C wie Christus der Ungesehene
Chemnitz, die drittgrößte Stadt Sachsens, ist in diesem Jahr gemeinsam mit Nova Gorica/Gorizia (Slowenien) Europas Kulturhauptstadt. „C the Unseen“ heißt ihr Motto. Die Kirchen und Gemeinden gestalten mit dem Programm „Kulturkirche 2025“ mit.
Die Erkundungstour startet am Hauptbahnhof in Chemnitz. Einem Kopfbahnhof, wie er im 19. Jahrhundert gebaut wurde, um die Bedeutung der Stadt hervorzuheben. Denn einst bestimmten Eisenguss und Textilmaschinenbau das Leben der Menschen in der drittgrößten Stadt Sachsens, die sich damals zum „sächsischen Manchester“ entwickelte. Zwei Kriege, zwei Diktaturen später steht die Stadt wieder vor großen Transformationsprozessen. In diesem Jahr gewählt als „Europäische Kulturhauptstadt 2025“; 38 Partnerkommunen aus Mittelsachsen, dem Erzgebirge und dem Zwickauer Land bilden die Kulturhauptstadtregion.
Kulturhauptstadtpfarrer Holger Bartsch erklärt die archäologische Ausgrabungsstätte der Chemnitzer Mikwe.
Nach dem Ende der DDR glaubten viele, dass hier die Welt zu Ende sei. Oder was bleibt zu hoffen, wenn mehr als 60 000 Menschen die Stadt seit den 1980er-Jahren verlassen haben? Inzwischen auf 245 000 geschrumpft, eine kleine Großstadt, die 37 Jahre lang Karl-Marx-Stadt hieß und 1990 wieder umbenannt wurde.
All dies erfährt der Besucher, wenn er sich mit dem evangelischen Kulturhauptstadtpfarrer Holger Bartsch auf den Weg macht. Dieser ist von seiner sächsischen Landeskirche bestellt, das evangelische Programm zu koordinieren. Bartsch, Jahrgang 1969, gebürtig aus Annaberg im Erzgebirge, versteht sich als Botschafter, der die Idee der Kulturhauptstadt in die evangelischen Kirchengemeinden trägt. Und gleichzeitig ist er Lobbyist der Kirchen bei der Stadt. Ob Innenstadt oder ländliche Region, für das Kulturhauptstadtjahr haben sich evangelische, katholische und die freikirchlichen Gemeinden zur „Kulturkirche 2025“ zusammengeschlossen und bringen eigene Ideen und Formate ein. Unter www.kulturkirche2025.de haben sie ein beachtliches Programm geschaffen. Dabei soll es nicht um religiöse Belehrung gehen, sondern um Dialog und Brückenbau zwischen Menschen, Generationen und Weltanschauungen.
Spürbare Transformation
Den Besucher empfängt ein „Fürchtet Euch nicht“ in riesigen Lettern entlang des Bahnhofsvorplatzes. Eine biblische Ermutigung zur Begrüßung in der ehemaligen Karl-Marx-Stadt? Bartsch erklärt den Hintersinn: Das Artist in Residence- Projekt ist Teil der „Hallenkunst“der Kulturhauptstadt, die sich in diesem Jahr statt im musealen Raum den öffentlichen Raum künstlerisch aneignen soll. Konkret: Das Zitat habe bereits in der Zeit der friedlichen Revolution 1989 in Kirchenräumen Hoffnung gestiftet. Heute erinnert diese Botschaft wieder daran, dass Veränderung möglich ist. Nun also hier ein zweites Mal, gegen Angst und für Offenheit, in Bahnhofstypografie aus DDR-Zeiten.
Vor allem an der kolossalen Büste ist die vergangene Karl-Marx-Stadt noch lebendig.
Der evangelische Theologe spricht viel, über die Deindustrialisierung von Chemnitz, die abwandernde Jugend und einen neuen versteckten Mittelstand, der sich in der Stadt des Marx, der Arbeiterklasse und des Klassenkampfes nach wie vor nicht aus der Deckung traut. An diese Vergangenheit erinnern die Objekte der sozialistischen Kunst, die vielerorts das Stadtbild prägen und damit sichtbar für den ideologischen Überbau der DDR stehen.
