Am zweiten Jahrestag des von der Hamas verübten Massakers an der israelischen Bevölkerung blickt der Theologe und Soziologe Gerhard Wegner, Niedersächsischer Landesbeauftragter für den Schutz jüdischen Lebens, auf den zunehmenden Antisemitismus auch in Deutschland. Für ihn ist klar: Wer das Existenzrecht Israels garantieren will, muss seine Verteidigungsanstrengungen bejahen und all seine Politik in diesem Licht sortieren.
Der 7. Oktober 2023 dürfte noch lange ein Fluchtpunkt jeder Auseinbandersetzung über Israel und den Antisemitismus bleiben. Denn das Progrom der Hamas war offenkundig der Beginn eines Großangriffs nicht nur auf Israel sondern auf Jüdinnen und Juden in aller Welt. Wohl noch nie seit dem Ende des 2. Weltkriegs gab es dermaßen ausgreifende antisemitische Aktivitäten rund um den Globus, gerade auch in Deutschland, in denen man sich in Hass gegen Israel aber auch gegen Juden überhaupt zu überbieten scheint. Noch nie fanden Boykottforderungen gegen Israel – selbst zu solchen Veranstaltungen wie dem ESC und der Mitgliedschaft in der UEFA - so viel Zustimmung. Und dass sich gar im Land der Täter mehr als 50 Prozent der Menschen nicht zu schade sind, Israels Politik für genauso schlimm zu halten, wie die der Nazis kann nur noch als ungeheuerlich bezeichnet werden (Leipziger Autoritarismus Studie 2024, manifeste und latente Zustimmung).
Stets einsetzendes "aber..."
Im Hintergrund der aktuellen Situation sind tektonische Verschiebungen in der politischen Debatte zu erkennen. In einer rabiaten und sicherlich strategisch geplanten Umkehrung des Täter – Opfer Verhältnisses ist es der Hamas und ihren Verbündeten gelungen, Israel vor der Weltöffentlichkeit als letztlich selbst schuldig für den 7. Oktober hinzustellen. Natürlich wird Israel einerseits stets das Recht zugebilligt, sich gegen den Angriff wehren zu dürfen, aber angesichts des dann stets einsetzenden „aber….“ fragt man sich, ob das wirklich ernst gemeint ist.
Andererseits üben gerade jene, die Israel am meisten lieben, Kritik an der Art des Krieges im Gazastreifen oder dem Vorgehen im Westjordanland. Die Angst, dass das Land sich durch die Art und Weise wie es sich verteidigt, sich selbst zerstört, ist nicht gering. „Israelkritik“ ist nicht notwendigerweise antisemitisch – sie tritt aber meistens so auf. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) dokumentiert seit dem 7. Oktober 2023 rechnerisch 5 antisemitische Versammlungen jeden Tag - hauptsächlich israelbezogenem Antisemitismus. Vor dem 7. Oktober 2023 waren es knapp eine.
Verharmlosung des Holocaust
Der weltweiten Kritik an Israel liegt letztlich ein antisemitisches Muster zugrunde, demgemäß sich Jüdinnen und Juden eigentlich besser gar nicht wehren sollten, denn sie hätten doch selbst den Holocaust erlebt.[1] Eine seltsame Verkehrung der Argumentation und eine antisemitische Verharmlosung des Holocaust sondergleichen! Der Aussage: „Durch die israelische Politik werden mir die Juden immer unsympathischer“ stimmten zwischen 2018 und 2022 stets etwa 13 bis 14 Prozent der Deutschen manifest zu (2012 allerdings 24,4 Prozent!). Schon vor dem 7. Oktober wird israelbezogener Antisemtismus von bis zu 21 Prozent der Bevölkerung geteilt. Nicht der Staat Israel mache etwas falsch, sondern es seien „die Juden“!
Dieses antisemitisches Grundsyndrom kommt zum Beispiel in einer Aussage eines Herbert von Buttlar zum Ausdruck, die Natan Sznaider[2] wieder ausgegraben hat. Buttlar war Ende der 1950er-Jahre Generaldirektor der Akademie der Künste in Berlin und wollte in dieser Rolle der von den Nazis vertriebenen, aber in Deutschland unvergessenen Mascha Kaleko 1959 den Fontane-Preis zukommen lassen. Nachdem sie jedoch feststellte, dass einer der Kuratoren Mitglied der SS gewesen war, lehnte sie ab. Daraufhin Buttlar laut Protokoll: Er „bedauert, dass die unmenschlichen Erfahrungen der letzten Jahre die Juden um ihre Toleranz gebracht haben, d.h. eigentlich um ihren Charakter, den sie auch in Schicksalstürmen behaupten müssten.“ Ein unglaublicher Satz des toleranten und liberalen Kunstliebhabers vor 70 Jahren!
