Die Spruchsammlung in der Hebräischen Bibel muss als Knotenwissen verstanden werden, meint Yannik Ehmer, eine Form der Weisheit, die lange unterschätzt wurde.
Ich bin in der Nähe von Gelnhausen in Hessen geboren und entstamme keiner christlich geprägten Familie. Mein Weg zur Theologie war einer auf Umwegen. Zunächst habe ich Philosophie und Mathematik studiert und in beiden Fächern auch einen Abschluss gemacht. Im ersten Jahr meines Philosophiestudiums fielen mir aber bei großen Denker:innen ihre Bezüge zur jüdischen Philosophie und Hebräischen Bibel auf, etwa bei Walter Benjamin und Jacques Derrida. Dem wollte ich näher nachgehen. Deshalb studierte ich Evangelische Theologie und schrieb in Philosophie meine Masterarbeit zum Verhältnis von Philosophie und Theologie im Denken Walter Benjamins. In Theologie legte ich mein Examen ab und schrieb zeitgleich eine Masterarbeit zu Proverbien 10,1–22,16 als Vorstudie zu meiner Dissertation.
In meiner Dissertation wollte ich das Zwischenfeld zwischen Philosophie und Theologie näher erkunden, auch weil ich den Eindruck hatte, dass dort auf beiden Seiten ein gewisses Misstrauen vorherrscht: wenn die Theologie zu philosophisch oder die Philosophie zu theologisch wird. So kam ich zum Thema meiner auf Englisch verfassten Dissertation mit dem Titel „Knotted Knowledge – New Perspectives on the Poetics and Composition of Prov 10:1–22:16“.
Im Zentrum meiner Dissertation steht eine philologische und philosophische Neubeschreibung der Spruchsammlung. Ziel meines Projekts war es, auf Basis einer transdisziplinären Methodologie die Sammellogiken als meta-poetisches Phänomen zu bestimmen: Was bislang als ein Corpus von lose nebeneinanderstehenden Einzelsprüchen galt, erweist sich nach meiner Interpretation als kunstvolle Komposition eines Knotenwissens. Mein philosophischer Ansatz eines „knotted knowledge“ (oder Knotenwissens) geht davon aus, dass nicht das analytisch-zerlegende Denken im Sinne etwa von bestimmten Rezeptionen von Plato und Aristoteles hier bestimmend ist, sondern ein eher vernetztes philosophisches Vorgehen. Anders ausgedrückt: Es geht nicht darum, den „Gordischen Knoten“ wie Alexander der Große mit einem Schwerthieb, also mit Gewalt, zu zerteilen, sondern wie Penelope in der Odyssee Knoten aufzuknüpfen und wieder neu zu knüpfen. Alexander interessiert sich nicht für die Materialität des Knotens, seine Strukturen und Ambivalenzen. Mit einem schnellen Hieb vereindeutigt er ihn. Das Proverbienbuch findet in Proverbien 31,10–31 seine eigene Gegenfigur webenden Wissens, nämlich die „Frau der Stärke“, die selbst auch webt. So gelangt diese Art der jüdischen Philosophie zu einer zärtlicheren Form des Wissens. Sowohl der Akt des Knoten-Bildens als auch der des Entknotens braucht Zeit. Er ist langsam und relational. Philosophie als Liebe zur Weisheit wird webende und knotende Weisheit. Im Rückgriff auf den im deutschsprachigen Raum wenig bekannten Phänomenologen Michel Serres (1930–2019) und die emische Kategorie des Knotens aus der ägyptischen Weisheitsliteratur konnte ich in meiner Dissertation eine Knotenphänomenologie freilegen, die einem Konzept der Mehrdeutigkeit nahe ist. Die altägyptische Weisheitslehre des Ptahhotep beschreibt zum Beispiel das Sprichwort selbst als Knoten und den Akt des Interpretierens als Knotenlösen (so auch das Danielbuch in Daniel 5,12 und Midrasch Schir ha-Schirim Rabba). Das nicht hörbare „k“ bei „knotted“ zeigt dabei seine Richtung an: Es akzeptiert Lücken und negatives Wissen beziehungsweise Nicht-Wissen. Weisheit im Modus der Spruchanthologie erinnert an eine alternative Weise, Philosophie und Theologie zu konstruieren und Ethik, Erkenntnistheorie und Ästhetik aufeinander zu beziehen.
So konnte ich nachweisen, dass die bisherige Forschung den von mir untersuchten Abschnitt des Proverbienbuchs weder in seiner poetologisch-exegetischen noch in seiner philosophischen Komplexität erfassen konnte, wenn sie diese Weisheitssprüche in der Regel als eine Sammlung loser Sprüche beschreibt, die untereinander keinerlei Verbindungen aufweisen und lediglich assoziativ zusammenhängen. Diese Annahme führte in logischer Konsequenz zum Interpretationsprimat des Einzelspruchs. Sie hatte zugleich gravierende Implikationen für die Rekonstruktion einer „Geschichte“ weisheitlichen Denkens im alten Israel: Die Spruchweisheit wurde als „blinder Optimismus“ an den teleologischen Anfang einer Entwicklung hin zu der kritischen Weisheit des Kohelet (Prediger Salomo) gesetzt. Das aber hat Folgen: Denn bei diesem evolutionistischen Modell wird die Spruchweisheit philosophisch-theologisch abgewertet, weil ihre komplexen Logiken des Sammelns in sprachphänomenologischer, epistemologischer, ästhetischer und ethischer Hinsicht unterschätzt werden. Philologische und philosophische Marginalisierung gehen einher.
Gegenüber solchen Ansätzen folgte ich in meiner Arbeit der Spur, die sowohl die emische Kategorie des Knotens als auch Serres mit seiner textilen Metaphorik eröffnet hatten. Ich konnte zeigen, dass die von mir untersuchten Spruchweisheiten als ein poetisches Archiv zweiter Ordnung verstanden werden können: Weisheitliches Wissen wird durch Metaphern, Wiederholungen und Widersprüche immer wieder dekonstruiert und rekonstruiert, verknotet und entknotet („Doing“ und „Undoing“), um die Ambiguität der Welt abzubilden. Es handelt sich um einen iterativen Prozess, der proverbiales Denken als offen für die Begegnung mit dem Anderen ausweist und im Umgang mit Mehrdeutigkeiten schult.
Anhand dieser Ergebnisse der philologischen Analyse konnte ich schließlich die von mir untersuchte Sammlung philosophisch neu deuten. Ich glaube, die Spruchsammlung muss als Knotenwissen verstanden werden. Dies stellt zugleich einen neuen Ansatz für die Geschichte weisheitlichen Denkens im antiken Judentum dar. Es gab keine Entwicklung vom Einfachen zum Komplexen hin, sondern bereits die Spruchweisheit weist ein komplexes und poetisches Denken auf, das ins „Herz“ des Buches führt. Insofern kann meine Arbeit sowohl als Beitrag zur Exegese und alttestamentlichen Hermeneutik als auch zur Philosophiegeschichte verstanden werden. Sie löst ein, was Friedrich Nietzsche in seiner Basler Antrittsvorlesung forderte, nämlich, „dass alle und jede philologische Thätigkeit umschlossen und eingehegt sein soll von einer philosophischen Weltanschauung“.
Aufgezeichnet von Philipp Gessler
Yannik Ehmer
Dr. Yannik Ehmer ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin.