Weltstädtisch und heimatlos
Vor fünfzig Jahren starb die Dichterin Mascha Kaléko. Als junge Frau wurde sie zur bedeutenden lyrischen Stimme Berlins in der Weimarer Republik. Vor den Nazis musste die Jüdin fliehen, suchte neue Heimat auch im Glauben ihrer Vorfahren. Der Theologe und Religionsphilosoph Thomas Brose beschreibt ihr Leben und Werk.
Witz, Ironie und Traurigkeit – all das klingt in den Gedichten an, die Mascha Kaléko (1907–1975) Anfang der dreißiger Jahre veröffentlicht. Wie kaum eine andere Poetin der Weimarer Republik fängt ihr heller und schneller Geist die Rasanz des urbanen Lebens ein. Gerade als ihr Stern am Himmel über der Hauptstadt zu leuchten beginnt – Anfang 1933 macht sie Das lyrische Stenogrammheft schlagartig berühmt –, erobern die Nationalsozialisten die Macht und verändern das kulturelle Leben mit atemberaubender Geschwindigkeit. Von der Autorin kann ein Jahr später noch das Kleine Lesebuch für Große erscheinen, ehe sie 1935 Publikationsverbot erhält und mundtot gemacht wird. Im Jahr 1938 gelingt der Weltstadtdichterin mit ihrem zweiten Mann, dem Dirigenten Chemjo Vinaver, und ihrem zweijährigen Sohn Evjatar (Steven) die Flucht nach New York. Später lebt sie in Jerusalem. Auch wenn sie ihre Familie retten kann, reißt der mit dem „Schauplatz“ Berlin verknüpfte poetische Faden. Ihr großartiges Talent wird ein Opfer des NS-Terrors! Kalékos Werke erleben zwar nach 1945 eine Auferstehung, geraten jedoch im Kalten Krieg zusehends in Vergessenheit.
Lange hat es gedauert, ehe die Stimme der versunkenen Metropole wieder hörbar wurde. Fünfzig Jahre nach ihrem Tod ist sie bei Leserinnen und Lesern wieder gegenwärtig und endlich Teil des literarischen Kanons. Wenn das gilt, woran der diesjährige Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, Karl Schlögel, in seinem Werk Im Raume lesen wir die Zeit (München 2003) erinnert, dann brauchen wir sie heute mehr denn je – um durch das Werk der großen jüdisch-deutschen Schriftstellerin bereichert zu werden, aber mehr noch, um uns selbst tiefer zu verstehen.
„Ich aber leider trat nur ins Büro“, lautet eine entscheidende Aussage in Kalékos Interview mit mir selbst. Das Wort „leider“ eröffnet ihr die Möglichkeit, die eigene Existenz verdeckt ins Spiel zu bringen. Dem frühen Gedicht mit der markanten Zeile hat die Autorin nicht zufällig einen prominenten Platz zugewiesen. Es markiert den Eingang zum Lyrischen Stenogrammheft (43. Auflage, Reinbek bei Hamburg 2021). Das Bedauern, ans Büro gekettet zu sein, gibt Einblick in ihre Seelenlage: Wo junge Leute sich nach ihrem Schulabschluss danach sehnten, ins Weite aufzubrechen, um alle Kräfte auf Unbekanntes und Großes, eine Weltreise oder ein Studium, zu konzentrieren, da verbieten sich für die zugewanderte Jüdin derartige Höhenflüge. Eine akademische Ausbildung – für Mascha eine Illusion! Gemäß der durch Georg Simmel (1859–1918) begründeten Stadtsoziologie erscheint der Umstand bedeutsam, dass die angehende Autorin – nach ihrer Lehre gehörte sie bis 1934 selbst zur „Kaste“ der Büroangestellten – mit ihrer neusachlichen, jede Rührung vermeidenden Dichtung den Nerv der Zeit trifft. Sie beschreibt das Schicksal zehntausender kleiner Angestellter, deren Kampfplatz einen schlichten Namen trägt: Das Büro.
Interview mit mir selbst
Ich bin als Emigrantenkind geboren
In einer kleinen, klatschbeflißnen Stadt,
Die eine Kirche, zwei bis drei Doktoren
Und eine große Irrenanstalt hat.
…
Beim Abgang sprach der Lehrer von den Nöten
Der Jugend und vom ethischen Niveau –
Es hieß, wir sollten jetzt ins Leben treten.
Ich aber leider trat nur ins Büro.
Acht Stunden bin ich dienstlich angestellt
Und tue eine schlechtbezahlte Pflicht.
Am Abend schreib ich manchmal ein Gedicht.
(Mein Vater meint, das habe noch gefehlt.)
Bei schönem Wetter reise ich ein Stück
Per Bleistift auf der bunten Länderkarte.
