Von Anbeginn an ist ein enges Bündnis mit den Landesherren und damit mit der politischen Gewalt ein Kennzeichen der reformatorischen Kirchen.

Die Landesherren garantieren die Integrität der reformatorischen Territorien gegen den Widerstand der Altgläubigen, nach dem Wegfall der kirchlichen Organisationsstrukturen durch die Trennung von der römischen Kirche fallen zudem die Aufgaben kirchlicher Verwaltung an den Landesherrn und die entsprechenden Organe.

Im Bemühen, die daraus resultierenden Dominanzansprüche zurückzuweisen, kommt es nun zu einer verhängnisvollen Weichenstellung: Denn insbesondere die lutherischen Theologen verweisen darauf, dass diese Aufgaben der Obrigkeit auf einer göttlichen Einsetzung beruhen. Die Strategie, die sie damit verfolgen, besteht darin, dem status ecclesiasticus einen höheren Rang als dem status politicus zuzumessen. Faktisch aber kommt es dadurch zu jener Sakralisierung weltlicher Herrschaft, die sich in der Folgezeit so problematisch auswirkt und die staatliche Ordnung gegenüber grundsätzlicher Kritik immunisiert. Diese Weichenstellung ist deshalb für die Gegenwart so bedeutsam, weil sie den Grundstein für eine Interpretation der Militärseelsorge legt, die in der Präsenz der Kirche im Militär eine kirchliche Legitimation des kriegerischen Handelns sieht.

Dieses Denken wird auch heutzutage immer wieder dort erneuert, wo Ernst-Wolfgang Böckenfördes bekanntes Diktum, der moderne, freiheitliche Staat beruhe auf Grundlagen, die er selbst nicht garantieren kann, in kirchlichen Kreisen im Sinne dieser Staatsmetaphysik interpretiert wird. Denn hier steht stets der Gedanke im Hintergrund, dass dieser Staat seine Legitimationsgrundlage sich eben nicht selbst zusprechen kann – sondern sie erst durch die Religion und damit durch die Kirche erhalten kann. Das bedeutet aber auch, dass mit dieser Argumentation die Grenzen zwischen dem Politischen und dem Religiösen verwischen. Von einem kritischen Gegenüber, das häufig in den kirchlichen Stellungnahmen beschworen wird, bleibt in dieser Perspektive nicht viel.

Protestantische Staatsmetaphysik

Dies vor Augen, sind diejenigen im Recht, die der – an enge Grenzen gebundenen – Legitimierung rechtserhaltender Gewalt, wie sie die ekd-Friedensdenkschrift von 2007 vornimmt, im Namen des Evangeliums meinen widersprechen zu müssen. Denn legt man die etablierte Staatsmetaphysik des Protestantismus an, so lässt sich die Legitimierung rechtserhaltender Gewalt eben auch als eine Sakralisierung lesen. Dann aber stellt die Militärseelsorge in ihrer jetzigen Gestalt nichts anderes dar als ein Repräsentationsorgan sakraler Autorisierung weltlicher Gewaltanwendung. Überschreibt man ein entsprechendes Orientierungspapier wie die 2007 noch mit „Selig sind die Friedfertigen“, so kann das in einer solchen Rezeptionsperspektive im Grunde nur zynisch klingen.

Davon ausgehend, könnte es tatsächlich naheliegen, die Militärseelsorge in ihrer bestehenden Form schnellstmöglich zu beenden und statt einer solchen auf die religiöse Legitimierung staatlichen Handelns zielenden Präsenz von Christentum und Kirche im Militär eine rein auf die Begleitung des Einzelnen setzende seelsorgerliche Tätigkeit zu favorisieren. Solche Forderungen sind in den Jahrzehnten seit Beginn des Militärseelsorgevertrages in der innerkirchlichen Diskussion immer wieder artikuliert worden, zum Beispiel zuletzt im „Magdeburger Friedensmanifest“ 2017, das von der „Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden“ und anderen kirchlichen Friedensgruppen und Einzelpersönlichkeiten veröffentlicht wurde.