Ist Karl-Marx-Stadt in Chemnitz Vergangenheit? Nach dem ehemaligen Kaufhaus Schocken des Architekten Erich Mendelsohn und den Chemnitzer Kunstsammlungen erklärt Bartsch das Karl-Marx-Monument, den Nischl, wie hier jeder sagt. Das beliebteste Fotomotiv von Chemnitz. Ein Denkmal? „Nein, ich sehe immer noch die Einweihung mit 300 000 Leuten davor, die Jugendweihe-Gruppen, die hierher pilgern. Schon immer und immer noch. Und die Ostalgie-Gruppen“, berichtet der evangelische Theologe. Es gehe immer noch um eine Inszenierung des Kopfes, statt den Kontext für Chemnitz aufzuarbeiten. In der Tat: Noch heute steht ein Logo von Karl Marx neben dem Roten Turm für Chemnitz in der Außenwerbung. Aber was steht für das Chemnitz von heute?
Auf dem Weg zur archäologischen Grabung der Chemnitzer Mikwe. Informationstafeln im Halbrund erklären: Hier hat man vor zwei Jahren im Zuge des Baus einer Tiefgarage die Mikwe entdeckt; ein bürgerschaftlich organisierter Verein erforscht nun die Geschichte. Für Bartsch ein Geschenk, ein jüdisches Ritualbad in der ehemals sozialistischen Vorzeigestadt. „Nur mit diesen Wurzeln der Vergangenheit kann sich eine Stadt weiterentwickeln“, sagt er. Partei und Staat in der DDR hätten versucht, sich von allem zu lösen und etwas völlig Neues zu schaffen. Und: Die DDR habe den Glauben und die Kirche zum Feind erklärt, und das steckt heute noch tief drin. Auch dafür steht Chemnitz oder Karl-Marx-Stadt.
Auf dem Weg in die Innenstadt fällt der Blick auf einen bedeutungsvollen Dreiklang, auf die Jugendkirche St. Johannis, wo seit 800 Jahren Menschen beten, auf den neuen Fundort der Mikwe und auf die aus DDR-Zeiten stammende schmucklose Wohnsiedlung. Ihre Häuser wurden in den 1950er-Jahren aus den Bruchsteinen der Innenstadt errichtet, um rasch Wohnungen zu schaffen. Schließlich war die Innenstadt nach dem Krieg zu 80 Prozent zerstört.
Unendliche Geschichten zu erzählen, das allein reicht nicht. Holger Bartsch stellt schnell klar: Sie müssen verwoben werden, Geschichte, Kultur, Religion, Mentalität und Bergbau. Weil das eine Gesellschaft dringend brauche, die so gespalten und von ihren Wurzeln abgetrennt wurde.
Die Vasen in der Stadtkirche St. Jakobi sind Teil des Kunst- und Skulpturenweges „Purple Path“.
Zurück zur Kultur: Ein Besuch in der dreischiffigen Innenstadtkirche St. Jakobi führt zu einem Vorzeigeprojekt im Kulturhauptstadtjahr, dem so genannten Purple Path. So heißt der Kunst- und Skulpturenweg, der 60 Kunstwerke an 38 Stätten zeigt, der sich über Chemnitz und in die Region zieht. Werke bekannter Künstler mischen sich mit denen unbekannter. Die Farbe des Weges hätte mit dem liturgischen Lila nicht besser gewählt sein können. In der Hallenkirche St. Jakobi, die im Krieg zerbombt war, stellt die südkoreanische Künstlerin Young-Jae Lee die von ihr versehentlich zerbrochenen Vasen aus, die sie mit einer japanischen Goldtechnik wieder zusammengefügt hat.
Viel ist geschehen in den vergangenen Monaten, vom Chormusical Martin Luther King über Altarverhüllungen in der Passionszeit, Europäische BergPredigten, Pilgerreisen und TV-Gottesdienste. Verschiedene Formate wie die „Orgelklänge am Purple Path“ werden bis zum Ende des Jahres angeboten.
