Keine „Nizäa-Jawne“-Verschwörung
Das Konzil von Nizäa verbindet Juden und Christen stärker, als man zunächst annimmt. Die dortigen Ereignisse sind nicht Höhepunkt der Entfremdung, sondern Knotenpunkt gegenseitiger Anziehung und Abstoßung – mit Impulsen zum Auseinandergehen, aber auch für die bleibende Beziehung von Juden und Christen. Das erklärt Matthias Morgenstern, Professor für Judaistik und Religionswissenschaft am Seminar für Religionswissenschaft und Judaistik der Universität Tübingen.
Das 50-jährige Jubiläum der Studie „Juden und Christen“ der EKD von 1975 lenkt den Blick auf die gleichzeitig stattfindenden Veranstaltungen, die an das Konzil von Nizäa vor 1 700 Jahren erinnern. Das dort formulierte Bekenntnis zu Jesus Christus als mit Gott-Vater „wesensgleicher“ Person gilt weithin als besonders markanter Ausdruck christlicher Entfremdung vom Judentum. Christianisierte Heiden, so heißt es, hätten im frühen Christentum die alttestamentliche Messiaslehre philosophisch aufgeladen und mit griechischen Begriffen gefüllt. So sei die Christologie mitsamt der Trinitätslehre entstanden, wie dies in Nizäa (325 n. Chr.) und Konstantinopel (381 n. Chr.) zum Ausdruck kam.
Diese Vorstellung ist noch heute populär. Was den gegenwärtigen Blick auf die christliche Dogmenbildung anbetrifft, ist diese These aber überholt. Nizäa verbindet Juden und Christen stärker, als man auf den ersten Blick annimmt. Die dortigen Ereignisse sind nicht Höhepunkt der Entfremdung, sondern Knotenpunkt gegenseitiger Anziehung und Abstoßung – mit Impulsen zum Auseinandergehen der Wege, aber auch für die bleibende Beziehung von Juden und Christen.
Das Auseinandergehen von Juden und Christen in der Antike war ein längerer Prozess, als es in den frühchristlichen Schriften zunächst erscheint. Wohl enthält das Neue Testament Spuren einer institutionellen Trennung der christlichen von der jüdischen Gemeinde. Dies zeigt etwa der Ausdruck aposynágogos („aus der Synagoge ausgeschlossen“) in Johannes 9,22, 12,42 und 16,2. Für die Entflechtung eines Teils der Jesusanhänger vom jüdischen Mainstream im zweiten Jahrhundert spricht auch, dass jüdische Gelehrte zu dieser Zeit den so genannten Ketzersegen in ihr Ritualgebet (Achtzehn-Bitten-Gebet) einfügten. Man nimmt an, dass Judenchristen sich von dieser Bitte um die Verfluchung der Häretiker betroffen fühlten und daher veranlasst waren, Synagogen zu meiden.
Eine weitere Quelle für Spannungen zwischen Juden und Christen stellte der unter Kaiser Vespasian (69–79) eingerichtete fiscus judaicus dar. Diese Sondersteuer wurde unter Domitian (81–96) besonders rabiat von denen eingetrieben, die jüdische Bräuche befolgten. Jesusanhänger jüdischer Herkunft sahen sich so vor die Frage gestellt, ob sie weiterhin als Juden gelten und die Steuer zahlen wollten. Sagten sie sich aus fiskalischen Gründen von der Synagoge los, verloren sie im Gegenzug aber den Schutzstatus, der Anhängern des Judentums als „erlaubter Religion“ (religio licita) zustand. Sie waren dann verpflichtet, römische Götter anzuerkennen und am Kaiserkult teilzunehmen. Für jüdische Jesusanhänger konnte es vorteilhaft sein, für die Obrigkeit weiterhin als Juden zu gelten und in der Synagoge zu bleiben.
Sondersteuer für Juden
Dass viele diesen Weg gingen, zeigen indirekt die Briefe des Ignatius von Antiochia an der Wende zum zweiten Jahrhundert. Andernfalls hätte der Bischof sich nicht veranlasst gesehen, die Christen in Philadelphia vor „dem Judentum“ zu warnen und die Magnesier davon abzuhalten, „jüdische Bräuche“ beizubehalten. Den späteren Märytertod des Ignatius empfanden die Rabbinen dann aber doch als beeindruckend; er gab ihnen den Impuls, die Berichte von den eigenen Märtyrern im Bar-Kochba-Aufstand gegen die Römer ähnlich zu stilisieren wie die christlichen Märtyrerberichte. Dies zeigt, so der amerikanisch-jüdische Talmudforscher Daniel Boyarin, wie nahe Juden und Christen sich im zweiten Jahrhundert noch standen. Von den Rabbinen aus gesehen, war das Auseinandergehen der Wege erst vollendet, als der Christusglaube im Raum der Synagoge formell verboten worden und ein Zusammenleben von jesusgläubigen und rabbinischen Juden faktisch unmöglich geworden war.