Dort heißt es unter der Überschrift „Verhältnis von Kirche und Militär“ in der dritten These: „Wir rufen die Landeskirchen auf, sich als Kirchen des gerechten Friedens ausschließlich für gewaltfreie Wege der Konfliktbearbeitung einzusetzen. Daraus folgt: Die Kirche empfiehlt ihren Mitgliedern, weder beim Militär noch in der Rüstungsindustrie zu arbeiten. In den Kirchen dürfen keine Militärkonzerte stattfinden. Die Militärseelsorge in der Bundeswehr wird abgeschafft und durch eine Seelsorge für Soldat*innen, die strukturell außerhalb der Bundeswehr verortet ist, ersetzt. (…)“

Die dort zum Ausdruck kommende Haltung birgt zwei schwerwiegende Probleme: Zum einen erscheint die Argumentation als eine petitio principii, also eine Art Zirkelschluss, insofern die Autorinnen und Autoren des Friedensmanifests selbst die Figur stark machen, die den Hintergrund für ihre Kritik an der herrschenden Form der Militärseelsorge bildet: Ihr Ziel ist es, auf der Grundlage eines in Anspruch genommenen Wächteramts eine Umsteuerung des politischen Handelns zu erreichen. Das tun sie, indem sie einer Politik, die den Einsatz von Gewalt nicht nach pazifistischem Vorbild kategorisch ablehnt, die christliche Legitimation absprechen. Damit aber setzen sie zugleich voraus, dass die Politik dieser Legitimation bedürfe und verfallen so in das traditionelle Muster protestantischer Staatsmetaphysik, das die Grundlage für die eigene kritische Sicht auf die derzeitige Praxis der Militärseelsorge bildet.

Zum anderen wäre es eine unzulässige Einschränkung des christlichen Glaubens, wenn man diesen – um der eben geschilderten Problematik zu entgehen – auf die Dimension des bloß Innerlichen reduzieren wollte: Der christliche Glaube ist immer politisch; die Botschaft Jesu vom Kommen des Reich Gottes entfaltet ihre Überzeugungskraft von Anbeginn an deswegen, weil das Reich Gottes immer auch transparent gehalten ist für die Formen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens – und umgekehrt lassen sich diese Formen eben auch als Gleichnis für das Reich Gottes lesen.

Eine Militärseelsorge, die sich nur auf die einzelnen Angehörigen der Streitkräfte beschränken wollte, müsste daher mit einem notwendig verkürzten Modell des christlichen Glaubens operieren.

Eine Lösung der hier zutage tretenden Schwierigkeiten muss daher an der Wurzel und nicht an den Symptomen ansetzen: Es gilt von der lange einge-spielten Figur, derzufolge das Gemeinwesen, einer durch die Religion vermittelten Legitimation bedürfe, Abschied zu nehmen. Dieser Abschied ist verbunden mit der Anerkennung der Weltlichkeit des Staates und der Übernahme der Legitimationsfigur, die in der Neuzeit in der Staatsrechtswissenschaft prägend geworden ist: Im Unterschied zu den Theologen verfolgen nämlich die Juristen in der Moderne den Weg, rechtssetzende Prozesse und damit die Verfahren des politischen Gemeinwesens selbst als Grundlage für die Erzeugung von Legitimität zu profilieren. Legitimität wird so nicht durch den Rückverweis auf eine religiöse oder metaphysische Figur erzeugt, sondern durch das eigene Handeln selbst.

Dies gilt auch für das Bonner Grundgesetz. Denn in der Präambel („Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben“) drückt sich diese Selbstlegitimierung aus: Das Deutsche Volk hat die Gewalt, nicht nur in Wahlen und Abstimmungen einfachgesetzliche Regelungen zu schaffen, sondern zudem auch diejenige, sich selbst eine Verfassung zu geben. Einmal kodifiziert, beschränkt die Verfassung zugleich die Machtfülle der staatlichen Organe, einschließlich des Gesetzgebers selbst. Der sich selbst konstituierende Staat benötigt also keine Legitimationsgrundlage mehr, er ist sich selbst genug.

