Für einen gerechten Frieden
"Die Menschen in Al Mu’arrajat packen jetzt zusammen, sie gehen.“ Diese Nachricht erhalten wir Anfang Juli 2025 von einem Kontakt aus Jericho. Nur wenige Monate zuvor, während meines Einsatzes als Ökumenische Begleiterin (Ecumenical Accompanier – EA) bis Anfang dieses Jahres, hatte ich mit meinem Team den Ort noch mindestens einmal pro Woche besucht.
Al Mu’arrajat ist eine Beduinengemeinde im Jordantal, etwa zehn Minuten außerhalb von Jericho. Seit vielen Jahren besuchen EAs das Dorf im Rahmen des Ecumenical Accompaniment Programme in Palestine and Israel (EAPPI) des Ökumenischen Rates der Kirchen. Wir zeigen Präsenz in gefährdeten Gemeinden, solidarisieren uns mit den unter Besatzung leidenden Menschen, mit den uns einladenden Kirchen und allen, die sich für einen gerechten Frieden einsetzen – und dokumentieren dabei Menschenrechtsverletzungen.
Unser erster Besuch im Dorf findet kurz nach einem Übergriff radikaler israelischer Siedler auf die örtliche Schule statt. Uns wird erzählt, wie Mitte September 2024 mehrere Siedler in die Schule eindrangen und Lehrer:innen, eine Schülerin und israelische Aktivist:innen angriffen. Seit Monaten litt das Dorf unter den Übergriffen eines nahegelegenen Siedlungsaußenpostens – in wachsender Sorge, wie lange die Menschen dem Druck noch würden standhalten können.
Ähnliche Zustände erleben wir im ganzen Jordantal. Circa zwanzig Familien und Gemeinden besuchen wir während unserer Zeit als EAs regelmäßig. Alle berichten uns, wie sie von Siedlern aus nahegelegenen Außenposten schikaniert werden. Seit dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 an rund 1 200 Menschen hat sich dies massiv verschärft. Wir sehen, wie rund um viele Gemeinden israelische Flaggen gehisst wurden, um territoriale Ansprüche zu markieren. Siedlungsansprüche, die nach internationalem und zum Teil auch israelischem Recht illegal sind, von der israelischen Regierung jedoch logistisch, militärisch und finanziell unterstützt werden.
Nahezu alle Dörfer im Jordantal sind von Landwirtschaft und Viehzucht abhängig. Wir erleben, wie Siedler, von israelischen Soldat:innen geschützt, ihre eigenen Schaf- und Ziegenherden auf die Weiden der palästinensischen Gemeinden treiben und den Dorfbewohner:innen gleichzeitig den Zugang zu den Weideflächen verbieten – wer es dennoch wagt, lebt in ständiger Angst vor körperlichen Angriffen. Felder wurden mehrfach zerstört, ebenso Kameras, die Übergriffe dokumentierten. So werden den Menschen nach und nach die Lebensgrundlagen genommen.
Und auch die seit 58 Jahren andauernde Besatzung, im Juli 2024 vom Internationalen Gerichtshof als völkerrechtswidrig erklärt, bringt strukturelle Gewalt – schränkt etwa den Zugang zu Bildung stark ein. Lehrkräfte und Schulbusse werden an Checkpoints aufgehalten, Unterricht fällt aus. Bei unseren Fahrten durch das Jordantal erleben wir regelmäßig willkürliche Sperrungen und stundenlange Wartezeiten. Einige Kinder mussten zu Verwandten ziehen, um weiter zur Schule gehen zu können. Dennoch bleibt der Bildungswille stark: „Mit der Gewalt hat das Leben so keine Zukunft mehr“, sagt Mahmoud (Name geändert) aus Makhoul. „Bildung ist unsere einzige Chance für eine alternative Zukunft in der Stadt.“
Als Antwort auf diese Zustände engagieren sich auch israelische Friedensaktivist:innen im Jordantal, denen wir regelmäßig begegnen. Sie setzen der Gewalt solidarische Unterstützung entgegen – auch in zivilgesellschaftlichen Organisationen innerhalb Israels. Sie übernachten in Gemeinden und begleiten die Menschen mit ihren Herden auf die Weiden. Doch auch sie können nur begrenzt Schutz bieten. Ein Aktivist aus der Nähe von Haifa erzählte uns, wie er bei der Begleitung der Menschen in einem Nachbardorf von Siedlern angegriffen und dann vom israelischen Militär verhaftet wurde.
Laut der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem mussten seit Oktober 2023 mindestens 40 palästinensische Gemeinden ihre Dörfer vollständig aufgeben. Auch wir wurden Zeug:innen der sich stetig zuspitzenden Lage. Kurz vor unserer Abreise zerstörten Siedler die Moschee in Al Mu’arrajat durch einen Brandanschlag. Wenige Monate später folgte ein neuer Außenposten neben der Schule, und Siedler drangen erneut gewaltsam in das Dorf ein. Die letzten zwanzig Familien flohen – seither leben sie verstreut im Jordantal, teils unter widrigsten Bedingungen. Ihr gerichtlich bestätigtes Recht auf Rückkehr wird durch anhaltende Siedlergewalt verhindert.
„Es ist wichtig, dass Ihr in Euren Ländern über die Situation hier sprecht“, sagte uns Kareema (Name geändert), eine junge Frau aus dem Dorf Al Mu’arrajat. Alle Menschen, denen wir in unserem Einsatz begegneten, ob Palästinenser:innen oder israelische Aktivist:innen, sehnen sich nach einem Ende der Besatzung, nach Gerechtigkeit und Frieden. Es ist an uns allen, sie zu unterstützen und mitzuhelfen, dass dies Wirklichkeit wird.
Emily Holmes
Emily Holmes war als EA im Jordantal. Zuvor arbeitete sie in der zivilen Seenotrettung und mit Menschen in Abschiebehaft.