– An stillen Regentagen aber warte
Ich manchmal auf das sogenannte Glück…
Der jungen Frau mit mittlerer Reife bleibt es versagt, in die Welt aufzubrechen. Darum macht sie ihre Seele weit – ihr Inneres zu einer Art Echolot. Bald schon transponiert sie das Tohuwabohu der Viermillionenstadt in kaum gehörte Töne. Man begegnet ihr nach Büroschluss im Romanischen Café – da, wo sich nahe der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche alle jene treffen, die Berlin intellektuell und künstlerisch ihren Stempel aufdrücken wollen: Walter Benjamin, Otto Dix, Erich Kästner, Else Lasker-Schüler, Stefan Zweig und andere. Auf einen Café-Tisch gekritzelt, heißt es wiederum im Kleinen Lesebuch für Große: „Ich bin das lange Warten nicht gewohnt, / Ich habe immer andre warten lassen. / Nun hock ich zwischen leeren Kaffeetassen / Und frage mich, ob sich dies alles lohnt“.
Gebrochene Sentimentalität
Im Künstler-Café feilt die Sekretärin-Dichterin an ihren Werken; sie hantiert mit ungewöhnlichen Reimen und bricht Sentimentalität durch neusachlich-lakonisches Vokabular; sie macht Fingerübungen, bis sich der rechte Ton einstellt und jedes Wort richtig sitzt. Ihr lässiger Stil und ihre urban-melancholische Poesie werden Ende der zwanziger Jahre zu ihrem Markenzeichen. Schnell wird ihre unkonventionelle Lyrik von den Scouts der führenden Blätter und Magazine entdeckt. Im Jahr 1929 veröffentlicht das Feuilleton der Vossischen Zeitung ihr erstes Gedicht. Anfang der Dreißiger gilt sie bereits als Stimme der Großstadt. In Frühling über Berlin steht Eduard Mörikes berühmte Gedichtzeile im Hintergrund, wenn sie schreibt: „Sonne klebt wie festgekittet. / Bäume tun, als ob sie blühn. / Und der blaue Himmel schüttet / Eine Handvoll Wolken hin. / Großstadtqualm statt Maiendüfte. / – Frühling über Groß-Berlin! – / Süße, wohlbekannte Düfte … / Stammen höchstens von Benzin.“
Mascha, die gegen Ende des Ersten Weltkriegs ihre Lehre als Büroangestellte beim „Arbeiter-Fürsorgeamt der jüdischen Organisationen Deutschlands“ in Berlin-Mitte antritt, da, wo sich heute im Umkreis der Oranienburger Straße wieder jüdisches Leben angesiedelt hat, lauscht den Stimmen der Stadt. Sie versucht, sich einen Reim auf die großen, oft halbherzig beantworteten Fragen zwischen Sehnsucht und Enttäuschung, Herzschmerz, Glückssuche, Zweifel und Großstadt-Glauben zu machen. Längst war die Lyrikerin da schon Franz Hessel aufgefallen. Der Spitzenlektor des Rowohlt Verlags lädt die Hochbegabte schließlich ein, ihr erstes Buch bei ihm zu veröffentlichen: Wie erwähnt, gelingt ihr mit dem Lyrischen Stenogrammheft der Durchbruch. „Der Gedichtband, der im Buchhandel 1,80 Reichsmark kostet, verkauft sich gut. Die Menschen lieben die besondere Mischung aus leisen Tönen zwischen Witz, Ironie und Melancholie. Doch Mascha Kalékos erstes Buch erscheint in einer unruhigen Zeit, in der sich politische Veränderungen abzeichnen, deren fatale Folgen damals noch niemand ahnen kann“, schreibt Jutta Rosenkranz (Mascha Kaléko. Biografie. 10. Auflage, München 2012).
Sonntagmorgen
Die Straßen gähnen müde und verschlafen.
Wie ein Museum stumm ruht die Fabrik.
Ein Schupo träumt von einem Paragraphen.
Und irgendwo macht irgendwer Musik.
Die Straßenbahn fährt, als tät sie’s zum Vergnügen,
Und man fliegt aus, durch Wanderkluft verschönt.
Man tut, als müsste man den Zug noch kriegen.
Heut muß man nicht. – Doch man ist’s so gewöhnt.
Die Fenster der Geschäfte sind verriegelt
Und schlafen sich wie Menschenaugen aus. –
Die Sonntagskleider riechen frisch gebügelt.
Ein Duft von Rosenkohl durchzieht das Haus.
Man liest die wohlbeleibte Morgenzeitung
Und was der Ausverkauf ab morgen bringt.
Die Uhr tickt leis. – Es rauscht die Wasserleitung,
Wozu ein Mädchen schrill von Liebe singt.
Auf dem Balkon sitzt man, von Licht umflossen.
Ein Grammophon kräht einen Tango fern …
Man holt sich seine ersten Sommersprossen
Und fühlt sich wohl. – Das ist der Tag des Herrn!
Charakteristisch für die Stenogramme ist zum Beispiel Sonntagmorgen. In dem Gedicht dreht sich alles darum, was Menschen am Feiertag bewegt. Obwohl die Fabriken geschlossen sind, lassen sich die Rituale der Arbeitswoche nicht einfach abstellen; Polizisten träumen von Paragraphen; Leute rennen Zügen hinterher, die sie gar nicht bekommen müssen. „Doch man ist’s so gewöhnt“. Gerade die überschießenden Routinen bieten den Stoff, um genauer nachzufragen: Was hat es mit diesem Leben denn auf sich? Worauf läuft meine Existenz eigentlich hinaus? Ganz am Ende des Gedichts ist vom „Tag des Herrn“ die Rede. Im Getriebe der Großstadt bildet eine herausgehobene, der seelischen Erhebung reservierte Zeit eine Provokation. „Wir“ gewinnen damit nämlich plötzlich einen Freiraum, über Alltagsleben und Sonntagsexistenz, über Träume und geplatzte Hoffnungen, über das Heilige und das Profane nachzudenken. Müssen wir unser Leben vielleicht ändern?
