Dieses Buch ist ein Mammutwerk – und ein absolut zeitnotwendiges Werk, die erste umfassende Darstellung der Rolle der Religionen in Konflikten und Friedensprozessen nach der „Zeitenwende“, die der damalige Kanzler Olaf Scholz nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine 2022 diagnostiziert hat.
Der erste Anstoß liegt schon früher. Er kam aus dem deutschen Außenministerium: Was wissen Diplomaten, die ins Ausland gehen, über Religion und Kultur in den Ländern, in denen sie wirken werden? Frank-Walter Steinmeier hat noch als Außenminister ernst genommen, dass sich rund 80 Prozent der Weltbevölkerung religiös orientieren, mit zunehmender Tendenz, trotz der Säkularisierungsentwicklungen in den „westlichen“ Staaten. Er hat einen Dialogprozess zu Außenpolitik und Religionen in Gang gesetzt, der über mehrere Jahre über die Abteilung 612 des Außenamtes organisiert wurde. Von 2020–2023 gab es einen dreijährigen Konsultationsprozess mit 30 Wissenschaftler:innen in drei Arbeitsgruppen, und zwar zu den Inhaltsgebieten „Religion und Recht“, „Religion und Gewalt“ sowie „Religion und Frieden“. Waren im Konsultationsprozess nur die „abrahamischen“ Religionen Judentum, Christentum und Islam im Blick, so ist in der Weiterarbeit für das vorliegende Handbuch auch der südostasiatische Kulturraum mit Hinduismus und Buddhismus und der chinesische Kulturraum mit Konfuzianismus und Taoismus einbezogen worden.
Die Arbeit wurde durchgeführt von der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg unter Ines-Jacqueline Werkner, der Leiterin des Arbeitsbereichs „Frieden“. Es wurden wissenschaftlich qualifizierte Autor:innen für schließlich insgesamt 97 Beiträge gewonnen. Was für eine Leistung. Und welche Perspektivenbreite.
Den Teilen Religion und Recht, Religion und Gewalt sowie Religion und Frieden wird eine Verständigung über Grundbegriffe (Religionsbegriff, religiöse Profile, Verhältnisbestimmung von Politik und Religion) vorgeschaltet. Bei jeder Reflexionsachse erfolgt eine differenzierte Sicht auf die verschiedenen im Fokus des Handbuchs stehenden Religionen. Als herausfordernd erwies sich die Auswahl der Religionen und das Drängen auf „objektive“ Darstellungen.
Es war eine besondere Leistung, den Kreis der Autorinnen und Autoren zu gewinnen, umfangmäßig begrenzte und gut strukturierte Artikel zu erhalten, diese zu redigieren und zu lektorieren, mit einem kleinen Team. Die aktuellen religions-politischen Problemlagen, der Backlash, der sich in einer Entwicklung neuer autoritärer Strukturen gegen Pluralität, Toleranz und soziales Engagement weltweit zeigt, sind durchgängig im Blick: evangelikale Trump-Unterstützer, russisch-orthodoxe Putin-Verehrer, die Ideologie von jüdischen Siedlern mit ihren Angriffen auf die Westbank, das betonharte islamische Regime im Iran, Buddhisten in Myanmar, die Muslime verfolgen, und Hindu-Nationalisten in Indien. Aber es wird auch das Gegenteil sichtbar gemacht, viel breiter und viel stärker als es in den Medien und im öffentlichen Bewusstsein präsent ist.
In jeder der Religionsgemeinschaften gibt es Protagonisten und Bewegungen eines Glaubens, der aus den spirituellen Wurzeln, die in jeder Religion ganz spezifisch sind, Kraft schöpft für ein verantwortliches Leben. Religion macht Frieden, der Titel des Buches von Markus Weingardt aus dem Jahr 2007 über religiöse und interreligiöse Friedensstifter ist unüberholt. Die Artikel des Handbuchs lenken die Aufmerksamkeit auf Geschichte, Kultur, heilige Texte und ihre Auslegung, Ethik, soziales Leben in jeder der Religionen und – das hätte noch ausgeprägter sein können – die wichtige Bildungsaufgabe.
Da ist nichts uniformiert, das Buch lädt ein, genau hinzuschauen und wahrzunehmen, statt vorschnell zu urteilen. Natürlich ist die Religionen-Auswahl trotz aller Breite begrenzt, zum Beispiel im Blick auf die nicht einbezogenen indigenen Religionen, die für die Frage friedensschaffender ökologischer Traditionen von besonderer Bedeutung sind. Insgesamt enthält das Buch einen grundlegenden Appell: Sucht die Friedenswege so differenziert und vielfältig, wie die Religionen und die politischen Konstellationen im jeweiligen Lebenskontext sind. Überlasst die Deutungshoheit nicht den Fanatikern. Dies Werk ist eine Fundgrube für alle, die sich in diesem komplexen Feld ein differenziertes Bild machen wollen.
Johannes Lähnemann
Johannes Lähnemann ist Professor für Religionspädagogik an der Universität Erlangen-Nürnberg.