Illusionäre Formel
Die neue EKD-Friedensdenkschrift soll auf dem Synodaltreffen im November vorgestellt werden. Doch schon länger ist klar: Sie räumt dem „Schutz vor Gewalt“ Vorrang vor anderen Dimensionen der Friedenspolitik ein. Hans-Jochen Luhmann, friedenspolitischer Experte, ehemaliger Studienleiter beim Deutschen Evangelischen Kirchentag und früheres Mitglied mehrerer EKD-Kammern, hält das für einen Fehler.
Anlass für die neue Friedensdenkschrift der EKD ist die schockhafte Erfahrung des russischen Voll-Angriffs auf die Ukraine mit dem Ziel eines militärisch herbeigeführten Regime-Wechsels im Februar 2022. Das Unternehmen scheiterte und führte zur zweiten schockhaften Erfahrung, der eines „Abnutzungskrieges“ mit meterweisen Geländegewinnen und Massen von Getöteten und Verstümmelten. Dazu meinte man, aus der Friedensdenkschrift aus dem Jahre 2007 keine Lehren ableiten zu können, weil dieser brutale Fall für die damaligen Autoren jenseits des Vorstellbaren gelegen habe.[1] Den Unterschied im Kern zwischen neu und alt formulierte die EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs bereits auf dem Johannisempfang im Sommer so:
"Die Erfahrungen der letzten knapp zwei Jahrzehnte haben zu eben dieser grundlegenden These geführt, dass der Schutz vor Gewalt unabdingbare Voraussetzung für umfassende Friedensprozesse ist – und damit ein relatives Prä gewinnt gegenüber den anderen drei Dimensionen, die für einen konsolidierten Frieden unverzichtbar bleiben: nämlich Freiheit zu fördern, Ungleichheiten abzubauen und in friedensfördernder Weise mit Pluralität umzugehen." [2]
Verstärktes Frösteln
Gemeint ist mit „Schutz vor Gewalt“ offenkundig: Schutz vor militärischer Gewalt, die ein Staat ausübt. Also Schutz vor Krieg. Konkret: Schutz vor Russlands Militärmacht. Mitautoren der Denkschrift haben in begleitenden öffentlichen Äußerungen deutlich gemacht, dass sie den aktuellen Aufrüstungskurs von NATO und Bundesregierung nicht kritisch zu begleiten gedenken sondern mittragen – dass sie so, wie derzeit offiziell angestrebt, die zentrale Formel der neuen Denkschrift verstehen.
Mich fröstelt bei dieser Wortwahl, bei diesem Gedanken. Verstärkt wird das Frösteln durch die begleitende Abwertung des „Pazifismus“, der nicht von der Vokabel her genommen wird, sondern von der bedingungslosen Gewaltfreiheit her. Meine Erfahrung der letzten 30 Jahre mit kriegerischer Gewalt in der Mitte Europas ist eine andere. Die letzten Jahre des Kalten Kriegs hatten zu einer klug gestalteten Sicherheitsordnung in Europa geführt. Sie bestand nur teilweise und am Rande aus dem Angriffskriegsverbot der UN-Charta. Zentral waren vielmehr weitreichende Rüstungskontrollvereinbarungen, die Transparenz brachten und dadurch zu Kooperation und Vertrauen führten. Der Sinn einer Sicherheitsordnung ist, das Abrutschen latenter Beziehungskrisen in die Extremform „Krieg“ zu vermeiden.
Es geht um Beziehung
Der Krieg zwischen Russland und (faktisch) dem Westen ist inzwischen realisiert, entsprechende Traumata und Verfeindung werden produziert. Die Antwort auf die Frage nach der Ursache dieses Krieges im Zentralgebiet der einstmaligen europäischen Sicherheitsordnung lautet: Es ist der vorlaufende schrittweise Abbau der Elemente dieser Sicherheitsordnung. Daraus folgt für mich: Schutz vor dem Erleiden militärischer Gewalt ist am wahrscheinlichsten durch die erneute Errichtung einer Sicherheitsordnung zu erreichen. Kriegsverhütung muss zweifelsfrei das Schutzziel sein.