Flucht – Verfolgung – Heimatverlust: Diese Trias beschreibt das Trauma von Mascha Kaléko. Nachdem sie im Berlin der Weimarer Zeit angekommen und zur Weltstadtdichterin geworden war, musste sie das zweite Mal in ihrem Leben, dieses Mal nicht aus Angst vor russischen Pogromen, sondern wegen des NS-Rassenwahns, flüchten. Obwohl sie in den 1950er-Jahren wieder ein großes Publikum in der Bundesrepublik erreicht – bei Rowohlt erleben ihre Vorkriegs-Bestseller hohe Auflagen –, ereignet sich 1959 ein folgenschwerer Eklat, der blitzartig beleuchtet, dass die Schrecken der Vergangenheit stets präsent sind: Der Dichterin soll der Fontane-Preis, der Preis der Akademie der Künste Berlin, verliehen werden. Als sie jedoch davon erfährt, dass Hans Egon Holthusen, Direktor der Sektion für Dichtung und Jury-Mitglied, der SS angehört hatte, lehnt sie den Preis rundweg ab.
„Du hattest grade deinen ersten Zahn. / Da setzten sie aufs Dach den roten Hahn. / Der Schwarze Mann, die Bittre Medizin, / Sie hiess: Berlin.“ In dem Gedicht Einem kleinen Emigranten (1945), das sie ihrem Sohn Steven widmet und das Daniel Kehlmann – wie das Kaddisch – in seine Anthologie Ich tat die Augen auf und sah das Helle. Gedichte und Prosa (München, 2024) aufgenommen hat, wird deutlich: Vertreibung und Exil sind für Kaléko kaum erträglich.
Was bringt Trost? Vielleicht doch der Glaube an den Gott ihrer jüdischen Herkunft? So zumindest klingen die ersten Zeilen des Gedichts Überfahrt aus dem Jahr 1945: „Wir haben keinen Freund auf dieser Welt. / Nur Gott. Den haben sie mit uns vertrieben. / Von all den Vielen ist nur er geblieben. /Sonst keiner, der in Treue zu uns hält.“ Auch wenn es in den folgenden Strophen dann vor allem um die Liebe zum geliebten Gefährten geht, der mit ins Exil reist, wird in diesen und anderen Gedichten doch ein Glaube sichtbar, den der EKD-Kulturbeauftragte Johann Hinrich Claussen im Deutschlandfunk als „nicht ganz untypisch für ihre Generation“ beschrieb. „Also diejenigen, die aufwachsen noch in einer traditionellen jüdischen Kultur und Familie, sich davon befreien, losmachen, sich selbst säkularisieren und dann aber durch das Grauen der rassistischen Verfolgung im Nationalsozialismus brutal auf ihre eigene jüdische Identität, die sie meinten, schon abgelegt zu haben, wieder zurückgestoßen werden.“ Das Besondere sei, dass Kaléko nicht wieder zurückkehrt in die alte Frömmigkeit, „aber noch mal in einer neuen Weise die Schönheit ihrer eigenen jüdischen Herkunfts-Religion wahrnimmt.“
Der Tod ihres Sohnes 1968 sowie ihres Mannes 1973 verstärken allerdings das Gefühl der Heimatlosigkeit. Nach einem Besuch in Berlin stirbt sie vor 50 Jahren auf der Durchreise in Zürich.
Worte für eine Wunde
Dass sie zu ihren Lebzeiten niemals aufhört, die Opfer der Shoa zu betrauern und zu beklagen, bezeugt ihr Kaddisch (1945): „Wer wird in diesem Jahr den Schofar blasen. / Den stummen Betern unterm fahlen Rasen, / Den Hunderttausend, die kein Grabstein nennt, / Und die nur Gott allein bei Namen kennt. / Saß er doch wahrlich strenge zu Gericht, / Sie alle aus dem Lebensbuch zu streichen. / Herr, mög der Bäume Beten dich erreichen. / Wir zünden heute unser letztes Licht.“
Mit aller Härte benennt die Dichterin in ihrem „Totengebet“ die Ohnmacht jenes Gottes, den die Hebräische Bibel als Herrn preist; damit steht der Mensch selbst in Frage. Was für den Augenblick noch bleibt, fokussiert sich in einem allerletzten Hoffnungs-„Licht“. Vielleicht ist es Mascha Kalékos Gabe und Geschenk an uns, dass sie Worte findet für eine Wunde, die bleibt, für unsere eigene Untröstlichkeit.
Thomas Brose
Dr. Thomas Brose ist Philosoph und Theologe. Er lebt in Berlin.