„Sonntagskultur“ nennt sich das Projekt, mit dem die Kirchen und Gemeinden im Kulturhauptstadtjahr ihre Kirchen und Gottesdienste verstärkt sichtbar machen wollen. An jedem Sonntag verbindet mindestens eine Kirche entlang des „Purple Path“ ein Thema der Kulturhauptstadt mit Traditionen und Spiritualität des kirchlichen Lebens.
Klappstuhlkonzert im Begegnungsgarten der Chemnitzer St. Nikolaikirche mit der Band „Funny Hänsel“.
Auf der Kanzel der Chemnitzer Nikolaikirche, die im Tal zwischen dem Kasberg und dem Kapellenberg liegt, steht an diesem Sonntagmorgen, dem achten Sonntag nach Trinitatis, Gemeindepfarrer Benjamin Philipp. In der Kirche haben sich bekannte Gesichter versammelt, die schon am Abend zuvor beim Klappstuhlkonzert im Gemeindegarten der Leipziger Band „Funny Hänsel“ gelauscht haben. Der 41-jährige Pfarrer nimmt sich in seiner Predigt das Motto der Kulturhauptstadt vor und spannt den Bogen vom Bibelwort zu Chemnitz und dem Motto „C the Unseen“. Er spricht von wohlwollend geschenkter Aufmerksamkeit durch das Kulturhauptstadtjahr, von früher negativen Schlagzeilen und davon, dass die Stadt auf Zugezogene einen besseren Eindruck macht, als ihn viele Ortsansässige vermitteln. Und er benennt die Herausforderung, dorthin zu gehen, wo Dunkelheit herrscht. Nicht um zu glänzen, sondern um Licht zu bringen, wo es gebraucht wird.
„C the unseen – in einer Welt voller Ungerechtigkeit sind wir gerufen, die zu sehen, deren Recht übergangen wird, und die, die sonst keine Stimme haben“, sagt er. Das C des Mottos kann für ihn in einem weiteren Sinn für Christus selbst stehen, den Ungesehenen. Kein Motto nur für Kunst und Kultur, sondern Auftrag für das Christsein und Mahnung, nicht am Ende des Kulturhauptstadtjahres stehen zu bleiben. Später erklärt er im Gespräch, er sei zu jung, um DDR-Geschichte zu deuten. Doch die Jugendweihe darf in Chemnitz beworben werden, beim Konfirmandenunterricht gebe es Berührungsängste. Nein, die Geschichte ist längst nicht zu Ende.
„Das Universum in einer Perle“ von Rebecca Horn in der Lößnitzer Hospitalkirche St. Georg.
Ortswechsel, Lößnitz im Erzgebirge. Vom Bahnhof geht es steil bergab; der „Purple Path“ ist ausgeschildert und führt direkt auf die Hospitalkirche St. Georg zu. Oder Spittelkirche, wie die Lößnitzer sagen. Denn dort, wo sie heute steht, hat 1270 ein Hospital gestanden. Die ehrenamtliche Kirchenöffnerin begrüßt herzlich, „Kultur- und Pilgerkirche“ steht auf ihrem Ansteckschild.
Kreative Gemeinde
Diese neue Nutzung hätten sie in Lößnitz nicht ohne die Förderung durch das Kulturhauptstadtjahr aufgebracht. Vor der Innensanierung fanden dort nur noch Trauerfeiern statt. Schon früh hatte sich die Kirchengemeinde um ein Kunstwerk für den „Purple Path“ beworben. Bis kurz vor der Eröffnung steckte noch Feuchtigkeit von der Sanierung im Mauerwerk. Doch das ist jetzt Geschichte. Heute prunkt in voller Höhe des Kirchraumes die von der renommierten Künstlerin Rebecca Horn 2006 geschaffene Spiegelskulptur „Das Universum in einer Perle“. Ein Blick in die rotierenden Spiegel am Boden fällt in scheinbar unendliche Tiefen der Erde, Kirchraum und Besucher verbinden sich. Bis Ende November können sich Besucher in einer immer kleiner werdenden Folge von Spiegelbildern der Perle nähern.
Lößnitz ist einer der Orte um Chemnitz, die vom Kunst-Erlebnispfad in der Region verbunden werden. Weiter geht die Fahrt nach Elterlein. Dort wartet Familie Kästli, die sich das Pilgern auf die Fahnen geschrieben hat. Zwei inspirierende Pilgerangebote bietet ihre evangelische Kirchengemeinde Elterlein im Kulturhauptstadtjahr.