Insignien der Säkularität

Insofern ist die Funktion der Religion im Blick auf den Staat gerade nicht in der Sicherung einer überweltlichen Legitimationsbasis zu suchen, sondern darin, die Säkularität des Staates zu garantieren und so allen Totalitarismen und Ideologien entgegenzutreten. Die beiden wesentlichen Insignien dieser Säkularität sind dabei in dem Demokratie- und dem Rechtsstaatlichkeitsprinzip zu sehen, die sich beide gegenseitig bedingen und auslegen.

Weder kann eine Demokratie ohne Rechtstaatlichkeit bestehen, noch ein Rechtsstaat ohne Demokratie. Die Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf, die ethische Dimension der Rede von der Welt als Schöpfung Gottes, die auf die Weltlichkeit der Welt zielt, ist daher als die angemessene Wahrnehmung eines politischen Wächteramts zu profilieren. Der Verweis auf die Souveränität Gottes begrenzt jeden menschlichen Allmachtsanspruch.

In seinem Kern ist das Wächteramt des Protestantismus also weder die lobbyistische Artikulation kirchlicher Interessen, noch die bloße Stellungnahme zu strittigen politischen Themen oder die religiöse Zurüstung und Gewissensschärfung des einzelnen politischen Akteurs oder Staatsbürgers. Diese Interpretationen haben ihr relatives Recht, bilden aber nicht hinreichend ab, wie das Wächteramt gegenüber dem Politischen zu profilieren ist: Es besteht darin, als Hüter der Säkularität staatlicher Ordnungen zu agieren.

Genau darin besteht auch die Funktion, die die invocatio Dei, der Gottesbezug, in der Präambel des Grundgesetzes innehat. Sie beinhaltet, auf die konstitutive Fehlerhaftigkeit politischer Entscheidungen hinzuweisen, aber auch bewusst zu machen, dass politische Entscheidungen als solche getroffen und auch verantwortet werden müssen. Denn für Glaubensüberzeugungen kann und darf in einem freiheitlichen Staatswesen niemand zur Rechenschaft gezogen werden, wohl aber für die Weichenstellungen, die sich der Abwägung und der politischen Entscheidung verdanken. Der unvoreingenommene Blick lehrt dabei, dass eine solche Säkularität des Staates keineswegs den Normalzustand darstellt, sondern sich selbst starker normativer Vorannahmen verdankt. Diese Vorannahmen sind ihrerseits auf das Engste mit dem Chris-tentum verbunden, gerade auch in seiner evangelisch-konfessionellen Prägung.

Zusammengefasst besteht der besondere Beitrag des Protestantismus zur politischen Kultur aus der aus dem Glauben an Gott den Schöpfer, Erlöser und Versöhner resultierenden Sichtweise, die die Weltlichkeit der Politik sicherstellt und damit politische Entscheidungen als politische erst ermöglicht und sie doch durch den Verweis auf die Souveränität und die alleinige Heiligkeit Gottes auch begrenzt. Der Protestantismus will diejenigen Überzeugungsressourcen bereitstellen, die die Voraussetzung dafür bilden, strittige Fragen unter dem Verzicht auf Absolutheitsansprüche und unter der Anerkennung des anderen als Gleichberechtigtem auszutragen.

Damit aber ergibt sich nun auch eine neue Aufgabenstellung der Militärseelsorge: Ihr Ziel kann es gerade nicht sein, das Handeln des Staates mit einer theologischen Legitimität auszustatten. Ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, den religiösen Überschuss, den militärische Gewaltanwendung und die damit immer auch verbundenen Faszinationen, aber auch die Kontingenz- und Leiderfahrungen, die mit dem Beruf der Soldatin und des Soldaten immer auch verbunden sind, auf sich zu ziehen und so den weltlichen Charakter militärischen Handelns sicherzustellen. Die Tatsache, dass es gerade im Bereich der Streitkräfte, in Maßen aber auch bei der Polizei, zur Ausbildung von eigenen, im Grunde überzeugungsgetragenen Subkulturen kommt, die sich dem politischen Regelungswerk zu entziehen drohen, zeigt, wie wichtig dieser Aspekt ist.