Eine Sicherheitsordnung ist etwas Bilaterales, etwas in einer Beziehung, der (heutigen) Kriegspartner. Voraussetzung dafür, eine Ordnung wieder zu erreichen, ist, dass die Verfeindeten dazu (auch) kooperieren, vor allem zur Rüstungskontrolle. Krieg wie Nicht-Krieg sind jeweils ein Beziehungsgeschehen. Beziehungspflege ist zentral. Es geht um die Gewinnung einer kooperativen Beziehung nicht unter Freunden, sondern unter Gegnern, heute leider unter Feinden. Aufgabe der Kirche ist, für das Nicht-Selbstverständliche zu werben: die Beziehungspflege unter Feinden, mit dem Ziel der Kooperation. „Schutz vor Gewalt“ hört sich anders, gegenteilig an. Es klingt nach einer unilateralen Option, die ohne aktive Partnerschaft erreichbar wäre. Die Formel legt zudem sprachlich nahe, durch pure Verteidigungsakte erreichbar zu sein – rechtlich legitimiert, da in Übereinstimmung mit dem Verbot des Angriffskrieges in der UN-Charta.
Irreführendes Sprachbild
Doch diesem Sprachbild ist zu misstrauen. Es ist nach dem Stand meiner Kenntnis heute leitender militärischer Optionen irreführend. Um das erkennen, hat man in die faktische militärische Planung des Westens zu schauen, am besten, beziehungsgerecht, auch aus der Sicht des Feindes, der uns als Spiegel zu dienen vermag. Die gegenwärtige Aufrüstung des Westens wird geprägt von einem Bild davon, wie der nächste Krieg gegebenenfalls zu führen sei. Das leitende Kriegsbild der NATO entstammt wesentlich der Intention, eine Verwicklung in einen Abnützungskrieg, wie er im Osten der Ukraine sich seit Jahren festgefressen hat, zu vermeiden. Dem dient die Aufrüstung mit weitreichenden (nicht nuklear bestückten) Präzisions-Waffen, bevorzugt von Land aus. Sie sollen, so das vom Bundesministerium für Verteidigung bildhaft vertretene Konzept [3], den gegnerischen Bogenschützen präventiv ausschalten, um nicht aufwändig in purem Verteidigungs-Reaktions-Modus dessen Pfeile einzeln abfangen zu müssen. Das gilt als ökonomisch unverhältnismäßig teuer und deswegen nicht machbar. Der gegnerische Bogenschütze mitsamt seiner Logistik und seinen Aufklärungs- und Befehlsstrukturen, so das Bild, sind sogenannte Hochwertziele, welche sicher ausgeschaltet werden können sollen.
Doch auch der gegnerische Bogenschütze verfügt über zielgenaue weitreichende Waffen, die denen des Westens in ihren Fähigkeiten äquivalent sind – nur in der jeweiligen Menge besteht eine Diskrepanz. Im Spannungsfall ist somit beidseits, sowohl seitens des Westens als auch seitens Russlands, der prä-emptive Schlag das Mittel der Wahl. Mit dieser voraussichtlich gegen das Verbot des Angriffskriegs verstoßenden Option soll abgeschreckt und so etwas wie „Schutz vor Gewalt“ realisiert werden.
Zumindest paradox
Das ist zumindest paradox. Das Kalkül des Gegners ist dasselbe. Die Abschreckungssituation ist damit hochgradig instabil. Ein daran geknüpftes Schutzversprechen ist wegen der Labilität der Konstellation ein irreales. So wird Schutz gegen Gewalt nur vermeintlich geboten, eher wird sogar das Gegenteil erreicht. Ich zumindest empfinde mit diesem Konzept unserer Militärplaner kein Schutzempfinden. Und ich vermute, dass ich mit diesem Empfinden nicht alleine dastehe. Im Deutschen Bundestag, unter unseren Repräsentanten, hat bislang niemand Auskunft gefordert zu dem Kriegsbild, welchem die aktuelle massive Rüstungsbeschaffungsplanung der Bundeswehr folgt. Das sagt mir: Sie ahnen den Grund, weshalb sie kein Interesse an dem behaupteten Schutzkonzept zeigen.