Dies geschah endgültig aber erst im frühen fünften Jahrhundert. Noch im vierten Jahrhundert finden sich im Talmud und Midrasch Anzeichen dafür, dass jüdische Gelehrte diejenigen Mitglieder ihrer Gemeinden, die in der Gefahr standen, der „Versuchung“ des Christusglaubens zu erliegen, nicht zurückstießen, sondern um sie warben.
Verbindende Inhalte
Zu den Gemeinsamkeiten von Juden und Christen im Mittelmeerraum gehörte die Verwobenheit mit der griechischen Kultur und Sprache. Das gilt nicht nur für die Jahrhunderte unmittelbar vor und nach der Zeitenwende, wie Martin Hengel in seiner Studie „Judentum und Hellenismus“ dargelegt hat, sondern bis ins fünfte Jahrhundert hinein. Abgesehen vom umfangreichen epigraphischen Befund jüdischer Inschriften in griechischer Sprache sind auch die aramäischen Texte im Jerusalemer Talmud und die in Erez Israel entstandenen Midrasch-Sammlungen ohne das in ihnen enthaltene griechische (und lateinische) Vokabular nicht zu verstehen. Eindrucksvoll belegen dies die Indizes griechischer und lateinischer Wörter in neueren Talmudübersetzungen. Dass „hebräisches“ und „griechisches Denken“ grundsätzlich zu unterscheiden und Letzteres nur im Christentum wirksam geworden sei, wie Hengels Lehrer Otto Michel und der norwegische Theologe Thorleif Boman 1954 gemeint hatten, wird heute von Judaisten nicht mehr vertreten. Neben den gemeinsamen Sprachformen in der Spätantike stehen – bei allem Trennenden! – aber auch die verbindenden Inhalte.
Hier ist die Vorstellung von zwei Göttern im Himmel zu nennen. Bereits im Alten Testament finden sich Spuren einer solchen Vorstellung, an die das Neue Testament anknüpfen konnte. Antiken Juden war diese zweite Person als der „Menschensohn“ von Daniel 7,13 bekannt. Dort ist von „Thronen“ (im Plural) die Rede. Wer – neben Gott selbst – dieser Menschensohn sei, der auf dem Thron sitzen werde, wurde unter Juden in den ersten Jahrhunderten der christlichen Ära kontrovers diskutiert. Die Frage, ob dieser „zweite Gott“ dem ersten gegenüber wesensgleich oder wesensähnlich war, wie christliche Theologen sie vor und auf dem Konzil von Nizäa diskutierten, war Juden nicht völlig fremd.
Noch der Babylonische Talmud (Traktat Hagiga 14b) berichtet von einem Streit über diese Frage, den Rabbi Akiva führte. Akiva erklärte, dass einer der Throne für Gott selbst, der andere für David bestimmt war. Der Messiaskönig nahm, im Himmel neben Gott sitzend, damit eine gottähnliche Position ein. Rabbi Jose der Galiläer hielt diese Erklärung für häretisch; er schrie seinen Kollegen an und warf ihm vor, die göttliche Einwohnung zu schänden. Nach Jose war einer der Throne vielmehr für Gottes Gerechtigkeit, der andere für seine Barmherzigkeit bestimmt.
Mit dieser Antwort, die Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit jeweils personal denkt – beide nehmen auf Thronen Platz –, war das Problem der zweiten Gottheit aber nicht aus der Welt geschafft! Rabbi Joses Antwort wirkt wie eine Variante der nizänischen Christologie. Die Vorstellung einer zweiten Gottheit war so stark, dass selbst eine so wichtige Figur wie Rabbi Akiva ihr zeitweise erliegen konnte. Noch der Babylonische Talmud im siebten Jahrhundert hält diese Episode für berichtenswert. Zur Annahme einer Differenziertheit oder Pluralität in Gott bedurfte es für die Rabbinen keines „griechischen Denkens“. In einem Midrasch zu Numeri 7,1, wo vom Bau der Stiftshütte, des Begegnungszeltes als Vorform des Jerusalemer Tempels, die Rede ist, gehen die Rabbinen auf die Idee eines zweiten Gottes ein, den sie „den jungen Metatron“ nennen. Für Metatron stellten die Dienstengel, so Rabbi Simon, im Himmel eigens eine „obere Wohnung“ auf (Numeri Rabba 12,12). Gerade der Glaubensartikel, der Juden und Christen augenscheinlich am klarsten trennt – im EKD-Text Christen und Juden wird er im Abschnitt über das Auseinandergehen der Wege behandelt! –, bietet hier Aussicht auf eine vielversprechende religionsvergleichende Perspektive. Wahr ist aber auch, dass die Rabbinen auf die Aneignung des zweiten Gottes durch die Christen reagierten: Teils verwarfen sie den zweiten Gott, teils modifizierten sie die alte Vorstellung, so dass sie für den christlichen „Missbrauch“ nicht mehr in Frage kam.