Der Staat der Juden
Nein: die jüdische Folgerung aus dem Holocaust konnte gewiss nicht sein, sich als Juden zurückzuhalten, zu vergeben und Toleranz zu üben, sondern ganz im Gegenteil: sich zu verteidigen und alles zu unternehmen, dass sich so etwas wie in Deutschland nicht wiederholt. Und genau dafür braucht es Israel! Wer das Existenzrecht Israels – auch durch den Verweis auf äußerst problematische politische Aktionen des Staates Israel - infrage stellt ist ein Antisemit und verdient kein Verständnis. Kritik sollte die Solidarität mit Israel vertiefen – nicht sie relativieren!
Nun fordert die schlichte Anerkennung der Existenz Israels, als eines ausdrücklichen „Staates der Juden“, was Israel ja ist, aber noch weitere, grundsätzliche Überlegungen heraus, die hier nur anklingen können. Kann die christliche Theologie, kann überhaupt irgendeine sich universalistisch verstehende Philosophie einen „Staat der Juden“ legitimieren?
Gebiete illegal besetzt
Teile von Palästina sind durch eine bewusste „Landnahme“ von Siedlern zu Israel gemacht worden. Ihre Geschichten sind vielfach erzählt worden. Ganz wunderbar geradezu in Form eines magischen Realismus etwa. von Meir Shalev: „Ein russischer Roman“[3] über die Besiedlung der Jesreel Ebene vor allem durch russische Juden. Man kann gar nicht aufhören, das zu lesen, so schön ist es alles beschrieben. Auch, das von vorherein Waffen eine Rolle spielten, weil man sich verteidigen musste, ist im Blick. Dass die Wüste wieder zu fruchtbarem Land wurde ist nicht denkbar ohne die Bereitschaft zur Verteidigung.
Israel ist ohne seine beständige Verteidigungsbereitschaft nicht denkbar. Wer sein Existenzrecht garantieren will, muss seine Verteidungsanstrengungen bejahen und all seine Politik in diesem Licht sortieren. Mehr als sonst in der Welt ist Pazifismus in Palästina gefährlich illusionär. Deswegen: Ja, Israel hält Gebiete seit vielen Jahren illegal besetzt. Kein anderes Land der Welt tut das. Aber es gibt auch kein anderes Land der Welt, dass seit seinen ersten Jahren in seiner Existenz derart fundamental bedroht ist.
Rassismus und Antisemitismus
Und es mag ja sein, dass es Parallelen mit einem imperialen Siedlerkolonialismus gibt, wie es ihn zum Beispiel in Südafrika, Namibia und Australien gegeben hat (und gibt). Allerdings ist es im Fall Israels gerade umgekehrt als sonst: „Die Kolonisierten gründen ein Mutterland. Aber ein Mutterland in einer feindlichen Umgebung.“[4] Das postkoloniale Schema passt nicht auf dieses Land! Das rechtfertigt nichts in seiner konkreten Politik. Aber es verschiebt die Kategorien fundamental. Denn man muss sehen, dass ein demokratischer liberaler Staat, ausgestattet mit allen Menschen- und Bürgerrechten, humanistisch und offen: ein solcher Staat als solcher garantiert die Existenz jüdischen Lebens eben nicht. Das ist die bittere Erkenntnis von 1933 und nun auch wieder der letzten Monate. Aller Universalismus kippt an der Realität des Jüdischen in sein Gegenteil um!
Nur dann, wenn ausdrücklich Antisemitismus gebrandmarkt und Solidarität mit Israel sozusagen noch vor universalistischen Werten geteilt wird, also eine Parteinahme für die Besonderheit des jüdischen Lebens und des Staates Israel, als dessen realer und deswegen wehrhafter Gestalt im Mittelpunkt aller Optionen steht, kann Hoffnung für Jüdinnen und Juden real sein. Ein humanistisches Pathos der Umarmung aller Menschen trifft es nicht. Das lehrt nicht nur der Holocaust.
