Kundig

Leben und Denken Nietzsches

Es ist mehr als ein Zufall, dass Christiane Tietz fast zeitgleich mit ihrem Amtsantritt als neue Kirchenpräsidentin der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau ausgerechnet ein Buch über Friedrich Nietzsches Verhältnis zum Christentum veröffentlicht. Eine Strategie allerdings sollte man dahinter nicht vermuten. Es zeigt sich hier schlicht der Übergang von ihrem vorherigen Leben als Professorin für Systematische Theologie in Zürich zur Kirchenleitung in Darmstadt. Aber es ist eben auch ein schönes Zeichen für eine weltoffene und gedanklich freie Kirche, dass dies keinen Skandal auslöst. Wo sonst in der weiten Welt der Konfessionen und Religionen der Gegenwart wäre Vergleichbares möglich?

Tietz möchte zeigen, wie Nietzsche in allen seinen Lebens- und Denkphasen „im Bann des Christentums“ geblieben ist, wie der Titel ihres Buches glücklich, wenn auch zwiespältig formuliert. Als Kind und Jugendlicher war Friedrich in einer tiefen, innigen Frömmigkeit aufgewachsen, das Christentum hatte einen unwiderstehlichen Sog auf ihn ausgeübt, später mag er diesen „Bann“ als Fluch empfunden haben, von dem er sich mit „übermenschlicher“ Kraftanstrengung zu lösen versuchte. Tietz beschreibt diesen Prozess mit großem Einfühlungsvermögen und ohne zu werten. Stattdessen lässt sie Nietzsche in vielen gut gewählten Zitaten selbst zu Wort kommen.

Zu Nietzsches Anfängen lässt sich nur sagen: Evangelischer kann man nicht aufwachsen. Der früh verstorbene Vater war ein erwecklicher Landgeistlicher, die Mutter ebenfalls sehr fromm. Viele Vorfahren waren Pfarrer. Seine Schulzeit in Schulpforta war geprägt von Religionsunterricht und -praxis. Kein Wunder, dass er anschließend nach Bonn zog, um evangelische Theologie zu studieren. Doch die intensive Auseinandersetzung mit dem Glauben – intellektuell wie existenziell – weckte in ihm Zweifel, die ihn schließlich Studienfach und -ort wechseln ließen. In einem Brief an seine Schwester Elisabeth brachte er es so auf den Punkt: „Hier scheiden sich nun die Wege der Menschen; willst Du Seelenruhe und Glück erstreben, nun so glaube, willst Du ein Jünger der Wahrheit sein, so forsche.“

Als Wunderkind der Altphilologie wurde Nietzsche mit 24 Jahren Professor in Basel. Entgegen dem Klischeebild vom einsamen Genie lebte er vom literarischen und persönlichen Dialog, wie Tietz plastisch erzählt: Feuerbach, Strauß, Schopenhauer, Wagner, Burkhardt, Overbeck. Schrift für Schrift ließ Nietzsche das evangelische Erbe hinter sich, und doch blieb die biblische (und lutherische) Sprache für ihn prägend. Es bleibt ein Geheimnis, das Tietz zum Glück nicht aufzulösen versucht, sondern nur dezent beschreibt, wie die radikale gedankliche Selbstentfaltung mit einer fortschreitenden, grauenhaften Krankheit einherging. Körperlicher Schmerz und gedankliche Euphorie waren hier keine Gegensätze. Je tiefer Nietzsche sank – berufsunfähig, vereinsamt, literarisch erfolglos, je mehr wurde er zum „Freigeist, der nichts mehr wünscht, als täglich irgendeinen beruhigenden Glauben zu verlieren“. Kundig führt Tietz diese Bewegung in Nietzsches beißender Kritik des christlichen Gottesglaubens und dessen Moral vor.

Das eigentliche Wunder dieses Lebens- und Denkweges hat sich nach seinem Ende ereignet. Der Vergessene und in Umnachtung Gestorbene wurde späteren Generationen zum epochalen Ereignis – nicht nur bei radikalen politischen Bewegungen, sondern gerade auch in der Theologie. Martin Buber oder Albert Schweitzer, um bloß zwei zu nennen, kann man nur als religiöse Nietzscheaner verstehen. Deshalb ist es schade, dass Tietz ihr Buch mit dem Tod (sowie eigenen Schlussgedanken) enden lässt. So wird nicht deutlich genug, dass seither – um den Buchtitel umzudrehen – das Christentum unter dem Bann Nietzsches lebt.

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Foto: EKDKultur/Schoelzel

Johann Hinrich Claussen

Johann Hinrich Claussen ist seit 2016 Kulturbeauftragter der EKD. Zuvor war er Propst und Hauptpastor in Hamburg.

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