Auf die Denkschrift bezogen ist die Konsequenz: Wenn für die Denkschrift-Forderung „Schutz vor Gewalt“ kein militärisch realistisches Umsetzungskonzept ausgewiesen werden kann, dann ist die Ableitung eines „Prä“ in allfälligen ethischen Abwägungen mindestens unerheblich. Dieser angeblich neue ethische Ansatz ist unter heutigen Realbedingungen folgenlos. Doch die Illusion, die dieses Bild erzeugt, ist folgenreich.
Potenzial der Sanktionen
Die Maxime der EKD-Denkschrift unterstellt als Zweites, dass Schutz vor Gewalt allein durch Gewalt möglich sei – asymmetrische Schutz-Optionen werden nicht erwogen. Wobei die weiter oben formulierten Ableitungen gezeigt haben, dass absoluter Schutz mit (realistischen) Gewalt-Optionen unerreichbar ist. Abstriche am Schutzziel sind somit einzupreisen. Ziel eines Krieges ist es nach von Clausewitz, durch Ausübung von Zwang „den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen“. Militärische („Gewalt-“) Mittel sind lediglich eine spezielle Form der Ausübung von Zwang. Daneben gibt es andere. „Sanktionen“ ist die bekannteste unter ihnen. Sie hat es als zentraler Hoffnungsträger als Gegensatz oder Substitut für Gewalt auch in die UN-Charta gebracht. Das könnte man aufgreifen.
Schutz vor Gewalt durch Abschreckung ist somit auch durch andere Zwangsmittel als durch Gewalt erreichbar – in dem Maße, wie ein solcher Schutz erreichbar ist. Es ist daran zu erinnern, dass der Westen im Dezember 2021 sich entschieden hatte zu versuchen, Russland von seiner vorbereiteten Invasion in die Ukraine durch Androhung von „präzedenzlosen“ Sanktionen abzuschrecken. Die damalige deutsche Außenministerin Annalena Baerbock hat später öffentlich bekundet, dass Kreise der Bundesregierung von den Erfolgsaussichten dieser Drohung überzeugt gewesen seien – und das, obwohl die angedrohten Sanktionen kaum vorbereitet und entsprechend wenig glaubwürdig in der Sicht des Gegners waren. Das mögliche Droh-Potenzial präzise vorbereiteter Sanktionen ist bislang unbedacht und also unbestimmt. Vor diesem Hintergrund provoziert die implizite Gewalt-Geneigtheit des EKD-Ansatzes die Frage, woher sie wohl kommen mag.
Schleier abreißen
Wirklichen Schutz vor (militärischer) Gewalt gewährt nur die Kriegsverhütung. Die ist bislang, auf Dauer, regelmäßig gescheitert. Das muss nicht so weitergehen. Wer dem Schutz vor Gewalt strategisch Priorität geben will, muss dem Bewusstseinswandel den Weg bereiten, der den Krieg als politische Option abschafft. Dazu gehört mindestens Zweierlei:
1. Dieses Ziel benennen und für realistisch möglich halten;
2. Der Formel „Schutz vor Gewalt“ den Schleier der angeblich realistischen Machbarkeit durch Gewalt abreißen. Das Illusionäre dieser Formel gehört benannt.
[1] https://www.sinn-schaffen.de/hans-jochen-luhmann/die-ekd-auf-dem-weg-zu-einer-neuen-friedensdenkschrift-drei-stolpersteine/
[2] https://www.ekd.de/rede-zum-johannisempfang-der-ekd-2025-90877.htm
[3] https://www.blog-der-republik.de/neues-erklaervideo-der-bundeswehr-zur-us-raketenstationierung/
Hans-Jochen Luhmann
Dr. Hans-Jochen Luhmann ist Co-Vorsitzender des Beirats der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) und dort Mitglied der Studiengruppe „Europäische Sicherheit und Frieden“.