Menschen, die gegen Antisemitismus votieren, sind meist auch gegen Rassismus engagiert – so wie seinerzeit Abraham Heschel mit Martin Luther - King beim Marsch auf Washington am 28. August 1963 am Lincoln Memorial stand. Aber umgekehrt gilt das nicht: Gegen Rassismus zu sein bedeutet nicht deswegen auch gegen Antisemitismus zu sein – jedenfalls nicht im Fall des Staates Israel. Im Gegenteil! Gerade in antirassistischen Diskursen gibt es kein Land der Welt, das so rassistisch auftrete und Apartheid praktiziere, wie Israel. Das an sich gute und richtige Engagement gegen Rassismus und Kolonialismus verkehrt sich so ins Gegenteil. Eine fürchterliche, tragische, tödliche Paradoxie!
Ein Skandalon
Der Staat der Juden ist ein Skandalon und trifft - mit Natan Sznaider gesagt – „frontal auf ein universales aufgeklärtes Gleichheitsdenken“.[5] „In Israel entwickelt sich ein Judentum, das vor allem mit Souveränität und Macht verknüpft ist, …. Der Staat Israel steht auch für die aktive, wehrhafte Haltung von Juden und Jüdinnen.“ Und zugespitzt: „Die Vermischung von Sicherheit als Gottvertrauen und Sicherheit, die der Staat als Verpflichtung sieht, ist daher Teil der israelitischen Staatsräson.“[6] Wenn einmal klar ist, dass der Staat Israel ein Existenzrecht hat – und dieses Recht sowohl selbst verteidigen können muss als auch von der Weltgemeinschaft darin geschützt werden muss – stellen sich bestimmte Koordinaten des Diskurses von vornherein ein.
Israel, und natürlich die Existenz von Jüdinnen und Juden überhaupt, bezeichnet somit die Grenze jeder Form eines ethischen oder allgemein philosophischen Universalismus. (Oder aber auch, spekulativ gesagt: vielleicht den zentralen Ort seiner Konstitution?) Es gibt, so sagt es Nathan Sznaider mit Hannah Arendt „keinen abstrakten Universalismus, keinen archimedischen Punkt, von dem aus man die Welt betrachten kann.“[7] Es mag sein, dass eine humanistische Position die gleiche Würde aller als Menschen begründen kann. Wie gerne zitieren wir diesbezüglich das Grundgesetz! Die jüdische Erfahrung beinhaltet jedoch den fürchterlichen Bruch: Juden wurden genau in dieser Hinsicht nicht als Menschen begriffen. Und das scheint in manchen Ländern in Bezug auf Israel immer noch – und wieder häufiger - so zu sein und rechtfertigt deswegen ihre Forderung nach Beseitigung dieses Staates.
Egozentrische Wolken
Fazit: Es gibt keinen Weg, sich der konkreten Herausforderung der Existenz Israels und des Lebens der Jüdinnen und Juden in Deutschland zu entziehen. Die Unversehrtheit dieses Staates und dieses Lebens ist bedroht wie lange nicht mehr.
Besonders betroffen macht die Tatsache, dass man offensichtlich gegen Rassismus und dennoch zugleich Antisemit sein kann. Und sicherlich: Man kann sich auch für Jüdinnen und Juden einsetzen – und zugleich offen rassistisch gegen Muslime vorgehen. Vieles geht zusammen, was sich eigentlich widerspricht. Dahinter stehen „Mindsets“, die sich in egozentrierten „Wolken“ herausbilden und nichts mehr an sich rankommen lassen. Aber das ist nichts Neues. Die Wahrheit ist und bleibt konkret. Die Wahrheit ist die Existenz dieser jüdischen Menschen und ihres Staates. Nur wer das anerkennt, kann Frieden stiften. Und darum sollte es gehen – ausschließlich darum!
[1] Vergl. dazu sehr gut Achim Dörfer: „Irgendjemand müsste die Täter ja bestrafen“ Die Rache der Juden, das Versagen der deutschen Justiz nach 1945 und das Märchen deutsch-jüdischer Versöhnung. Köln 2021.
[2] Natan Sznaider: Die jüdische Wunde. Leben zwischen Anpassung und Autonomie. München 2024, 151.
[3] Meir Shalev: Ein russischer Roman. Zürich 1993.
[4] Natan Sznaider, 220.
[5] Natan Sznaider, 213.
[6] Natan Sznaider, 215.
[7] Natan Sznaider, 143.
Gerhard Wegner
Gerhard Wegner ist Direktor i.R. des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD und Niedersächsischer Landesbeauftragter gegen Antisemitismus und für den Schutz jüdischen Lebens.