Ehepaar Kästli bei der Vorbereitung ihrer nächsten Pilgertour.
Kästlis sind das Herz der hiesigen Pilgerarbeit: zwei Unentwegte, brennend. Für den 11. Oktober bereiten sie die letzte Etappe in diesem Jahr auf dem Sächsischen Jakobsweg vor: Vom Bahnhof Flöha über die Kirche Euba soll es nach Chemnitz in die St. Jakobikirche gehen. „Ökumenisches Samstagspilgern“ nennen sie das von ihnen entwickelte Projekt, insgesamt 105 Kilometer Weg von Dresden nach Chemnitz in sieben Etappen aufgeteilt liegen dann hinter den Pilgern. Allein 400 ehrenamtliche Stunden hat Ulrich Kästli für seine Vorbereitung in diesem Jahr gezählt: Die Strecken müssen abgelaufen, das Werbematerial entwickelt und verteilt werden, die Kirchen am Wegesrand geöffnet sein, Toiletten dürfen nicht fehlen. Kästlis betreuen dazu Stände bei Tourismusveranstaltungen. Ulrich und Christina Kästli, beide Anfang siebzig, sind ein eingespieltes Team. Die wichtigste Regel an den Pilger-Samstagen lautet: „Wir starten gemeinsam, wir kommen gemeinsam an. Wir achten aufeinander und gehen auf Sichtkontakt.“ Damit das gelingt, greift er auch schon mal zur Trillerpfeife. Denn im Laufe des Kulturhauptstadtjahres wächst die Gruppe beständig.
Ist Pilgern nicht nur etwas für Katholiken? Nein, sagt Frau Kästli. Sie fasziniere daran das Unterwegssein. Noch dazu in Gruppen, die man anfänglich nicht kennt. Für sie sei die geistliche Dimension wichtig. Und noch eins: Hier im Erzgebirge mit seinen idyllischen Naturlandschaften, vom Kirchturm aus erblickt man die höchsten Gipfel am Horizont, sei man von Kindesbeinen mit dem Wandern großgeworden, deshalb kommen auch viele Urlauber. Da stören die Aufkleber „Lieber Glatze als Kopftuch“ an den Straßenlaternen, sagt sie. Entweder ziehen wir die selber ab oder melden es bei der Stadt. Was ist das für ein Bild, das wir nach außen abgeben?, fragt sie. Eins liegt den beiden im Kulturhauptstadtjahr am Herzen: Nachdem der „Mann für das Geistliche“ bei ihren Pilgerwegen in diesem Monat in den Ruhestand gegangen ist, sucht die Kirchengemeinde Elterlein einen neuen Pfarrer/eine neue Pfarrerin. Diese Pfarrperson soll sich in Zukunft auch um die Begleitung und Organisation des Pilgerns kümmern. Ein engagiertes Team steht dafür bereit, auch der Plan für das nächste Jahr: Über Chemnitz nach Stolberg, Zwickau, bis nach Treuen über Oelsnitz/Vogtland nach Hof, in Kloster Selbitz schließt der Weg ab. Die Kästlis hoffen nun mit der neuen Pfarrperson auf professionelle Unterstützung.
God über Chemnitz
Zurück in Chemnitz. Mit Einbruch der Dunkelheit leuchtet die für den „Purple Path“ von Daniel Buren gestaltete Esse „7 Farben für einen Schornstein“ auf dem Gelände des ehemaligen Heizkraftwerkes Nord Chemnitz. Daneben, in einiger Entfernung sichtbar, die Lichtinstallation von Via Lewandowsky am Turm der Schlosskirche. Das Wort „Good“ leuchtet, doch Augenblicke später erlischt ein o zu „God“. Und so geht es weiter. „Good God“ leuchtet über Chemnitz, über der ehemaligen Karl-Marx-Stadt.
In der Dunkelheit leuchtet die farbige Esse des ehemaligen Heizkraftwerkes Nord Chemnitz neben der Lichtinstallation „Good-God“ am Turm der Schlosskirche.
Kathrin Jütte
Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.