Zu dieser Einordnung des militärischen Handelns als eines weltlichen Handelns gehört sodann auch die Vermittlung ethischer Kompetenz, die vor allem in der Fähigkeit besteht, das eigene Handeln auch in unvorhersehbaren Situationen an ethischen Standards auszurichten und sich nicht von dem Sakralisierungspotenzial, das dem militärischen Handeln eben immer auch eignet, in Beschlag nehmen zu lassen.

Die Ethik, für deren Vermittlung die Militärseelsorge in besonderer Weise zuständig ist, ist dabei eine Tugendethik, die dem Verantwortungscharakter, der allem Handeln zu eigen ist, entspricht. Es ist daher kein Zufall, dass das Konzept der Inneren Führung sich wesentlich protes-tantischen Impulsen verdankt. Es ist aber darauf angewiesen, dass es fortwährend aus den Überzeugungen gespeist wird, die zu seiner Ausbildung führten.

Der spezifische Beitrag, den der Protestantismus für das Handeln im Feld des Politischen leisten kann, ergibt sich aus der ethischen Fassung des Versöhnungsgedankens und damit aus der Zentralstellung des Christusereignisses, das die Erwählung Gottes, die an das Volk Israel erging, auf alle, die an ihn glauben, ausweitet. Denn in seiner ethischen Fassung ist der Versöhnungsgedanke aufs Engste damit verbunden, nicht den eigenen Vorteil in den Vordergrund zu stellen, sondern sich am gemeinsamen Wohlergehen zu orientieren und sich für dieses auch zu engagieren. Die konstitutive Verbindung zwischen dem christlichen Glauben und dem Politischen bedingt es, dass sich Christen eben nicht auf eine Innerlichkeit zurückziehen können, sondern sich in den Dienst des Gemeinsamen stellen.

Frieden als Handlungsziel

Ein solches Engagement ist aber nicht verbunden mit dem Anspruch, auf der Grundlage des Glaubens über ein handlungsleitendes, transzendent begründetes und damit dem Politischen überlegenes Sonderwissen zu besitzen. Im Gegenteil: Aus dem Glauben an Gott den Schöpfer und den Erlöser der Welt ergeben sich gerade der Verzicht und die Kritik an allen Absolutheitsansprüchen. In diesem Zuschnitt bildet die ethische Dimension des Glaubens an den dreieinigen Gott eine wichtige Voraussetzung dafür, zu einem Miteinander zu gelangen, in dem sich alle als gleichberechtigte Andere anerkennen. Gleichzeitig stellt der Glaube an den Versöhner und Erlöser der Welt doch ein Reservoir bereit, das zu einer kontinuierlichen Veränderung dieser Realitäten motiviert. In klassischer theologischer Sprache formuliert: Das Evangelium ist die Kraft, die Logik des Gesetzes nicht einfach nur anzuerkennen, sondern sie im Horizont des von Jesus verkündigten Reiches Gottes zu verändern.

Diese Kraft setzt den Respekt vor der Weltlichkeit der Welt nicht außer Kraft, also den ethischen Imperativ, der sich aus dem Glauben an den Schöpfer ergibt. An wenigen anderen Stellen ist die Realität des Gesetzes so deutlich sichtbar wie dort, wo es der Gewalt bedarf, um der Gewalt Einhalt zu gebieten. Aber der Versöhnungsgedanke rückt diesen Respekt doch ins rechte Licht: Präsent zu halten, und zwar nicht nur durch die Vermittlung von Überzeugungen, sondern durch das Einüben entsprechender Praktiken, dass nicht die Gewalt, sondern die Gemeinschaft, nicht die kriegerische Auseinandersetzung, sondern der Friede das Ziel des Handelns bilden, stellt eine herausgehobene Aufgabe für die Präsenz des Christentums im Politischen, insbesondere auch im Bereich des Militärs dar.

So verstanden, hält die Militärseelsorge am Ort des Konflikts das Bewusstsein wach, dass das Ziel allen staatlichen Handelns nur der Friede sein kann. Das Christentum leistet mit dem Bewusstsein und den Praktiken, die auf die Säkularität des Weltlichen zielen, seinen Beitrag dazu. Denn nur so kann die Freiheit und Gleichheit aller gewährleistet werden, was Bedingung des Friedens ist.


 

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