Jüdischer Traditionskern
Die von Nizäa ausgehenden Abstoßungseffekte haben im Talmud ihren Niederschlag gefunden und sind über die spätantike und mittelalterliche Gelehrsamkeit der Rabbinen bis in das heutige Judentum wirksam. Wichtiger aber waren die Impulse zur Kanonbildung, die von Nizäa und Konstantinopel für beide Religionen ausgingen. Die Wiener Rechtshistorikerin Eva Synek spricht mit Blick auf die apostolischen Konstitutionen, eine im vierten Jahrhundert zusammengestellte christliche Rechtssammlung, von einem „christlichen Talmud“.
Mit gleichem Recht kann man die beiden Talmude, den zeitgleich in Palästina entstandenen Jerusalemer Talmud und den zwei Jahrhunderte später kompilierten babylonischen Talmud, mit den Codices im Bereich der Reichskirche vergleichen: dem Codex Theodosianus im fünften und dem Codex Justinianus im sechsten Jahrhundert. Dass es in beiden Religionen parallel zur Sammlung, Konsolidierung und Kanonisierung überkommenen Materials kam, ist kein Zufall. In der Synagoge kristallisierten sich die nun als „mündliche Tora“ und somit als verbindliche Offenbarungstexte bezeichneten Schriften um einen Traditionskern herum, der zum Zentrum der rabbinischen Lehre wurde. Diesen Traditionskern bringt der Talmud mit dem „Tag von Jawne“ in Verbindung.
Als Synode von Jawne bezeichnet die ältere Forschung eine Zusammenkunft führender Gelehrter, die im gleichnamigen Ort, heute etwa 30 Kilometer südlich von Tel Aviv, zusammenkamen, um die jüdische Gemeinschaft nach der Tempelzerstörung im Jahre 70 n. Chr. neu zu ordnen, den Kanon heiliger Schriften festzulegen und Judenchristen als „Häretiker“ auszuschließen. Neuere Untersuchungen haben aber gezeigt, dass die genannte Versammlung nicht historisch ist; sie beruht vielmehr auf einer späteren narrativen Konstruktion der Rabbinen, die mit einer Ursprungserzählung ihre Legitimität nachweisen wollten. Nach Boyarin wurde der „Tag von Jawne“ von den Rabbinen nach dem Modell der christlichen Konzilien der Spätantike „erfunden“, um der herrschenden Religion ein die jüdische Gemeinschaft neu begründendes Ereignis entgegenzustellen.
Da die Christen sich nicht auf Grundlage von Ethnizität, Geografie oder Geburt definieren konnten und wollten, war es umso dringender, die Grenzen der im Römischen Reich zur Herrschaft gekommenen Religion auf andere Weise festzulegen. Dies geschah in Nizäa durch die präzise und rigorose Abgrenzung vom Judentum. Sichtbarster Ausdruck dieser Abgrenzung war der christliche Ostertermin, der nun endgültig vom jüdischen Passahfest abgekoppelt und bleibend auf einen Sonntag gelegt wurde. Im vierten Jahrhundert gab es aber noch Juden, die an Jesus als den von einer Jungfrau geborenen Gottessohn glaubten und sogar wussten, dass er gekreuzigt wurde und auferstand.
Unheilvolle Auswirkungen
Die Anhänger dieser Gruppe, die sich selbst Nazarener nannten, wollten zugleich Juden sein und hielten an der Befolgung der Tora fest. Der Kirchenvater Hieronymus dekretierte aber, dass sie weder als Juden noch als Christen zu bezeichnen seien. Hier klingt an, dass sich führende Theologen der Reichskirche anmaßten, über ein besonderes Wissen zu verfügen, was Judentum ist und wie Juden zu definieren sind. Paradoxerweise stimmten die jüdischen Gelehrten der christlichen Abgrenzung sogar zu; beide Seiten kamen darin überein, diesen Menschen, die sich sowohl als Juden als auch als Christen verstanden, die Legitimation zu entziehen. Boyarin nennt dieses Doppelereignis „Nizäa-Jawne“ eine Art „Verschwörung“, deren unheilvolle Auswirkungen (auf beiden Seiten!) bis in die Gegenwart er beklagt. 1 700 Jahre nach „Nizäa“, fünfzig Jahre nach Erscheinen der ersten Studie Christen und Juden, ist es Zeit, auch diesen Aspekt der gemeinsamen Geschichte in den Blick zu nehmen.
Matthias Morgenstern
Dr. Matthias Morgenstern ist Professor für Judaistik und Religionswissenschaft am Seminar für Religionswissenschaft und Judaistik der Universität Tübingen.