Schon in den ersten Zeilen dieses dicken Bandes, schon im Editorial, wird eine ganze Welt eröffnet – und leider muss man diese mit Fremdwörtern überlasteten Sätze erst einmal in ein verständliches Deutsch übersetzen, um ermessen zu können, dass sie Kluges meinen: „Rurale Topografien erleben nicht nur gegenwärtig in den medialen, literarischen und künstlerischen Bilderwelten eine neue Konjunktur – sie sind schon seit jeher in verschiedensten Funktionen ganz grundsätzlich am Konstituierungsprozess sowohl kultureller als auch individueller Selbst- und Fremdbilder beteiligt“, heißt es da. Und weiter: „Imaginäre ländliche und dörfliche Lebenswelten beeinflussen die personale und kollektive Orientierung und Positionierung in bestimmten Räumen und zu bestimmten Räumen. Dabei entwerfen sie Modelle, mit denen individuelle und gesamtgesellschaftliche Frage- und Problemstellungen durchgespielt, reflektiert und analysiert werden können.“
Das Land ist also wieder angesagt, unter anderem in der Kultur, und die dabei neu entstehenden Bilder und Ideen tragen wie schon in der Vergangenheit dazu bei, uns darüber im Klaren zu werden, was wir von uns selbst und dem anderen halten. Dabei ist die vielleicht auch nur erfundene Vorstellung des Lebens auf dem Land wichtig dafür, wie wir uns als Person oder Gemeinschaft in der Gesellschaft selbst einordnen, nicht zuletzt in unserem Verhältnis zum Land oder zur Stadt.
Das Buch mit dem angenehm knappen Titel Stadt – Land geht diesen Fragen auf immerhin 284 Seiten nach und versammelt 13 Aufsätze, die die heutige kulturelle Betrachtung des Landes analysieren – und das mit einem ziemlich breiten Ansatz. Dabei geht es zwar mehrheitlich um aktuelle Romane, die das Leben auf dem Land behandeln, aber auch Landkrimis werden bedacht. Tatsächlich gab es nach Auskunft des Bandes seit der Jahrtausendwende eine „zunehmende Präsenz von Dorfliteratur auf dem deutschsprachigen Buchmarkt“. Es scheint, ähnlich vielleicht wie im 19. Jahrhundert zur Zeit der Industrialisierung, ein gesellschaftliches oder zumindest literarisches Bedürfnis zu geben, den ländlichen Raum näher zu erkunden oder wiederzuentdecken. Hinzu kommen im Sammelband Aufsätze zu Fernsehdokumentationen, Reportagen und (ziemlich originell und klug) deutschen Kinderfilmen, deren bekanntester vielleicht „Hände weg von Mississippi“ von Detlev Buck aus dem Jahr 2007 ist (doch es gibt noch eine erstaunlich lange Reihe anderer Kinderfilme, die in den vergangenen Jahren auf dem Land spielen). Aber gibt es Grundlinien, die die Autorinnen und Autoren im komplexen Verhältnis von Stadt und Land in den so verschiedenen kulturellen Produkten ausmachen können? Die sind nur schwer erkennbar. Die Herausgeberinnen, die aus den Feldern der Geografie, Germanistik und Jüdischen Studien kommen, stellen immerhin, mit Einschränkungen und vorsichtig, fest, „dass die vermeintlichen Gegensätze zwischen Stadt und Land mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede aufweisen“. Anders gesagt: Das Land ist demnach keineswegs mehr dieser ganz andere, fremde Raum, für den er gern aus der Perspektive der Stadt gehalten wird.
Der vorliegende Band richtet sich an ein wissenschaftliches Fachpublikum, richtige Lesegenüsse sind deshalb spärlich zu finden. Aber es gehört zu den Stärken des Bandes, dass er herausarbeiten kann, wie in künstlerisch-kulturellen Arbeiten Stereotype und Klischees, die mit der Stadt-Land-Differenz zusammenhängen, problematisiert, dekonstruiert und kritisiert werden – etwa das Klischee von der pluralistischen (Groß-)Stadt, die für individuelle Freiheit steht, oder das Stereotyp des angeblich homogenen Dorfes, das mit naturverbundenen Lebensweisen assoziiert wird. Nein, es kann alles auch ganz anders sein. Und das im kulturellen Feld wissenschaftlich nachzuweisen, ist eine Leistung des Bandes.
Philipp Gessler
Philipp Gessler ist Redakteur der "zeitzeichen". Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Ökumene.