nachbarschaftseffekte. Denn, dass Nachbarschaften einen Effekt haben, ist oft nachgewiesen worden. Die Frage ist aber, wie und welche. Hier wurden von Sozialwissenschaftlern mehrere Modelle entwickelt, um die Blackbox Nachbarschaft zu öffnen. Prominent ist das Rollenmodell. Einfach gesagt, geht es davon aus, dass Menschen Vorbilder in ihrer Umwelt haben, die vermitteln, was normal ist, also was den gängigen Verhaltensmaßnahmen entspricht, und was nicht. In Familien ist das unumstritten, doch auch die Nachbarn sind Vorbilder. Wenn in der Nachbarschaft, gemeint als räumliche und soziale Einheit, häufig beobachtet wird, dass jemand Müll auf die Straße wirft, ohne dass ein anderer etwas dagegen sagt, geht man schnell davon aus, dass dieses Verhalten akzeptiert ist und ahmt es nach.

Ein anderes Modell nimmt die Netzwerke von Menschen in den Blick. Die Idee: Tauscht man sich mit den Nachbarn aus, übernimmt man rasch ihre Normen und Verhaltensweisen, wenn sie einen Vorteil versprechen und vor allem dann, wenn dieser schnell eingestrichen werden kann. Die Grundannahme beider Erklärungsmodelle für Nachbarschaftseffekte sind Interaktionen, ob nun beobachtet oder durch regelmäßigen Austausch. Durch diese Interaktionen wird entweder Vertrauen aufgebaut oder gefährdet.

Wie genau Menschen unter den Bedingungen konzentrierter Armut zusammenleben und ihren Alltag gestalten, zeigt das Beispiel der Großsiedlung Köln-Chorweiler (Mitte), dem ärmsten Stadtteil der Domstadt. Dazu habe ich drei Monate dort gelebt. Mittlerweile gibt es im Stadtteil zahlreiche Veränderungen, doch in der Projektlaufzeit (2014 bis 2016) konnte ich verschiedene Daten sammeln und auswerten, die zusammen ein umfangreiches Bild der Erlebenswelt zeichnen. Zunächst habe ich so genannte strukturierte teilnehmende Beobachtungen an sechs ausgewählten Orten durchgeführt. Das heißt, dass ich einen standardisierten Beobachtungsbogen entwickelt und anschließend ausgefüllt habe. Die Erhebungseinheit wurde gebildet durch Situationen, in denen zwei oder mehr Menschen, die zusammenstanden, miteinander interagierten. Dies geschah auf einer vorher festgelegten Fläche wie zum Beispiel dem zentralen Pariser Platz.

Jeden der sechs Plätze besuchte ich sechsmal am Tag für 15 Minuten und dokumentierte dort alle Situationen, vier Tage in der Woche für zwei der drei Monate. Auf diese Weise liegen über 1 500 dokumentierte Situationen vor. Außerdem führten wir im Team eine repräsentative Umfrage im Stadtteil durch, an der sich 256 Haushalte beteiligten. Hier fragten wir nicht nur nachbarschaftliche Kontakte und das jeweilige Netzwerk ab, sondern auch die Wahrnehmung der sechs Orte, die ich in dieser Zeit beobachtet habe. Den Befragten wurden dazu Fotos der Orte vorgelegt. In einem dritten Schritt führte ich Interviews mit Bewohnerinnen des Stadtteils.

Vorbild Nachbar

Wir nehmen an, dass die Nachbarschaft zur Akzeptanz abweichenden Verhaltens beiträgt. Abweichend meint in diesem Zusammenhang ein Verhalten, das als sozial nicht akzeptiert gilt, wie zum Beispiel Müll auf den Boden werfen. Kontrolliert wurde, auf Grundlage der Befragung, eine Reihe von externen Einflussfaktoren. Hierzu zählen die Wahrnehmung abweichenden Verhaltens in der Umwelt oder ob man straffällig gewordene Freunde hat, die auch im Stadtteil wohnen. Aber auch individuelle Faktoren wie Stressbelastung oder Wohndauer wurden berücksichtigt. Tatsächlich finden sich solche externen Einflüsse auf die Akzeptanz abweichenden Verhaltens, was wiederum positiv mit dem Auftreten abweichenden Verhaltens zusammenhängt. Das zeigt, dass man von seiner Umwelt lernt. Aber abweichendes Verhalten wird in unterschiedlichem Maße in der Nachbarschaft (als räumliche Einheit) wahrgenommen. Dazu habe ich die Befragungs- mit den Beobachtungsdaten verbunden, denn wir haben ja gefragt, wie die Befragten die sechs beobachteten Orte wahrnehmen. Das Ergebnis ist erhellend. Egal, ob es ein Platz ist, auf dem relativ viel abweichendes Verhalten auftritt (was wir durch die Beobachtungen wissen), er wird positiv bewertet, wenn man unmittelbar dort wohnt. Alle andere Plätze, selbst wenn sie nur wenige hundert Meter weiter weg sind, werden negativ gesehen.

Hier schließt sich der dritte Befund an, der auf der Auswertung der qualitativen Interviews beruht. Alle interviewten Frauen waren alleinerziehend/alleinlebend und von Armut bedroht. Diese Gruppe wurde befragt, wie sie mit der herausfordernden Erlebenswelt umgeht. Hier zeigen sich unterschiedliche Strategien. Während die Nachbarschaft, gemeint als soziale und räumliche Einheit, von manchen gemieden und soviel Zeit wie möglich außerhalb Chorweilers verbracht wird, formulieren andere soziale Regeln. Hierzu ein Beispiel: Eine Interviewpartnerin erzählte zu Beginn des Interviews, dass sie Drogen im Stadtteil nicht akzeptiert. Im weiteren Verlauf kam sie dann darauf zu sprechen, dass einer ihrer Nachbarn Dealer war und es zu Verkäufen in seiner Wohung kam. Sie habe darauf ihren Nachbarn deutlich gewarnt, dass sie nicht akzeptieren würde, wenn Kinder involviert würden. Die Dame hat also eine Regel neu fomuliert, denn diese geben Orientierung. Wenn gegen diese verstoßen wird, werden sie einfach neu formuliert, wodurch sich aber auch verändert, was als richtig oder falsch angesehen wird, also die Normen.

Nachbarschaft, als prägende Lebenswelt, kann besonders dann einen benachteiligenden Effekt ausüben, wenn sie als homogen wahrgenommen wird. Gleich und gleich gesellt sich gern, heißt ein Sprichwort. Tatsächlich werden die Nachbarschaften in den Städten immer homogener. Marcel Helbig und Stefanie Jähen, vom Wissenschaftszentrum Berlin, haben Daten aus 74 Kommunen ausgewertet. Ihr Befund: Arm und Reich sowie Jung und Alt sind immer seltener Nachbarn. Das ist allerdings weniger freiwillig gewählt, sondern ein Ausdruck sozialer Ungleichheit. Während die Gehälter auseinanderdriften, wird Wohnraum in den Großstädten nahezu flächendeckend teurer, sodass vor allem die armutsbedrohten Familien immer weniger Auswahl auf dem Wohnungsmarkt haben. Die Bedeutung von Nachbarschaften wird demnach in Zukunft nicht weniger werden, sondern zunehmen. Wohnen und Nachbarschaft sind Teil der neuen sozialen Frage, die nach neuen Antworten sucht.


 

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Foto: Wilfried Gerharz

Sebastian Kurtenbach

Sebastian Kurtenbach ist Vertretungsprofessor für Politikwissenschaften/Sozialpolitik an der Fachhochschule Münster.


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