Es ist die gegenwärtige Dominanz von „identifikatorische[n] Formen des Umgangs mit Kunst“, die den Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich bewogen hat, sein Buch Identifikation und Empowerment zu schreiben. Es ist der Versuch, „einige vieldiskutierte Phänomene der Gegenwart – von ‚Cancel Culture‘ bis zum Politaktivismus, von Influencern bis zu autofiktionaler Literatur – […] aus den aufgeregt-tagesaktuellen Debatten herauszulösen und zu fragen, was sie jeweils mit ‚Identifikation‘ und ‚Empowerment‘ zu tun haben könnten“. Dieses Buch werden wir wohl nie zu lesen bekommen. Was wir jedoch zwischen zwei Buchdeckeln mit identischem Titel vorfinden, ist die ungekürzte Mitschrift eines Podcasts, in dem der Autor über ebendieses Buch diskutiert. Das literarische Projekt des Sachbuchs als fiktionaler Dialog über das Sachbuch ist herausfordernd – verspricht aber eine vergnügliche wie erhellende Lektüre.
Ullrichs Gesprächspartner ist ein überzeugter Anhänger des Ideals autonomer Kunst – und damit ein spannungsreiches Gegenüber: Denn nicht nur, dass er in idealtypischer Weise gängige Vorurteile gegenüber woker Gegenwartskunst vertritt, in Reibung, zu denen Ullrich seine differenzierte – und dabei nicht unkritische – Perspektive auf deren Genese und Entwicklungsperspektiven darzulegen vermag. Auch kann Ullrich seinen Konterpart mit der These von der autonomen Kunst als Ausnahmeerscheinung in der Kunstgeschichte provozieren. Dass Kunst vor der kurzen Phase ihrer Autonomie durch starke identifikatorische und empowernde Momente geprägt war, bringt er in überzeugender Weise in Zusammenhang mit der Wirkmächtigkeit des Gedankens der imitatio Christi. Dabei macht er nicht nur christliche Traditionsbestände für die Deutung der Kunst in Geschichte und Gegenwart fruchtbar, sondern entfaltet zugleich eine feinsinnige – und anregende – Deutung des Christentums als „Imitationsgemeinschaft“.
Anregend ist Ullrichs Buch auch dort, wo es zu kritischen Rückfragen Anlass gibt. Etwa wenn die Beuyssche „Jeder Mensch ist ein Künstler“-Programmatik als dezidiert protestantisch charakterisiert wird. Zwar rückt Ullrich das künstlerische Programm mit seinem empowernden Anliegen in die Nähe der reformatorischen Lehre vom allgemeinen Priestertum. Zum einen jedoch leitet Ullrich diese Nähe von einem bei Beuys schöpfungstheologisch in der Gottebenbildlichkeit begründeten menschlichen Vermögen zur Weltgestaltung her. Zum anderen scheint Ullrich dem Allgemeinen Priestertum ein vergleichbares menschliches Vermögen zu einer heilswirksamen menschlichen Gestaltung der Gottesbeziehung beizulegen. In diesem Sinne verweist er etwa auf Beuys’ Bezugnahme auf die Ignatianischen Exerzitien als Weg, „sich voller Demut und Heilsstreben um die Nachfolge Christi zu bemühen und dadurch in die Nähe Gottes zu gelangen“. Damit aber legt Ullrich durch die theologische Unterfütterung seiner These die Fährte eher zur vorreformatorischen Unterscheidung von imago und similitudo als zur protestantischen Sünden- und Gnadenlehre.
Dies freilich tut der Tatsache keinen Abbruch, dass Ullrich sich auch für dieses Buch wieder in unterschiedliche – nicht nur theologische – jenseits der Kunstwissenschaft liegende Fachdiskurse eingearbeitet hat. Indem die vielfältigen ausgezogenen Linien stringent auf die kunstwissenschaftliche Fragestellung hin geordnet sind, fügen sie sich zu einem geschlossenen Ganzen. Wiederum: Entlang der Erörterung einer die zeitgenössische Kunstwelt betreffenden Frage eröffnet das Buch so Einblicke in entscheidende Umbrüche der gegenwärtigen Medien-, Konsum- und damit Lebenswelt. Mindestens ebenso lesenswert wie für Kunstinteressierte ist es damit für all diejenigen, die (nicht zuletzt auch in homiletischer Absicht) an Grundfragen der Gegenwartshermeneutik interessiert sind.
Tilman Asmus Fischer
Tilman Asmus Fischer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin und schreibt als Journalist über Theologie, Politik und Gesellschaft